# taz.de -- Bundeskongress des DGB: Zweckoptimistisch in die Zukunft | |
> Trotz Mitgliederrückgang und grassierender Tarifflucht zeigt sich der DGB | |
> optimistisch, den „digitalen Kapitalismus“ zivilisieren zu können. | |
Bild: Rot ist die Hoffnung – trotz der Ausdehnung tariffreier Zonen | |
BERLIN taz | Reiner Hoffmann konnte der Versuchung nicht widerstehen. „Die | |
freie Entwicklung eines jeden ist die Bedingung für die freie Entwicklung | |
aller“, zitierte er in seiner Grundsatzrede auf dem DGB-Bundeskongress am | |
Montag in Berlin das Kommunistische Manifest. Die Instrumente, um diese | |
„freie Entwicklung“ zu ermöglichen, fuhr der DGB-Chef fort, seien | |
„Tarifpolitik und ihre betriebliche Ausgestaltung durch Mitbestimmung“. Was | |
Karl Marx und Friedrich Engels wohl davon gehalten hätten? | |
Wahrscheinlich nicht allzu viel. Aber Hoffmann ist ja auch kein | |
revolutionärer Denker und der DGB nicht der Bund der Kommunisten. „Wir | |
können und wir werden die großen Umbrüche unserer Arbeitswelt und | |
Gesellschaft demokratisch, sozial gerecht und nachhaltig gestalten“, rief | |
der 62-jährige Diplomökonom den 399 Delegierten optimistisch entgegen. | |
„Was wir erleben, ist die Entstehung eines digitalen Kapitalismus, den wir | |
zivilisieren werden.“ Es sei „die demokratische Beteiligung der vielen, die | |
bei uns mitmachen, die uns kollektive Macht gibt“. Das klingt etwas zu | |
schön, um wahr zu sein. | |
Am Morgen war Hoffmann mit 76,3 Prozent der Stimmen in seinem Amt bestätigt | |
worden. Das Wahlergebnis ist eine herbe Klatsche für den Sozialdemokraten. | |
Bei seiner ersten Kandidatur vor vier Jahren kam er noch auf 93,1 Prozent. | |
Besser schnitt Hoffmanns Stellvertreterin Elke Hannack ab, die mit 86,5 | |
Prozent wiedergewählt wurde. Damit konnte sich erstmalig eine | |
Christdemokratin über die meiste Zustimmung auf einem DGB-Bundeskongress | |
freuen. Auch die frühere Grünen-Bundestagsabgeordnete Annelie Buntenbach | |
(81,2 Prozent) und das SPD-Mitglied Stefan Körzell (83,6 Prozent) | |
erreichten bei ihrer erneuten Wahl in den geschäftsführenden Bundesvorstand | |
ein stärkeres Ergebnis als Hoffmann. | |
Hoffmann muss den gewerkschaftlichen Dachverband durch Zeiten | |
gesellschaftlichen Bedeutungsverlusts steuern. „Wir sind immer noch der | |
größte Mitgliederverband in Deutschland“, gibt er sich zwar selbstbewusst. | |
Doch das ist nur die halbe Wahrheit. | |
## Organisierungsgrad auf historischem Tiefstand | |
Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes und der Bundesagentur für Arbeit | |
sind derzeit etwa 44,4 Millionen Menschen in Deutschland erwerbstätig, | |
davon sind mehr als 32,5 Millionen sozialversicherungspflichtig | |
beschäftigt. Diesen Rekordzahlen steht jedoch ein schwindender | |
gewerkschaftlicher Organisierungsgrad gegenüber, der inzwischen einen | |
historischen Tiefstand erreicht hat. So zählen die acht im DGB | |
zusammengeschlossenen Einzelgewerkschaften zusammen nur noch rund 5.995.000 | |
Mitglieder, darunter 1,71 Millionen SeniorInnen. Unmittelbar nach der | |
deutschen Wiedervereinigung kamen sie noch auf 11,8 Millionen Mitglieder. | |
Zwar sind die DGB-Gewerkschaften in einigen Branchen nach wie vor stark, | |
beispielsweise [1][die IG Metall in der Autoindustrie] oder Verdi im | |
öffentlichen Dienst. Doch in etlichen Branchen sieht es mehr als mau aus. | |
Das lässt sich auch an der Anzahl der Betriebe ablesen, die sich noch in | |
der Tarifbindung befinden. Nach den jüngsten Zahlen des Instituts für | |
Arbeitsmarkt und Berufsforschung sind mittlerweile 70 Prozent weder an | |
einen Flächen- noch einen Haustarifvertrag gebunden. Das bedeutet: Gerade | |
mal 56 Prozent der Beschäftigten arbeiten heute noch auf einer | |
tarifvertraglichen Grundlage – in Ostdeutschland sind es sogar nur 47 | |
Prozent. Einen Branchentarif besitzen im Westen 48, im Osten gerade mal 36 | |
Prozent. Das macht Arbeitskämpfe schwer. Zum Vergleich: Vor zwei | |
Jahrzehnten verfügten noch fast 74 Prozent der Beschäftigten | |
deutschlandweit über einen Tarifvertrag. | |
„Die abnehmende Tarifbindung und das Anwachsen tariffreier Zonen ist ein | |
Angriff auf gewerkschaftliche Mitgestaltung und Mitbestimmung in Wirtschaft | |
und Gesellschaft“, heißt es dazu im einstimmig beschlossenen Leitantrag des | |
DGB-Bundesvorstandes. Da die eigene Kampfkraft nicht reicht, diesen fatalen | |
Trend zu stoppen, soll die Bundesregierung nun für Abhilfe sorgen: Um | |
Unternehmen die Tarifflucht zu verleiden, appelliert der DGB an die Große | |
Koalition, die Möglichkeiten zu erweitern, Tarifverträge für | |
