| # taz.de -- Silicon-Valley-Metropole San José: Die Geisterstadt | |
| > San José will von der Pendlerhauptstadt zum Wirtschaftsstandort werden. | |
| > Dafür holt die Stadtverwaltung Google ins Boot. | |
| Bild: Eine unauffällige, typisch amerikanische Stadt | |
| San José taz | Kaum jemand kennt San José. Die Großstadt in der | |
| kalifornischen Bay Area zählt mehr als eine Million Einwohner und ist damit | |
| die zehntgrößte Stadt in den USA. San José ist die größte Metropole im | |
| gesamten Santa Clara Valley – heute weltweit bekannt als Silicon Valley. | |
| Und doch verbindet die Welt viel mehr mit den kleineren Gemeinden | |
| Cupertino, Menlo Park und Palo Alto, wo Apple, Facebook und die Universität | |
| Stanford ihren Sitz haben. | |
| Kulturell steht San José vor allem im Schatten seiner kleineren, aber viel | |
| bekannteren Schwester San Francisco. Während die sanften Menschen mit | |
| Blumen im Haar in San Francisco vielfach besungen wurden und fast jede*r | |
| einmal die Golden Gate Bridge sehen will, kennen nur wenige die leeren, | |
| betonierten Straßen San Josés. Das Wetter ist hier viel wärmer und sonniger | |
| als an der Küste, wo der Nebel oft den ganzen Tag über der Stadt hängt. | |
| Trotzdem kann die Stadt sich weder ihrer wirtschaftlichen Erfolge noch | |
| einer touristischen Anziehungskraft rühmen. | |
| Das soll sich ändern. Die Stadtverwaltung von San José arbeitet seit etwa | |
| zehn Jahren an einem Konzept, um die Stadt in einen attraktiveren Standort | |
| zu verwandeln. Im Mittelpunkt steht der Ausbau verschiedenster | |
| Verkehrsanbindungen – und seit vergangenem Jahr auch Google. Der Techgigant | |
| ist mit dem Stadtrat im Gespräch über einen Exklusivvertrag, um mehrere | |
| Hektar Land in der Stadt zu kaufen und dort einen neuen Megacampus zu | |
| errichten mit Wohnungen, Läden und Büros für 15.000 bis 20.000 | |
| Mitarbeiter*innen. In der Stadtverwaltung freut man sich über das Interesse | |
| und den Investitionswillen des Megakonzerns. „Wir waren sehr begeistert, | |
| als Google Interesse gezeigt hat, Land zu kaufen“, sagt Kim Walesh, die in | |
| der Stadtverwaltung die Abteilung für wirtschaftliche Entwicklung leitet. | |
| Doch nicht alle sehen dem Aufbau eines neuen Techstandorts in San José | |
| freudig entgegen. Viele Bürger*innen machen sich Sorgen um die Entwicklung | |
| der Stadt, sobald Google einzieht – insbesondere um einen drastischen | |
| Anstieg der Immobilienpreise. Die Stadtverwaltung hat im Februar 2018 | |
| deshalb die „Station Area Advisory Group“ ins Leben gerufen, ein | |
| Beratungsgremium, das sich mit der weiteren Entwicklung des Landes | |
| auseinandersetzt. | |
| Insgesamt 38 Gruppen treffen sich dafür einmal im Monat und verständigen | |
| sich über die Belange der Bürger*innen von San José beim Ausbau des | |
| Stadtteils, darunter Nachbarschaftsinitiativen, Unternehmer*innen und auch | |
| die staatliche Universität der Stadt. Die Idee, Vertreter*innen der | |
| Bürgerschaft mit an den Tisch zu holen, stammt von Kim Walesh. | |
| Um die Sorgen der Bewohner*innen von San José zu verstehen, muss man sich | |
| andere Orte im Silicon Valley ansehen. Bezahlbare Wohnungen und Häuser sind | |
| in der Region immer schwerer zu finden, seitdem hier Hard- und Software | |
| entwickelt werden. Google hat seit 2004 seinen Hauptsitz in Mountain View, | |
| etwa 25 Kilometer vom neuen Standort in San José entfernt. „Seit Google | |
| nach Mountain View gezogen ist, sind die Mieten dort um über tausend | |
| Prozent gestiegen“, sagt Maria Noel Fernandez, Leiterin der Kampagne | |
| Silicon Valley Rising, die sich für die Belange von | |
| Niedriglohnarbeiter*innen im Silicon Valley einsetzt. | |
| Auch Wohnungslosigkeit sei ein enormes Problem, sagt Fernandez. Die Zahl | |
| der Obdachlosen in Mountain View ist von 66 im Jahr 2009 auf 411 im Jahr | |
| 2017 gestiegen. Das mag nach keiner großen Zahl klingen. In einer Stadt mit | |
| knapp 75.000 Einwohner*innen ist es aber auch nicht wenig. In der gesamten | |
