# taz.de -- Arbeitsbedingungen bei Start-Ups: Brave New Work | |
> Start-ups versprechen eine schöne neue Arbeitswelt. Doch die meisten | |
> Jung-Unternehmen sind ausbeuterisch und arbeitnehmerfeindlich. | |
Bild: Chillen mit den Kollegen und dabei möglichst „instagramable“ aussehen | |
Ein Gespenst geht um in Berlin. Es ist das Gespenst des Start-ups. Google | |
plant seinen Start-up-Hub in Kreuzberg, passend dazu sucht Carsten | |
Maschmeyer in seiner Fernsehsendung „Start-up“ „Deutschlands besten | |
Gründer“. Dabei wird selten offen darüber gesprochen, was es wirklich | |
heißt, in einem Start-up zu arbeiten. | |
Start-up bezeichnet ein meist junges Unternehmen, das eine innovative | |
Dienstleistung oder ein Produkt anbietet: Carsharing, Essenslieferanten, | |
digitale Fitnessprogramme. Die meisten bedienen sich moderner Technologien, | |
sind aber (noch) nicht profitabel. Die Gründer*innen – zu 90 Prozent Männer | |
– suchen Investoren, um sich so lange zu finanzieren, bis ihre Idee für | |
immer die Welt verändert hat. | |
Die Berliner Start-up-Szene boomt: Alle 20 Minuten wird dort ein Start-up | |
gegründet. Mit vergleichsweise günstigen Mieten und vor allem niedrigen | |
Löhnen ist Berlin für Möchtegerngründer*innen und Investor*innen ein | |
Paradies: arm, aber sexy. 80 Prozent der neuen Start-ups werden trotzdem | |
pleitegehen. | |
Der Mythos von Berlin als alternativer Metropole soll internationale | |
Talente aus dem Tech-Bereich anlocken: Programmierer*innen, Coder*innen und | |
Hacker*innen. Sie sind begehrt auf dem Arbeitsmarkt und werden gut bezahlt. | |
Gleichzeitig kommen viele Arbeitsuchende aus den sogenannten Krisenländern | |
der Eurozone, die oft bereit sind, prekär und für sehr wenig Geld zu | |
arbeiten. Sie gehen in den Kundenservice, Content und Marketing. | |
## Das neue Opium des Volkes? | |
Das Durchschnittsalter in vielen Start-ups liegt unter 30 Jahren. Auch in | |
den Führungsetagen gibt es meist kaum Mitarbeitende über 35. Im | |
bundesweiten Schnitt sind 30 Prozent der Start-up-Mitarbeitenden | |
(EU-)Ausländer. In Berlin sogar jede*r zweite. | |
Start-ups versprechen eine neue Arbeitskultur, die aufregend, progressiv | |
und liberal wirkt. Sie steht für die Vision der Arbeit der Zukunft: | |
(vermeintlich) flache Hierarchien, ein Kühlschrank voll Bier und ein | |
Kickertisch daneben. Das neue Opium des Volks? Damit wollen Gründer*innen | |
kreative Köpfe und clevere Coder*innen ködern. Schöne neue Welt. | |
Viele Start-up-Büros ähneln dem Gemeinschaftsraum in einem | |
Studentenwohnheim. Manche Büros bieten Playstations, ein Kreuzberger | |
Loft-Büro sogar ein Bällebad. Meetingräume werden nach Szeneläden der | |
Berliner Clublandschaft getauft. Man tagt im „Berghain“. | |
Die Airbnb-Ästhetik der Architektur ist chic und soll „instagramable“ sein. | |
Verhipsterte Glühbirnen hängen mit Textilkabeln von den Decken der | |
ehemaligen Fabriketagen. Unverputzte Backsteinwände treffen auf | |
industrielle Stahlsäulen und Neonschilder. Das Büro könnte ein | |
Techno-Tempel sein. Doch die Fassade trügt. Hier werden schlechte | |
Arbeitsbedingungen schön renoviert. | |
Hinter der Transformation des Arbeitplatzes steckt der Versuch, Arbeit und | |
Freizeit zu verschmelzen. Du sollst Teil der Familie werden, den | |
Unternehmensspirit tragen und an das Produkt, das Unternehmen, den | |
Gründungsmythos glauben. Es ist eine Art Indoktrinierung. | |
Team-Enthusiasmus und Projektbegeisterung sind innerbetriebliche Pflicht. | |
Die eigene Begeisterung wird in Feedback-Runden kommentiert und bewertet. | |
## Unicorn werden ist schwer | |
Der Feierabend wird bei Start-ups professionalisiert: After-Work-Drinks in | |
der Büro-Küche, Kickerturniere und Filmabende mit den Kolleg*innen. Für | |
viele internationale Mitarbeitende ist das hippe Büro der Mittelpunkt ihrer | |
