# taz.de -- Debatte Berliner Mobilität: „Es ist Zeit, zu handeln. Radikal“ | |
> Eine Verkehrswende in homöopathischen Dosen ist keine, sagt der Grüne | |
> Matthias Dittmer in seinem Gastbeitrag. Er fordert Priorität für Radler, | |
> Fußgänger und ÖPNV. | |
Bild: Mobilität in vollen Zügen – mit Regeln, damit sie nicht zu voll werden | |
Die Indizien mehren sich, dass der Klimawandel schneller voranschreitet als | |
angenommen. Ist der Kipppunkt schon erreicht, an dem eine Dynamik einsetzt, | |
die sich nicht mehr ändern lässt, oder bleibt uns eine Frist? Klar ist: Der | |
Faktor Zeit wurde unterschätzt. Messungen der grönländischen Eisplatte | |
beweisen, dass das Eis schneller schmilzt. Früher als gedacht könnten sich | |
die Hügel Hamburgs in Insellage befinden. Es ist Zeit, zu handeln. Radikal. | |
Die Bewältigung unseres Bedürfnisses nach Mobilität gehört neben | |
Fleischwirtschaft und Energie zu den drei großen Treibern des Klimawandels. | |
Können wir uns eine Verkehrswende in homöopathischen Dosen noch leisten? | |
Wollen wir warten, bis emissionsfreie Autos ihren Strom zu 100 Prozent von | |
den Erneuerbaren beziehen, oder müssen wir den Autoverkehr einschränken? | |
Zeitverluste bergen existenzgefährdende Risiken. Staatliches Handeln ist | |
gefragt, das rasch und nachhaltig Wirkung zeitigt. Auch in Berlin bedarf es | |
einer Debatte über den Beitrag der Stadt zum Klimaschutz. Drei | |
Handlungsmöglichkeiten seien hier skizziert. | |
## Die autofreie Innenstadt | |
Im Zentrum Madrids wird der Durchgangsverkehr drastisch eingeschränkt. In | |
Paris wurden Schnellstraßen an der Seine zu Promenaden. London will seine | |
Haupteinkaufsstraße zur Fußgängerzone machen. In der City von Helsinki | |
sollen die Stadtautobahnen abgerissen werden und stattdessen Boulevards und | |
Wohnungen für eine Viertelmillion Menschen entstehen. Auch Oslo will den | |
Autoverkehr aus der Innenstadt verbannen – als Teil eines Maßnahmenpakets, | |
das den Verbrauch fossiler Brennstoffe um 50 Prozent senken soll. | |
Und in Berlin? Hier manifestiert sich Rückschritt gegenüber den Metropolen | |
Europas. Das historische Zentrum ist verwahrlost, Autos rauschen durch die | |
Stadt. Ihr Recht, dies zu jeder Tages- und Nachtzeit zu tun, bleibt | |
unangetastet. Ob sie Klimagase ausstoßen oder ätzende Stickoxide, ist | |
einerlei. „Ein Jahr lang messen bei Tempo 30“ ist die Antwort des Senats | |
auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts in Leipzig, das Fahrverbote | |
für erforderlich hält. Handlungswille sieht anders aus. | |
Bald wird das Humboldt Forum eröffnet, und am Kulturforum entsteht das | |
Museum der Moderne. Sechsspurige Straßen sollen es sein, die zu den | |
kulturellen Attraktionen führen. Auch beim Rückbau der Leipziger Straße | |
haben die Planer die Notwendigkeit sechsspuriger Autoschneisen nicht | |
hinterfragt. Als ob die Zeit sich rückwärts bewegte! | |
Ein großzügiger Fußgängerbereich im historischen Zentrum – vom | |
Reichstagsufer über die Museumsinsel und die Leipziger bis zur | |
Wilhelmstraße – wäre stattdessen ein Paradigmenwechsel in der Berliner | |
Verkehrspolitik und ein klimapolitischer Durchbruch. Er verbände das | |
Notwendige mit dem Angenehmen: Stadtleben könnte sich neu entfalten. | |
Verbleibende Verkehrsadern blieben emissionsfreien Fahrzeugen und Anwohnern | |
vorbehalten. Elektrische Kleinbusse könnten Passanten helfen, das Zentrum | |
zu durchqueren. | |
Der Boulevard Unter den Linden sollte den Anfang machen – seine | |
Verkehrsberuhigung steht im Koalitionsvertrag. Die Friedrichstraße wäre | |
einzubeziehen, weil sich in Hauptgeschäftszeiten die Fußgänger hier | |
gegenseitig auf die Füße treten. Die Planung müsste endlich beginnen. | |
Auf die neue Bewegungsfreiheit müssen wir nicht ewig warten, sie kann | |
sofort ausprobiert werden: an den Wochenenden. Die Magistralen werden dem | |
Autoverkehr entzogen, und das historischen Zentrum wird zum Paradies für | |
alle – zu Rad und zu Fuß. | |
## Kostenlos Bus fahren | |
Die Zeit des kostenlosen Nahverkehrs scheint gekommen. Die Bundesregierung | |
subventioniert fünf Städte für Modellversuche, die diese Richtung | |
