# taz.de -- Zum Kampftag der Arbeiterklasse: „Nicht alle neuen Jobs sind prek… | |
> Die Zeit, mehr Geld zu fordern, ist günstig für Arbeitnehmer und | |
> Gewerkschaften, sagt der neue DGB-Chef Christian Hoßbach vor dem 1. Mai. | |
Bild: Teilnehmer auf der DGB-Demo am 1. Mai 2013 | |
taz: Herr Hoßbach, gerade gab es einen von allen Seiten gelobten | |
Tarifabschluss für den öffentlichen Dienst. Sind die Gewerkschaften wieder | |
auf dem Vormarsch – oder ist einfach mehr Geld in der Kasse? | |
Christian Hoßbach: Beides. Wir haben eine gute wirtschaftliche Situation, | |
was die Leute auch sehen. Das schafft Spielräume für gute Tarifabschlüsse. | |
Und die Arbeitsmarktlage hilft: Wenn die Arbeitgeber tagtäglich über | |
Fachkräftemangel klagen, dann entwickeln sie kräftig das Bewusstsein mit, | |
dass sich die Position der ArbeitnehmerInnen und der Gewerkschaften | |
verbessert hat. | |
Merken Sie das an Eintrittszahlen? | |
Natürlich. Tarifrunden sind immer die Zeiträume, in denen die meisten in | |
Gewerkschaften eintreten. Dann und in jungen Jahren, während der | |
Ausbildung. | |
In Berlin boomen ja gerade Branchen, die bekannt sind für prekäre und | |
schlecht bezahlte Jobs wie das Hotel- und Gaststättengewerbe, | |
Gebäudewirtschaft, Lieferdienste, Logistik. Gehe ich recht in der Annahme, | |
dass die gewerkschaftliche Organisation in diesen Branchen nicht so hoch | |
ist? | |
Ja. In Berlin hält die Mitgliederentwicklung leider nicht ganz Schritt mit | |
der steigenden Beschäftigung. Da muss man nicht drumherum reden. Und | |
nochmals ja: Branchen mit praktisch durchgehend prekärer Arbeit sind extrem | |
schwierig zu organisieren. Aber die neuen Jobs sind nicht alle nur prekär. | |
Von Gastronomie bis Pflege gibt es große Bereiche mit hohen Anteilen | |
unsicherer und schlecht bezahlter Beschäftigung. Das ist aber anders | |
gelagert in Kreativwirtschaft und IT. Hier gibt es auch viel unsichere | |
Beschäftigung, aber wir würden einen Fehler machen, nicht zu sehen, dass | |
das auch mit der Kultur in diesem Bereich zu tun hat: Man fühlt sich | |
locker, arbeitet gerne viel und fühlt sich nicht so unter Druck. Zudem ist | |
die Arbeit in diesen Bereichen zwar unsicher, aber besser bezahlt – und es | |
gibt auch einen Anteil ordentlich bezahlter, fester Jobs. | |
Die Arbeitnehmer sehen keine Notwendigkeit, in die Gewerkschaft zu gehen? | |
Es gibt bei vielen erst mal kein so großes Interesse – selbst bei den | |
größeren Unternehmen in der Digitalwirtschaft. Wobei ich hier die Betonung | |
auf „erst mal“ legen würde, denn das ist eine Frage der Zeit. Und wir tun | |
ja einiges: Die Gewerkschaften werben um die Leute in Start-ups, um die | |
ITler – durchaus mit Erfolg. Die Belegschaften sind häufig sehr jung, die | |
sehen keine Probleme mit dem Arbeitgeber. Da entwickelt sich eine | |
Interessenvertretung eben erst, wenn die Probleme auftauchen. | |
Die Leute kommen erst zur Gewerkschaft, wenn sie Probleme auf der Arbeit | |
haben? | |
Na logisch, ganz klar. Das klingt jetzt so, als seien die Gewerkschaften | |
nur eine Art Reparaturbetrieb. Das stimmt so natürlich nicht, wir gestalten | |
ja auch mit. Aber Interessen werden in Konfliktlagen natürlich klarer: | |
