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# taz.de -- Flucht aus IS-Gefangenschaft: Die Stärke der jesidischen Frauen
> Über 6.000 Jesidinnen wurden seit 2014 vom IS verschleppt. Bisher wurden
> die zurückkehrenden Frauen verstoßen. Das ist jetzt anders.
Bild: Beim Tempel in Lalisch
Lalisch taz | Mit der traumatischen Erfahrung während der Zeit ihrer
zweijährigen Verschleppung durch den IS ist Mariam Said regelrecht die
Zunge schwer geworden. Vielleicht liegt es daran, dass sich das Leid, das
das 14-jährge jesidische Mädchen in der IS-Gefangenschaft erfahren hat,
nicht wirklich in Worte fassen lässt. Sie stottert und bringt ihre Sätze
nur langsam hervor. „Ich … wur…, ich wurde erst nach M…, M…, Mosul
verschleppt und dann ins syrische Rakka“, erzählt sie, die aus einem Dorf
beim Sindschar-Gebirge stammt. Mariam wirkt wie ein kleines Mädchen, ein
Kind, doch ihr Gesicht ist das einer Erwachsenen.
Heute lebt sie bei ihrer Schwester in Baadre, einem kleinen jesidischen
Dorf im Nordirak. Sie sei zusammen mit ihrer Mutter verschleppt worden,
sagt sie und zeigt ein Foto auf ihrem Handy, das eine ernst dreinblickende
Frau um die vierzig zeigt. „Wir wurden getrennt, und ich habe keine Ahnung,
ob sie noch lebt“, sagt Mariam, die vor drei Monaten wieder freikam. Sie
wurde zurückgekauft, „für 7.000 Dollar“ sagt sie stotternd. Geduldig
formuliert sie ihre Sätze.
Sie sei eine ganz normale Schülerin gewesen, bevor sie nach Mossul
verschleppt und verkauft worden war und im Haus ihres Peinigers leben
musste, der sie dann wieder an jemand anderen im syrischen Rakka
weiterverkaufte. Die dortige Gefangenschaft unter Abu Sarah, wie sie ihren
Käufer nennt, war das Schlimmste, sagt sie langsam. Was genau ihr angetan
wurde, darüber schweigt sie. „Man hat ungute Sachen mit mir gemacht“ ist
alles, was sie sagen möchte.
## Die Kinder auf dem Rücken
Ein paar Häuser weiter lebt Shami Qassem Ali. Auch sie war mit ihrer
Familie und ihren drei von Geburt an psychisch beeinträchtigten Kindern vom
IS verschleppt worden. Die ältere, vielleicht 12-jährige Tochter, die in
dem ärmlichen Haus auf einer Matte neben der Mutter sitzt, zuckt mit den
Armen und gibt einige Laute von sich. Die andere Tochter liegt apathisch
neben ihr, der Sohn sitzt neben der Mutter.
„Nachdem sie uns gefangen genommen hatten, begannen die IS-Leute auf meine
zwei Töchter einzuprügeln“, erinnert sich Shami Qassem Ali. „Sie hatten
geglaubt, die beiden würden ihnen etwas vorspielen, damit sie nicht
weiterverkauft werden“. Es sei eine furchtbare Zeit gewesen, in der sie
sich immer wieder gewünscht habe, sie wären alle tot, erzählt sie. Am Ende
gelang ihr nach 45 Tagen die Flucht, sie trug ihre Kinder auf dem Rücken in
die Berge hinter der Front. „Sie haben nicht wirklich auf uns aufgepasst,
weil sie dachten, dass wir die Flucht nicht schaffen könnten“, erzählt
Shami.
Mariam und Shamis Familie sind keine Einzelfälle. Baadre ist wie alle
anderen jesidischen Dörfer im Nordirak voll von ähnlich tragischen
Geschichten. Viele sind selbst betroffen oder kennen Frauen und Familien,
die vom IS verschleppt wurden. Für die befreiten Frauen war es ein
doppeltes Problem: Sie waren wie Sklaven gehalten und sexuell missbraucht
worden. Doch gleichzeitig hatten sie auch Angst, in ihre jesidische
Gemeinschaft zurückzukehren.
Denn bei allen bisherigen Pogromen gegen die Jesiden seit der Zeit des
Osmanischen Reichs – und sie zählen über 70 davon – waren immer wieder
Frauen verschleppt und vergewaltigt worden. Jene, die es dann wieder zurück
in ihre Familien geschafft hatten, wurden von der Gemeinschaft als unrein
und als Abtrünnige ausgeschlossen.