allgemeinverbindlich zu erklären. Mit einer solchen | |
Allgemeinverbindlichkeitserklärung kann das Bundesarbeitsministerium einen | |
Branchentarifvertrag auch für Betriebe verpflichtend machen, die einem | |
Arbeitgeberverband entweder gar nicht oder nur „ohne Tarifbindung“ | |
angehören. | |
Der Haken: Möglich ist das bislang nur auf Antrag eines von den | |
Tarifparteien paritätisch besetzten Ausschusses, wodurch die Arbeitgeber de | |
facto eine Blockademöglichkeit besitzen. „Die | |
Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen darf nicht durch das | |
Vetorecht der Arbeitgeber behindert werden“, sagte | |
DGB-Bundesvorstandmitglied Stefan Körzell. Und er weist auf ein weiteres | |
wirksames Mittel gegen Tarifflucht hin: „Am besten hilft die Politik, wenn | |
sie öffentliche Aufträge nur noch an tarifgebundene Unternehmen vergibt.“ | |
## Zu viel Parteimitgliedschaft im Spiel | |
„Manchen stellte sich die Frage, ob der DGB seine parteipolitische | |
Neutralität aufgegeben habe“, formulierte ein Hamburger Verdi-Delegierter | |
nicht nur sein Unbehagen bei der Aussprache zum Geschäftsbericht des | |
Vorstands. Doch das dürfte gerade bei der derzeitigen Bundesregierung ein | |
frommer Wunsch bleiben. Dabei hatten sich der DGB und insbesondere sein | |
Vorsitzender Hoffmann vehement für den Fortbestand der schwarz-roten | |
Koalition eingesetzt. Bei seiner geradezu flammenden Ansprache an die | |
„lieben Genossinnen und Genossen“ auf dem SPD-Bundesparteitag Ende Januar | |
verschwammen dabei auch schon mal die Grenzen zwischen dem DGB-Chef und dem | |
SPD-Mitglied. Innergewerkschaftlich sorgte Hoffmann damit für einige | |
Verstimmungen, was der zentrale Grund für sein schwaches Wahlergebnis sein | |
dürfte. | |
Er wisse, dass einige „es kritisch gesehen haben, dass wir uns so klar | |
positioniert haben“, ging Hoffmann auf die Kritiker ein. Aber im Vergleich | |
zu den Alternativen sei die Fortsetzung der Großen Koalition die beste | |
Option. So könnten die Gewerkschaften für sich „beanspruchen, dass wir | |
einiges in diesem Koalitionsvertrag durchgesetzt haben“. Als „Erfolge“ | |
bezeichnete Hoffmann die Rückkehr zur Parität in der Krankenversicherung, | |
die Stabilisierung des gesetzlichen Rentenniveaus und die Zusage für mehr | |
Investitionen in Bildung, bezahlbares Wohnen und eine nachhaltige | |
Infrastruktur. Außerdem seien alle im DGB-Bundesvorstand gemeinsam der | |
Auffassung gewesen, „dass wir eine möglichst stabile Regierung brauchen, | |
gerade auch mit dem rechten Pack im Nacken“. | |
Das „rechte Pack“, sprich: die AfD, bewegt viele auf dem Bundeskongress. | |
Vor und hinter den Kulissen kommt immer wieder die Rede auf die [2][Partei, | |
die auch unter Gewerkschaftsmitgliedern bedenklichen Zuspruch erfährt]. 15 | |
Prozent von ihnen entschieden sich bei der vergangenen Bundestagswahl für | |
sie. Doch das ist kein Anlass zur Fraternisierung: Anders als der | |
Münsteraner Katholikentag hat der DGB die AfD als einzige der im Bundestag | |
vertretenen Parteien nicht zu seinem Bundeskongress eingeladen. | |
Die AfD versuche, „die soziale Frage zu kapern, obwohl sie nichts für | |
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu bieten hat“, konstatierte | |
DGB-Bundesvorstandsfrau Annelie Buntenbach. Es dürfte nicht tatenlos | |
zugeschaut werden, wie sich die RechtspopulistInnen „über ihre braunen oder | |
blauen Hemden auch noch ein soziales Mäntelchen ziehen“. Da müssten die | |
Gewerkschaften „mit klarer Kante gegen halten“, forderte Buntenbach. Sie | |
wisse allerdings auch: „Da wird die Luft auch schon mal dünner, nicht nur | |
im Osten der Republik.“ | |
Immerhin: Bei den Ende Mai abschließenden Betriebsratswahlen haben AfD-nahe | |
Gruppen keinen Blumentopf gewinnen können. Von rund 180.000 zu vergebenden | |
Mandaten errangen Rechtsaußenlisten bislang knapp zwei Dutzend, zumeist zu | |
Lasten arbeitgebernaher „christlicher Gewerkschaften“. Und es dürften nicht | |
mehr viel dazu kommen. Die Listen der DGB-Gewerkschaften können sich | |
hingegen sogar über Zuwächse freuen. „Das hat gezeigt: Wir können die | |
Rechten in ihre Schranken weisen“, sagte DGB-Chef Hoffmann. „Unsere | |
Betriebsräte stehen gegen Ausgrenzung, gegen Rassismus und gegen Spaltung, | |
und das sind 99,9 Prozent der gewählten Betriebsräte.“ | |
14 May 2018 | |
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[1] /IG-Metaller-bei-Volkswagen/!5498494 | |
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## AUTOREN | |
Pascal Beucker | |
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