Leute lassen sich beraten, treten ein, organisieren sich. Umso mehr betonen | |
wir, dass unser wichtigstes Regelungsinstrument – Tarifverträge – für bei… | |
Seiten positiv ist. Auch für die Arbeitgeber. Tarifverträge können ja nicht | |
nur die Quantität regeln, also die Höhe der Gehälter, sondern auch | |
qualitative Fragen – Arbeitszeit, Qualifizierung. Auch die Arbeitgeberseite | |
ist gut beraten, die Entwicklung von solchen Regelwerken zu suchen und | |
nicht zu meinen, das könne man alles allein im Unternehmen klären. | |
Selbst das Land Berlin ist als Arbeitgeber nicht mehr so beliebt. Derzeit | |
protestieren unter anderem Feuerwehrleute, Erzieher, | |
Krankenhaus-Mitarbeiter, studentische Hilfskräfte. Ist das richtig, jetzt | |
die Auseinandersetzung zu suchen? Immerhin haben wir nun einen | |
rot-rot-grünen Senat, der sich sehr für „gute Arbeit“ einsetzt. | |
Trotzdem muss man die Aktionen verstehen, da muss sich niemand drüber | |
wundern. Der öffentliche Dienst hat überall Probleme, aber in Berlin | |
besonders, weil wir hier fünfzehn Jahre lang knallharte, brutale | |
Sparpolitik gesehen haben – ohne Rücksicht auf Verluste. Die Leute | |
verdienen weniger als in anderen Regionen und Bundesländern, wir haben jede | |
Menge Probleme mit Ausgründungen von landeseigenen Betrieben – Stichwort: | |
CFM an der Charité –, wir haben die Unsicherheit unter anderem der | |
Musikschullehrer sowie zig weitere Baustellen. Aber der Berliner Senat hat | |
reagiert und eine Reihe dieser Problemfelder entweder schon geregelt, oder | |
er ist zumindest dabei, dies zu tun. Dass man das nicht auf einen Schlag | |
hinbekommt, ist klar, da die Entwicklung über so viele Jahre in die falsche | |
Richtung gelaufen ist. Und dass die Stadt jetzt wächst, vergrößert die | |
Herausforderung für die Politik. | |
Ist der Senat glaubwürdig mit seiner Kehrtwende? Immerhin war es Rot-Rot, | |
das das „Sparen, bis es quietscht“ propagiert hat. | |
Das fing ja schon vorher an, in den 1990er Jahren. Zudem ist unstrittig, | |
dass wir heute ganz andere wirtschaftliche Rahmenbedingungen haben und auch | |
eine ganz andere politische Akzentsetzung. Darum ist im Großen schon ein | |
Vertrauen in die Politik da – auch wenn es im Einzelnen sicher noch | |
Auseinandersetzungen geben wird. | |
Welche drei Dinge müsste der Senat am dringendsten angehen, wenn es nach | |
Ihnen ginge? | |
Vor allem brauchen wir eine Gesamtstrategie zur Stärkung der Einkommen in | |
der Stadt. Dazu gehören verschiedene Elemente: eine gute Bezahlung im | |
öffentlichen Dienst, eine konsequentere Fachkräfte- und | |
Qualifizierungspolitik, eine gute Strukturpolitik – und außerdem Regeln, | |
durch die endlich Tariftreue erreicht wird in allen Bereichen, auf die der | |
Senat Einfluss hat. Denn wir haben eine gute wirtschaftliche Entwicklung, | |
eine wachsende Bevölkerung – aber immer noch unterdurchschnittliche | |
Einkommen. Die Story, dass Berlin so schön billig ist, stimmt einfach nicht | |
mehr. Darum müssen die Einkommen dringend steigen. | |
30 Apr 2018 | |
## AUTOREN | |
Susanne Memarnia | |
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