Dass es diesmal anders ist, hat viel mit Vian Dakhil zu tun. Sie ist
Abgeordnete für die Demokratische Kurdische Patei, die einzige Jesidin im
Parlament und die wichtigste Lobbyistin für die verschleppten Frauen. Das
Umfeld sei nicht einfach, sagt sie. „Wir Jesiden sind natürlich von unserer
Umgebung, der orientalischen und arabischen Kultur und deren Tradition
beeinflusst. Und natürlich von den Stammestraditionen und Ehrbegriffen im
Irak und ganz besonders von denen in den kurdischen Gebieten“, schildert
sie. Dazu kämen die Besonderheiten der jesidischen Religion. „Die Jesiden
bleiben unter sich, dürfen nicht außerhalb ihrer Religionsgemeinschaft
heiraten. Sie sind eine ziemlich verschlossene, sehr strenge und
konservative Gemeinschaft“, erklärt sie.
## Ein Angriff auf die ganze jesidische Gemeinde
Immer wieder ist Dakhil im lokalen Fernsehen aufgetreten, mit der simplen
Botschaft, dass die Frauen Opfer des IS-Terrors seien. Nach mehreren
Diskussionen mit dem religiösen Oberhaupt der Jesiden, Baba Scheich, habe
der schließlich eine Fatwa, ein bahnbrechendes religiöses Rechtsurteil,
erlassen, erzählt die Abgeordnete. „Diese Fatwa besagt, dass die
verschleppten Frauen wieder in die Religionsgemeinschaft aufgenommen werden
müssen und dass es eine religiöse Pflicht für die Familien ist, sie wieder
bei sich willkommen zu heißen“, fasst sie zusammen.
Im kurdisch-jesidischen Ort Lalisch empfängt uns Baba Scheich, das
religiöse Oberhaupt der Jesiden, in seinem offiziellen Sitz. Der 84-Jährige
lässt sich schwer in einen Sessel auf der Dachterrasse fallen, die langsam
von der Morgensonne erwärmt wird. Stolz werden Fotos von ihm und mehreren
katholischen Päpsten in Rom herumgereicht. Er hat sie alle überlebt. „Wir
strecken den Frauen die helfende Hand aus, damit sie zur Normalität
zurückkehren können“, sagt Baba Scheich.
„Wir haben das erste Mal in unserer Geschichte einen solchen Beschluss
gefasst, dass sie zurückkehren können, in ihren Familien aufgenommen werden
und heiraten können“, erklärt er. „Denn was der IS gemacht hat, ist ein
Angriff auf unsere ganze jesidische Gesellschaft“, urteilt er. Auch Shami
Qassem Ali aus Baadre erzählte dass der Baba Scheich sie und ihre Kinder
persönlich empfangen habe: „Er hat gesagt, ihr seid heilig und mehr wert
als die, die geblieben sind. Ihr müsst noch mehr geehrt werden.“
Ein paar Autominuten von Lalisch entfernt, mitten in den kurdischen Bergen,
befindet sich der wichtigste Tempel der Jesiden. Hier pilgern die Familien
hin. Hier hoffen sie, dass ihre Gebete Gehör finden, die sie an einer der
sieben Säulen verrichten, die nach ihrem Glauben sieben Engel
repräsentieren. Mit dem Engel Pfau als „dem König der Engel“.
Es wirkt friedlich und hat fast etwas von einem Bergkloster mit dem
Vogelgezwitscher und dem Gluckern des schmelzenden Schnees. „Unsere
Religion ist eng mit der Natur verbunden“, erklärt der Tempelwächter Lokman
Suliman. „Wir glauben an Naturkräfte, die einen Gott repräsentieren“,
schildert er. Die Jesiden lebten immer in der Nähe von Bergen, weil sie in
entlegenen Gebieten ihre Religion ausüben und unter sich bleiben konnten.
„So haben wir unsere jahrtausendealte Religion geschützt, damit sie
überlebt“, sagt er.
## Erfahrung spirituell aufarbeiten
Vor den zahlreichen Pogromen hat das die Jesiden allerdings nicht
geschützt. „Wir Jesiden zahlen immer den Preis, ob der Irak oder die Kurden
angegriffen werden – oder wir als Religionsgemeinschaft“, fasst Suliman
zusammen. „Mich hat einmal ein Journalist gefragt, ob wir irgendwann einmal
zur Ruhe kommen, wenn die über 5.000 vom IS verschleppten Frauen wieder
zurückgekehrt sind und wir nicht mehr verfolgt werden“, erzählt er.