| Bay Area nimmt die Wohnungslosigkeit zu, weil die Immobilienpreise immer | |
| weiter steigen. Auch in San José sind mehr als 4.000 Menschen obdachlos. | |
| „Wenn man die Mieten in San José mit denen von San Francisco vergleicht, | |
| sind sie etwas weniger absurd. Aber sie sind immer noch ziemlich absurd“, | |
| sagt Maria Noel Fernandez. Sie fordert, dass Google eine freiwillige | |
| Verpflichtung unterzeichnet, damit sich das Unternehmen in Zukunft für die | |
| Stadt San José und ihre Bürger*innen einsetzt. So soll sichergestellt | |
| werden, dass Niedriglohnarbeiter*innen auch weiterhin in der Stadt leben | |
| können und dass sie zu ausreichend guten Bedingungen angestellt werden. | |
| Derzeit wohnen die meisten Angestellten außerhalb der Technologiezentren | |
| und pendeln zur Arbeit, nicht wenige sind „Superpendler“ mit einer Anreise | |
| über 90 Minuten. Das trifft besonders jene, die in den schlechter bezahlten | |
| Servicejobs arbeiten, die rund um die Techbranche entstehen. Viele von | |
| ihnen leben im Moment in San José und fahren für ihre Arbeit mit dem Auto | |
| in die umliegenden Gemeinden. „Unter den zwanzig größten Städten in den USA | |
| sind wir die einzige, aus der jeden Morgen mehr Menschen in die Städte im | |
| Umland zur Arbeit fahren als reinkommen“, sagt die | |
| Stadtverwaltungsmitarbeiterin Kim Walesh. Tagsüber erscheint die | |
| Millionenstadt fast wie eine Geisterstadt. | |
| ## Ein neues Verkehrskonzept | |
| Ein Verkehrskonzept, das die Techunternehmen besser mit öffentlichen | |
| Verkehrsmitteln von San José aus erreichbar macht, ist aus Sicht der | |
| Stadtverwaltung deshalb sinnvoll. Der zentrale Bahnhof, die Diridon | |
| Station, soll sowohl im Nah- als auch im Fernverkehr stark ausgebaut | |
| werden. Bisher ist die Diridon Station nur ein kleines Backsteingebäude mit | |
| wenigen Gleisen, rund 1,5 Kilometer Fußweg vom eigentlichen Stadtzentrum | |
| von San José entfernt. Man muss unter dem Highway durchlaufen, um den | |
| Bahnhof zu erreichen. SAP hat in der Nähe ein Stadion für die lokale | |
| Eishockeymannschaft, die San José Sharks, gebaut. Ansonsten befinden sich | |
| rund um die Diridon Station hauptsächlich betonierte Großparkplätze. | |
| Bis 2026 soll die Stadt mit dem regionalen U-Bahn-Netz der Bay Area (BART) | |
| verbunden werden, um den Weg nach San Francisco, aber auch nach Oakland | |
| und in viele kleinere Orte im Umland zu verkürzen. Das Fernverkehrsnetz | |
| soll bis 2030 ausgebaut werden, etwa nach Los Angeles und in andere Teile | |
| Südkaliforniens. Auch Expressbuslinien sind geplant. Beim Ausbau des | |
| Bahnhofs möchte sich die Stadtverwaltung am Bahnhof von Rotterdam | |
| orientieren, einem großen, offenen und modern gestalteten europäischen | |
| Zentralbahnhof. | |
| Die Stadt investiert für den gesamten Ausbau des Verkehrsnetzes etwa 10 | |
| Milliarden US-Dollar. Das Land um die Diridon Station soll sich in den | |
| kommenden Jahren in einen attraktiven Standort verwandeln. „Google hat sich | |
| das angeguckt und gesagt: Das wird ein guter Ort, um unsere Arbeitskräfte | |
| unterzubringen“, sagt Charlie Faas, Vizepräsident und Finanzchef der San | |
| José State University. Faas nimmt, wie auch Maria Noel Fernandez, | |
| regelmäßig an den Sitzungen der Beratungsgruppe Station Area Advisory Group | |
| teil. | |
| Die San José State University, laut Faas mit ihren 5.000 Angestellten | |
| derzeit der größte Arbeitgeber der Stadt, sieht eine Möglichkeit für die | |
| 35.000 Student*innen, später Jobs bei Google zu ergattern. Viele der | |
| Absolvent*innen werden am Ende eher im Servicebereich arbeiten. Die | |
| Ausbildung an einer staatlichen Universität ist in den USA bei Weitem nicht | |
| so anerkannt wie der Abschluss an einer privaten Uni. Zudem entstehen | |
| erfahrungsgemäß mehr Arbeitsplätze rund um das Unternehmen herum als bei | |
| Google selbst. „Für jeden Techjob, den es gibt, entstehen vier | |
| Servicejobs“, schätzt Maria Noel Fernandez. | |
| ## Bezahlbare Häuser | |
| Im Gegensatz zu Fernandez sieht Faas Google in der Immobilienkrise nicht in | |
