| # taz.de -- Essay Autofrei Leben: Mehr Hiddensee | |
| > Wer auf einen Wagen verzichtet, muss den Verkehr genauso ertragen wie | |
| > Autofahrer. Warum eigentlich schaffen wir keine autofreien Gebiete? | |
| Bild: Ohne Autos ist es viel ruhiger. Und auch die Luft ist besser | |
| Ist die Fähre erst einmal abgefahren, wird es plötzlich sehr still. Nur das | |
| Brausen und Gurgeln der Ostsee ist zu hören. Viele greifen nach einem der | |
| Handwagen, die zu Dutzenden am Hafen stehen, um Gepäck aufzuladen. Auch | |
| zwei Kutschen stehen für jene bereit, deren Quartiere etwas weiter entfernt | |
| sind. Ich selbst benutze mein Fahrrad für den Transport. Die Ankunft in | |
| Vitte auf der Insel Hiddensee hat etwas Irritierendes, denn Orte ohne Autos | |
| existieren in unserer rücksichtslos motorisierten Welt kaum noch. | |
| Selbst dort, wo gerade keine fahren – etwa in einer Fußgängerzone oder in | |
| einem Park – hört man dennoch im Hintergrund die mehr oder weniger lauten | |
| Motorengeräusche irgendeiner Straße oder Autobahn. Es ist dieses ständige | |
| Rauschen unserer Zeit, das viele bewusst gar nicht mehr wahrnehmen, das | |
| aber dennoch enorm belastet. Wie beim Tinnitus gibt es kein Entrinnen. | |
| Wer auf einen eigenen Wagen verzichtet, hat dadurch kaum Vorteile. Der | |
| Lärm, die Gefahren des Autoverkehrs und den enormen Platzverbrauch müssen | |
| die Unmotorisierten genauso ertragen wie passionierte Autofahrer. Doch | |
| warum eigentlich? Hiddensee zeigt, dass ein Leben ohne Privatfahrzeuge auf | |
| einem begrenzten Territorium ohne Weiteres machbar ist. Die Autos auf der | |
| Insel, meist emissionsarme E-Wagen, lassen sich an zwei Händen abzählen: | |
| der Inselbus, das Polizeiauto, Feuerwehr, Müllwagen und noch das ein oder | |
| andere handwerkliche oder landwirtschaftliche Nutzfahrzeug. Alle anderen – | |
| auch die Hotelbetreiber*innen, Gastronom*innen und Ladenbesitzer*innen – | |
| bewegen sich per Rad, zu Fuß oder per Schiff. | |
| Eine Mitarbeiterin in der Touristeninformation erzählt, dass sie eine | |
| Sondergenehmigung für den Möbeltransporter brauchte, als sie auf die Insel | |
| umzog (der Ruhe wegen). Selbst der Bestatter, der vom benachbarten Rügen | |
| übersetzt, braucht für seinen Wagen eine Erlaubnis, wenn er einen | |
| Verstorbenen abholt. Ganz mühelos ist das autofreie Leben also sicher | |
| nicht, und es wäre falsch, diesen Eindruck erwecken zu wollen. Gerade bei | |
| Wind, Regen und Kälte scheint es für Familien so viel einfacher, die Kinder | |
| schnell ins Auto zu packen, um zur Kita, zur Schule oder zum Supermarkt zu | |
| gelangen. | |
| Doch zu welchem Preis? Und warum sollen alle ihn zahlen, auch diejenigen, | |
| die zum Verzicht bereit sind? Besonders für Kinder werden die öffentlichen | |
| Räume immer kleiner. Der starke Verkehr hat das Draußen zur feindlichen | |
| Außenwelt werden lassen. Fast 30.000 Kinder verunglücken pro Jahr, 60 davon | |
| tödlich (2017). | |
| ## Die Gefahren der Straße | |
| Über die Hälfte dieser Kinder waren dabei auf dem Rad oder zu Fuß | |
| unterwegs. Außer im eigenen Garten ist das Spielen außerhalb der eigenen | |
| vier Wände oder auf einem eingezäunten Spielplatz immer ein Risiko. Das | |
| gilt für das Leben auf dem Land genauso wie in der Stadt. Auf einer | |
| Landstraße zur Schule zu fahren, dürfte mindestens so gefährlich sein wie | |
| das Überqueren von Kreuzungen in der Stadt. | |
| Für die Freiheit der Autofahrenden schränken alle anderen ihre Freiheit | |