sozialen Existenz in Berlin, ein Ort zum Netzwerken, Kennenlernen, zum | |
Spielen und Trinken. Das mag einigen gefallen, aber es erhöht eben auch | |
den Druck, Überstunden zu machen, nach der Arbeit im Büro rumzuhängen und | |
über den Job zu reden. | |
Neue Welten brauchen eine neue Terminologie. Die Start-up-Szene peppt ihren | |
Arbeitstag mit Anglizismen auf. Mitarbeitende heißen Heroes, Gurus, | |
Rockstars, Unicorns. Investoren nennt man Angels, Meetings Stand-ups, | |
Mitarbeiterversammlungen All-hands und Einarbeitung Onboarding. Gott sei | |
Dank heißen Kündigungen nicht Overboardings. | |
Unicorn zu werden ist der Traum jeder Gründer*in. Das Einhorn bezeichnet | |
ein Start-up, das vor einem Börsengang bereits den Marktwert von einer | |
Milliarde US-Dollar knackt. Hello Fresh, Delivery Hero und Airbnb haben das | |
geschafft. Doch wie das mythische Wesen selbst sind solche Start-ups rar. | |
Rund 200 gibt es weltweit. Dazuzugehören bleibt die große Vision fast aller | |
Unternehmer*innen. | |
Start-ups stellen sich gerne als Disrupter und Game-Changer dar. Durch eine | |
Aneignung radikaler Subkulturen sehen sie sich als Business Punks und | |
träumen von der großen Revolution ihres Marktes – einen Markt, den sie mit | |
innovativen Ideen stören, die die Branche umstürzen sollen. Sie wollen das | |
Spiel ändern, und tun das mal mit einem 700-Dollar-Obst-Mixer mit | |
USB-Anschluss, mal mit smarten Blumentöpfen mit computergesteuerter | |
Gießfunktion. | |
## New Kids on the Block | |
Die klügsten und kreativsten Köpfe einer Generation entwickeln Lösungen für | |
Probleme, die es gar nicht gibt. Ihr Ansatz lautet: Wie können wir Leute | |
animieren, mehr Geld online auszugeben? Nicht: Wie helfen wir Menschen? | |
Nicht: Wie lösen wir die globalen Probleme, den Klimawandel, das | |
Bienensterben, den Hunger? | |
Was Start-ups dann in der Tat auch sehr oft stört, sind Arbeitsrechte. Die | |
Start-ups nutzen gesetzliche Lücken und die Unerfahrenheit ihrer | |
Mitarbeitenden aus, weniger aus Boshaftigkeit, eher um das höchste Ziel zu | |
erreichen: Angels glücklich machen, schwarze Zahlen schreiben, Unicorn | |
werden. Start-ups stellen sich gerne als New Kids on the Block dar, | |
verfolgen aber meist eine neoliberale Marktlogik. | |
Das Arbeitsumfeld eines Start-ups ist entpolitisiert. Die Idee ist: Wer | |
Spaß beim Arbeiten hat, leistet gern Überstunden, braucht keine | |
Gehaltserhöhung und muss sich nicht politisch organisieren. Betriebsräte | |
gibt es so gut wie nie. Die meist junge, unerfahrene und internationale | |
Belegschaft weiß oft sowieso nicht, was das sein soll. | |
## Fußsoldaten in Form von Praktikant*innen | |
Und selbst wenn sie versuchen würden, einen Betriebsrat zu gründen, würden | |
sie wohl scheitern. Ohne diese politische Repräsentation bleiben ihnen | |
arbeitsrechtliche Ansprüche verwehrt, die Gewerkschaften über Jahrhunderte | |
erkämpft haben. | |
Dabei könnten sie diese Ansprüche dringend brauchen: Viele | |
Start-up-Mitarbeiter*innen sind prekär beschäftigt, hangeln sich von | |
Probezeit zu Probezeit, von Befristung zu Befristung. Das Arbeitsgesetz | |
sieht vor, dass Mitarbeiter*innen maximal zwei Jahre befristet werden | |
dürfen, Start-ups nutzen das gern aus. Man muss sich ständig unter Beweis | |
stellen, es wird wenig Sicherheit geboten. | |
Und selbst das gilt natürlich nur für die Glücklichen mit Anstellung. | |
Scheinselbstständigkeit ist eine gängige Praxis, viele Mitarbeitende sind | |
als Freelancer, aber in Vollzeit beschäftigt. Dazu kommt die Armee von | |
Fußsoldaten in Form von Praktikant*innen. | |
Recht auf Teilzeitarbeit? Das passt nicht zu uns. Bildungsurlaub? Machen | |
wir nicht. Lohnverhandlungen? Vergiss es. Wer so prekär arbeitet und keine | |
Gewerkschaft im Rücken hat, kann auch nicht so einfach vor dem | |
Arbeitsgericht klagen. | |