„Ich habe ihm geantwortet, wir sind immer der Sündenbock, selbst wenn der
FC Barcelona ein Spiel verliert.“ Er lacht, und während er das sagt, kommt
eine Gruppe von Frauen in den Tempel. An einer der sieben Säulen, die mit
bunten Tüchern umspannt sind, die wiederum zahlreich verknotet sind,
bleiben sie stehen, beten, beginnen zu weinen und laut zu schluchzen.
„Wir haben Schuld auf uns geladen, weil wir bei früheren Pogromen die
verschleppten Frauen nicht wieder in unsere Gemeinschaft aufgenommen
haben“, sagt der Tempelwächter und schlägt die Augen nieder. Aber heute,
sagt er, sei das anders, „die Frauen, die zurückkehren, sind sogar im
Ansehen gestiegen für das, was sie mitgemacht und ausgehalten haben“.
Normalerweise werden die Jesiden in einer Art Taufe nur einmal in die
Religionsgemeinschaft aufgenommen.
Damit die verschleppten Frauen ein zweites Mal „getauft“ werden, dafür gebe
es nun sogar ein eigenes Ritual, erklärt er. „Die Frauen werden von den
Scheichs empfangen, dann müssen sie eine bestimmte Strecke im Tempel
zurücklegen. Die Kleidung, die sie beim IS trugen, müssen sie verbrennen,
dann werden sie ganz in Weiß gekleidet“, erklärt der Suliman das Prozedere.
Für die Frauen sei das eine Art Erlösung und wichtig, um ihre Erfahrungen
spirituell aufzuarbeiten.
## Worüber keiner spricht
Doch nicht alle schaffen das. Auf den Friedhöfen in den jesidischen Dörfern
liegen zahlreiche Frauen, die sich nach der Rückkehr aus der
IS-Gefangenschaft das Leben genommen haben. Wie viele es sind, dazu gibt es
keine Angaben. Ein weiteres Tabuthema sind die Kinder, die in
IS-Gefangenschaft gezeugt wurden. Ein uns begleitender kurdischer
Lokaljournalist, der auch als Übersetzer fungiert, winkt ab. Das sei eine
Frage, die man nicht stellen sollte, und wenn man es doch tue, würde man
keine Antwort erhalten. Und auch wenn die zurückgekehrten Frauen laut Fatwa
des Baba Scheich wieder heiraten dürfen, wird erst die Zukunft zeigen, ob
dies auch tatsächlich in der konservativen jesidischen Gemeinschaft auf
Akzeptanz stößt.
Aber dennoch: Die Erfahrung der Verschleppung und Vergewaltigung und der
offene Umgang damit hat die jesidische Gesellschaft und vor allem deren
Frauen gestärkt. „Ich hatte nicht erwartet, dass unsere Frauen so stark
sind. Dass manche es sogar schaffen, dem IS zu entkommen“, sagt die
jesidische Abgeordnete Dakhil. Und das sei erst der Anfang gewesen.
„Nachdem die zurückkamen, haben viele ganz offen über die Misshandlungen
und Vergewaltigungen gesprochen, die ihnen widerfahren sind. Das bedarf
eines Selbstbewusstseins und einer Stärke und auch eines Vertrauens in die
eigene Gesellschaft. Das Thema wäre niemals regional und international so
in die Schlagzeilen geraten, wenn die Frauen nicht als Zeuginnen
aufgetreten wären“, ist Dakhil überzeugt.
Eine Stärke, die auch das jesidische Mädchen Mariam besitzt, die trotz
ihres schweren Stotterns ganz geduldig ihre Geschichte erzählt. Dabei
erwähnt sie auch, dass es eine Situation gibt, in der sie nicht stottert:
„Wenn ich si…, si…, singe“, sagt sie. Bei der Aufforderung zu singen
überlegt sie lange. Dann schüttelt sie den Kopf. Aber das erste Mal huscht
ein kurzes Lächeln über ihr Gesicht.
1 Mar 2017
## AUTOREN
Karim El-Gawhary
## TAGS
Jesiden
„Islamischer Staat“ (IS)
Vergewaltigung
Sexualisierte Gewalt
Lesestück Recherche und Reportage
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