verfolgen. Grund für die kühne Idee war eine drohende Klage der | |
EU-Kommission. Wegen Überschreitung der Grenzwerte für Stickoxide standen | |
Strafzahlungen in Millionenhöhe in Aussicht. Dieses Geld wollte man lieber | |
zu Hause ausgeben. | |
In Berlin verstaubt derweil ein vielversprechender Entwurf der Grünen, der | |
zwei Erfordernisse zugleich abdeckt: Die „Bärenkarte“ verhindert | |
Einnahmeausfälle für die BVG und die Überfüllung von Bussen und Bahnen in | |
Spitzenzeiten. | |
Über eine Umlage von 15 Euro im Monat für alle volljährigen Berlinerinnen | |
und Berliner wird sie finanziert, und alle Verkehrsmittel dürfen genutzt | |
werden – mit einer Ausnahme: werktags von 7 bis 10 Uhr morgens, wenn die | |
Fahrzeuge im Nahverkehr bereits überfüllt sind. In diesem Zeitraum ist ein | |
Fahrschein nötig, der für Inhaber der Bärenkarte nur die Hälfte kostet. | |
Das neuartige Ticket wartet auf seine Erprobung. Es würde das Umsteigen auf | |
öffentliche Verkehrsmittel befördern und könnte auch sofort getestet | |
werden: durch Nulltarif an Sonn- und Feiertagen. Zusammen mit der Sperrung | |
des Zentrums würden Synergien erzeugt: das historische Zentrum autofrei und | |
umsonst erreichbar; die Innenstadt als Begegnungszone. | |
## Mehr Fahrradstraßen | |
Berlin braucht ein flächendeckendes Netz von Fahrradwegen: Dieses grüne | |
Versprechen gilt. Bis 2020 kann es geschaffen werden. Es wird sich | |
zusammenfügen aus einem Teilnetz schönster Wege, bestehend aus | |
Fahrradstraßen, und einem Netz der schnellsten Wege entlang der | |
Hauptstraßen. | |
Mit der Konzentration auf die Entwicklung des Mobilitätsgesetzes wurde die | |
Schaffung neuer Fahrradwege weitestgehend eingestellt. Wir machen es | |
besser, war die Tonlage, die zum Stillstand führte. Das Gesetz musste ja | |
erst geschrieben werden. Das dauerte. Geplante Vorhaben wurden abgesagt, | |
weil sie vom Vorgängersenat stammten. Anspruch und Wirklichkeit müssen nun | |
wieder in Übereinstimmung kommen. | |
Der Senat sollte Fahrradstraßen in den Fokus nehmen. Ein vorzeigbares Netz | |
ist schnell erreicht, weil aufwendige Baumaßnahmen nicht erforderlich sind. | |
Es bedarf intelligenter Planung und einer Qualität, die den Namen | |
„Fahrradstraße“ verdient. Wichtig ist: Der Durchgangsverkehr von Autos muss | |
unterbunden werden. Das Prinzip gegenläufiger Einbahnstraßen nach dem | |
Vorbild Barcelonas könnte das leisten. „Durchfahrt verboten“-Schilder | |
werden von Autofahrern akzeptiert und gelten nur für sie. Bis 2020 kann | |
Vorbildliches entstehen. | |
Das Netz der schnellsten Wege wird so schnell nicht kommen. Notwendige | |
bauliche Veränderungen bedeuten Aufwand. Leuchtturmprojekte wird es geben, | |
die für Berlins Straßen Vorbild sein sollen. Das ist richtig, ihre | |
Leuchtkraft aber sollte sich durch Variantenreichtum erweisen. Rot-weiße | |
Poller sind zurzeit für die räumliche Trennung von Rad- und Autoverkehr | |
vorgesehen, der Stabilität wegen mit Beton gefüllt. Akzeptanz müssen sie | |
erst noch finden. Hochgelegte Grünstreifen sollten als Trennelement ebenso | |
in Frage kommen wie die Hochbordlösung nach dem Vorbild Kopenhagens. Berlin | |
hätte die Wahl zwischen unterschiedlichen Straßendesigns. | |
## Keine Angst vor dem Volk | |
Die Umsetzung des Radwegenetzes, der Bärenkarte und einer autofreien | |
Innenstadt würde die Emission schädlicher Klimagase spürbar senken. Es | |
bedarf dazu nicht mehr als des Muts der Politik. Angst vor dem Volk braucht | |
sie nicht zu haben, denn eine Auswertung des Mobilitätsverhaltens in Berlin | |
führt Erstaunliches zutage: In der Addition aller zurückgelegten Wege wurde | |
festgestellt, dass der Anteil der Autostrecken auf weniger als ein Viertel | |
gesunken ist. Europaweit der Spitzenwert. | |
Ein Bewusstseinswandel offenbart sich. Wenn die Zahl der zugelassenen Autos | |
steigt, aber der Anteil der mit dem Auto zurückgelegten Wege sinkt, lässt | |
dies nach den Gesetzen der Logik nur einen Schluss zu: Bei den | |
Autobesitzern greift die Erkenntnis um sich, dass sich ihr Fahrzeug für den | |
Stadtbesuch nicht eignet. Es ist Zeit, zu handeln. | |
30 Aug 2018 | |
## AUTOREN | |
Matthias Dittmer | |
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