Unter diesen Bedingungen kann man kaum für die Zukunft sparen, geschweige | |
denn eine Familie gründen. Die harte Realität dieser | |
Beschäftigungsverhältnisse trifft insbesondere Frauen. Viele fragen sich: | |
Wird mein Vertrag verlängert, wenn ich schwanger werde? Bestehe ich die | |
Probezeit? Werde ich als Mittzwanzigerin überhaupt angestellt? | |
## Nicht für die Ewigkeit | |
Das klingt alles ziemlich negativ – und dennoch haben Start-ups auch | |
Vorteile. Sie bieten tatsächlich ein spannendes und lässiges Umfeld, das zu | |
alternativen Lebensentwürfen gut passt. | |
Der Satz mag klischeehaft klingen, aber Start-ups sind eben wirklich jung | |
und dynamisch. Sie wachsen schnell und entwickeln ihre Produkte und | |
Technologien rasant. Das bietet einem ein Arbeitsumfeld, wo neue Ideen | |
schnell umgesetzt werden. Man kann schnell Verantwortung übernehmen, | |
Projekte mitbestimmen und Input geben, im Gegensatz zu den oft | |
hierarchischeren traditionellen Betrieben. Start-ups sind ein Übungsort, um | |
erste Erfahrungen zu sammeln. | |
Und das ist das Entscheidende: Start-ups sind nicht für die Ewigkeit. Sie | |
sind ein Job für das Hier und Jetzt. Sie gehen nicht davon aus, dass ihre | |
Beschäftigten in fünf, zehn oder fünfzehn Jahren noch da sind. | |
Start-ups sind wie die erste Liebe: spannend und voller Hoffnung, aber | |
irgendwann macht eine*r Schluss. Also Programmierer*innen, Marketing-Gurus | |
und Content-Rockstars aller Länder: Vereinigt euch! Lasst euch nicht vom | |
Kickertisch und Beer-Friday täuschen. Ihr habt tatsächlich eine schöne neue | |
Arbeitswelt zu gewinnen. Aber die muss erkämpft werden. | |
1 May 2018 | |
## AUTOREN | |
Nicholas Potter | |
## TAGS | |
Start-Up | |
Arbeitswelt | |
Ausbeutung | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Longread | |
Start-Up | |
Reiseland USA | |
Kali | |
Verdi | |
Nigeria | |
Schwerpunkt Rot-Rot-Grün in Berlin | |
Holzmarkt | |
Deutsche Bahn | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Ausbeutung von Arbeitsmigranten: Hoch qualifiziert, arm dran | |
Drei Programmierer aus Syrien, Russland und Marokko rennen erfolglos ihrem | |
Gehalt hinterher. Vorenthalten hat es ihnen ein Jungunternehmer aus Bremen. | |
Start-ups in Berlin: Es droht der Platzwechsel | |
Paris drängt nach vorn und macht Berlin den zweiten Platz als | |
Start-up-Standort streitig. Wer aber möchte eigentlich in so einem Betrieb | |
arbeiten? | |
Silicon-Valley-Metropole San José: Die Geisterstadt | |
San José will von der Pendlerhauptstadt zum Wirtschaftsstandort werden. | |
Dafür holt die Stadtverwaltung Google ins Boot. | |
Streit um Kündigungen in Bergwerk: Ein Haufen Schikane | |
Am Steinhuder Meer stellt K+S die Förderung ein. Mitarbeiter des | |
Kali-Bergwerks kritisieren das Unternehmen: Statt Sozialplan übe es Druck | |
aus. | |
Betriebsräte in deutschen Unternehmen: Mitbestimmung zahlt sich aus | |
Wer etwas zu sagen hat, arbeitet besser: Eine Studie kommt zu dem Ergebnis, | |
dass Betriebsräte Unternehmen erfolgreicher machen. | |
Nigerias Start-up-Szene wächst: Yabacon Valley statt Silicon Valley | |
Lagos ist inzwischen einer der wichtigsten Tech-Hub-Standorte südlich der | |
Sahara. Die besten Geschäftsideen lösen ganz alltägliche Probleme. | |
Zum Kampftag der Arbeiterklasse: „Nicht alle neuen Jobs sind prekär“ | |
Die Zeit, mehr Geld zu fordern, ist günstig für Arbeitnehmer und | |
Gewerkschaften, sagt der neue DGB-Chef Christian Hoßbach vor dem 1. Mai. | |
Probleme beim Bauprojekt Holzmarkt: Auf dem Holzweg | |
Sie waren die Lieblinge der Stadt. Mit ihrem urbanen Dorf hat sich Berlin | |
im Ausland geschmückt. Nun steht der Holzmarkt an der Spree vor dem Aus. | |
Kooperation mit der Deutschen Bahn: Douglas cremt Reisende | |
Die Bahn stellt einen neuen Beauty-Waggon vor. Das Serviceangebot gilt nur | |
für die erste Klasse. Kajal gibt es nicht. Der könnte ins Auge gehen. |