| ein, seltsamerweise ohne großen Protest. Nicht bei offenem Fenster schlafen | |
| zu können – es sei denn, man gehört zu den Glücklichen mit einem | |
| Schlafzimmer zum ruhigen Hinterhof – ist zur traurigen Normalität geworden. | |
| Schicksalsergeben nehmen wir hin, dass zur Straße gelegene Balkone nicht | |
| genutzt werden können, weil der Lärmpegel anfahrender Lkws an einer Ampel | |
| oder der allgegenwärtigen Lieferwagen das Wohlbefinden stören oder man | |
| schlicht sein eigenes Wort nicht mehr versteht. Verkehr ist die größte | |
| Lärmquelle, er vermindert die Leistungsfähigkeit und verursacht auf Dauer | |
| Herz- und Kreislauferkrankungen. Die Zukunft möchte man sich so eigentlich | |
| nicht vorstellen. | |
| Inwiefern ist das Konzept einer autofreien Insel übertragbar, und auf | |
| welche Weise könnte es überall ein bisschen mehr Hiddensee geben? Natürlich | |
| existieren in Deutschland längst Projekte für autofreies Wohnen. In | |
| München-Riem beispielsweise oder die Siedlung Saarlandstraße in | |
| Hamburg-Winterhude. Fast in jeder größeren Stadt finden sich ein oder zwei | |
| Modelle. Doch angesichts dessen, dass in den urbanen Zentren nur noch jeder | |
| zweite Haushalt ein Auto besitzt, sind die Angebote lächerlich gering. In | |
| anderen europäischen Metropolen wird längst in größerem Stil mit | |
| autofreien Zonen und Zeiten experimentiert. Doch in Deutschland wird das | |
| autofreie und damit ebenso flächensparende wie gesundheitsfördernde und | |
| klimafreundliche Bauen bisher kaum verwirklicht. | |
| Wenn ich an Beispiele für mehr Hiddensee auf dem Festland denke, kommt mir | |
| deshalb eher Israel als Deutschland in den Sinn. Bevor ich | |
| Nahostkorrespondentin wurde, habe ich immer davon geträumt, in einem Kibbuz | |
| zu leben. Allerdings nicht der sozialistischen Ideale oder der Begeisterung | |
| für Landwirtschaft wegen. Mich hat fasziniert, dass der kleine Sohn meiner | |
| Freundin in einem Kibbuz zwischen Jerusalem und Tel Aviv allein zum | |
| Kinderhaus stapfen, seine Freunde besuchen und zum Spielplatz gehen konnte. | |
| Mit drei Jahren! | |
| Der fragliche Kibbuz ist, wie die meisten der insgesamt 270, wie ein Park | |
| angelegt. Viele kleine Häuschen stehen darüber verstreut, sind aber nicht | |
| eingezäunt. In der Mitte liegen die Kinderhäuser oder Kitas, der kleine | |
| Lebensmittelladen und das Gemeinschaftshaus, Spiel- und Sportplätze. Eine | |
| schmale Straße führt eiförmig um den Kibbuz herum zu zwei kleinen | |
| Parkplätzen. Von dort geht man zu Fuß weiter. Durch den übrigen Kibbuz | |
| führen nur Fußwege. Auf dieser gesamten Fläche sind Kinder, Katzen, Hunde | |
| und sonstige Kreaturen weitestgehend sicher. | |
| ## Autofrei wohnen | |
| Autofrei zu wohnen war für die Kibbuznikim ursprünglich keine bewusste | |
| verkehrs- oder umweltpolitische Entscheidung; es hatte sich einfach so | |
| ergeben, denn bis zu den Privatisierungen hatte die überwältigende Mehrheit | |
| der Mitglieder gar keinen eigenen Wagen. Das Kollektiv besaß ein oder zwei | |
| Fahrzeuge, die man ausleihen konnte. | |
| Wohlig stellte ich mir vor, dass auch meine frisch geborene Tochter bald | |
| einmal über die Wiese laufen würde, sicher und geborgen in einem | |
| ländlichen, aber nicht spießigen oder gar konservativen Idyll. Leider | |
| erfüllte sich dieser Traum nie, denn alle Kibbuzim, auch dieser, begannen | |
| aus finanzieller Not, hektisch zu privatisieren. Es wurde nicht mehr | |
| vermietet. Nur noch Neumitglieder mit den finanziellen Möglichkeiten, ein | |
| Haus zu bauen oder zu kaufen, wurden aufgenommen. Das Interesse war groß, | |
| denn eine Lebensqualität wie im Kibbuz ist auch in Israel anderswo nicht | |
| leicht zu finden. | |
| Notgedrungen zogen wir in eine benachbarte Ortschaft, ein reguläres Dorf. | |
| Diese Entscheidung stellte sich als schwerwiegender Fehler heraus. Gefühlt | |
| fuhren die Autos auf der Dorfstraße durch unser Schlafzimmer. In dem | |
| Moment, in dem der Nachbar morgens sein Auto anließ, um zur Arbeit zu | |
| fahren, war ich hellwach. Wenn im Morgengrauen der Müllwagen kam und die | |
| Fensterscheiben vibrierten, weinte mein Baby vor Schreck. Ob ein | |
| Mittagsschläfchen möglich war, hing gänzlich vom Verkehrsaufkommen auf der | |
| Dorfstraße ab, an der auch gern mal ein Schwarm Motorräder entlangwummerte. | |
| Wir flohen schon nach wenigen Monaten in die Stadt, ans Ende einer ruhigen | |
| Sackgasse, wo wir morgens tatsächlich Vögel statt Autos hören konnten und | |
| uns keine Abgase durch die offenen Fenster strömten. Aber die Sehnsucht | |
| nach dem Kibbuz, dieser autofreien Insel, auf der alle Hektik von einem | |
| abfällt, ist geblieben. | |
| ## Radikaler denken | |
| Ein Versuch, Kibbuzim in Deutschland einzuführen, dürfte bedauerlicherweise | |
| wenig aussichtsreich sein. Bleiben also nur die wenigen autofreien | |
| Wohnprojekte. Schön für den Einzelnen, wenn er dort eine Bleibe ergattert. | |
| Doch durch Neubaugebiete allein lässt sich zu wenig erreichen. Sie bringen | |
| autofreies Wohnen nur minimal voran, denn in den städtischen, gut | |
| angebundenen Gebieten, in denen die meisten Unmotorisierten leben, gibt es | |
| kaum noch Freiflächen. Mehr Hiddensee kann so nicht entstehen. Wir müssen | |
| radikaler denken, viel radikaler. | |
| So radikal beispielsweise wie die Religiösen in Israel, die Charedim. Am | |
| Freitagabend, wenn der Sabbat beginnt, schließen sie die Straßen, in denen | |
| sie die Mehrheit stellen. Sie lassen eine Schranke herunter. Bis | |
| Samstagabend gehört die Fahrbahn den Familien, die dort flanieren, den | |
| Kindern, die Ball spielen, Rad fahren und Unfug treiben. Die Gründe für die | |
| Sperren sind nicht verkehrspolitisch. Doch warum nicht auch in Berlin, | |
| Hamburg oder Frankfurt Straßen für den Verkehr schließen, wenn die Mehrheit | |
| dort kein Auto besitzt und entsprechend abstimmt? Es klingt vielleicht | |
| utopisch, aber auch das Frauenwahlrecht und rauchfreie Cafés waren einmal | |
| eine Utopie. | |
| Fünf Meter mehr Platz entstünden in einer normalen Straße allein dadurch, | |
| dass rechts und links Parkplätze wegfielen – man stelle sich vor, wie es | |
| vor der eigenen Haustür aussähe, wenn dort, wo jetzt Autos Platz wegnehmen, | |
| Grünzeug angepflanzt und Bänke aufgestellt wären. Wenn man zur Straße hin | |
| nachts das Fenster offen lassen und dabei sogar schlafen könnte. Wenn | |
| Kinder wieder bis zum Abend auf der Straße spielten und Katzen dort nachts | |
| Mäuse jagten. | |
| Ich wäre sogar bereit, etwas weiter als bisher zur Straßenbahn zu laufen, | |
| die Internetbestellungen von einer Paketstation abzuholen und mir einen | |
| Bollerwagen für die Getränkekästen anzuschaffen. Denn mehr Hiddensee mitten | |
| in der Stadt – das kann Zukunft sein. | |
| 10 Feb 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Silke Mertins | |
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