| der Pflicht: „Google wird die Immobilienpreise in die Höhe treiben – aber | |
| das ist nicht Googles Problem.“ Vielmehr sei es Aufgabe der Stadt und der | |
| Region, für bezahlbare Wohnungen zu sorgen. Auch die Universität bemühe | |
| sich darum, ausreichend Wohnraum für ihre Student*innen und Angestellten | |
| zur Verfügung zu stellen. | |
| „Die Immobilienpreise sind jetzt schon gestiegen“, sagt Stadtratsmitglied | |
| Raul Peralez, dessen Wähler*innenschaft zum größten Teil genau in dem | |
| Gebiet in San José lebt, das nun ausgebaut werden soll. „Das macht es so | |
| viel schwieriger für die Menschen in einer Region, in der es ohnehin schon | |
| teuer ist, Miete zu bezahlen oder ein Haus zu besitzen.“ Die Stadt müsse | |
| darum auch dafür sorgen, dass Menschen, die durch Googles Einzug verdrängt | |
| werden, an anderer Stelle im Stadtviertel eine Wohnung finden können. „Der | |
| Bedarf an bezahlbaren Wohnraum in der Gegend ist sehr hoch“, sagt Peralez. | |
| Laut Kim Walesh ist die Stadtverwaltung bereits dabei, sozial verträglichen | |
| Wohnraum zu schaffen: „In den kommenden fünf Jahren wollen wir 10.000 neue | |
| bezahlbare Häuser bauen.“ Insgesamt sei geplant, 120.000 neue Wohnungen zu | |
| errichten, um die 400.000 neuen Bewohner*innen unterzubringen, mit denen | |
| San José im neuen Stadtviertel rechnet. 15 Prozent der neuen Wohnungen | |
| seien als Sozialwohnungen geplant, so Walesh. Warum nicht mehr? „Wenn man | |
| mehr als 20 Prozent bezahlbare Wohnungen plant, wird es einfach nicht | |
| umgesetzt. Es ergibt ökonomisch keinen Sinn“, meint Walesh. | |
| Für die Stadtverwaltung ist es wichtig zu betonen, dass es keinen für das | |
| Unternehmen günstigen Deal gab, um Google in die Stadt zu holen. „Es gibt | |
| keine Subventionen und keine staatliche Unterstützung für Google“, sagt Kim | |
| Walesh. Dennoch ist es zumindest verwunderlich, dass die Stadt Grundstücke | |
| in öffentlichem Besitz an das Unternehmen verkauft. Zu einem Preis, der | |
| angesichts des gesamten Verkehrskonzepts sehr gering erscheint – 67 | |
| Millionen US-Dollar. Der Wert der Grundstücke wird mit dem Ausbau des | |
| Bahnverkehrs stark ansteigen. Die Stadt hätte das Land womöglich auch | |
| vermieten können. | |
| ## Soziale Verpflichtung | |
| „Eine Vermietung würde mehr Einkommen für die Stadt generieren“, gibt | |
| Stadtratsmitglied Raul Peralez zu. „Google hat aber kein Interesse daran, | |
| die Grundstücke zu mieten. Andere Unternehmen im Übrigen auch nicht.“ Der | |
| Techkonzern investiere riesige Summen in den Ausbau des Stadtviertels, und | |
| es sei deshalb verständlich, dass es das Land besitzen wolle, so Peralez. | |
| Google hatte bereits angefangen, private Grundstücke in der Umgebung der | |
| Diridon Station aufzukaufen, bevor es in die Verhandlungen mit der | |
| Stadtverwaltung ging. Nun soll das Techunternehmen auch die öffentlichen | |
| Grundstücke im Umkreis erhalten. Es wird somit ein riesiges Stück Land rund | |
| um den neuen Verkehrsknotenpunkt besitzen. | |
| Man hätte stattdessen auch viele verschiedene Unternehmen in die Stadt | |
| holen können, die kleinere Teile des Gebiets in Büros und Wohnraum | |
| umwandeln. „Das wäre sehr unzusammenhängend geworden“, findet Peralez. Die | |
| Stadt hätte nicht die Möglichkeit gehabt, die Einrichtungen um die Diridon | |
| Station so zu planen, wie sie es jetzt mit Google kann, meint Peralez. Die | |
| Station Area Advisory Group beschäftigt sich neben der Diskussion über | |
| bezahlbaren Wohnraum auch mit der Planung von Parks und anderen öffentlich | |
| zugänglichen Gebieten im neuen Stadtviertel. „Wir können über die | |
| Entwicklung des gesamten Viertels sprechen. Das ist eine tolle | |
| Möglichkeit“, so Peralez. | |
| Für die Aktivistin Maria Noel Fernandez ist die Planung des Stadtviertels | |
| als schöner, offener Raum nicht ausreichend. Sie nimmt vor allem deshalb an | |
| der StationArea Advisory Group teil, um Google an seine sozialen | |
| Verpflichtungen zu erinnern. „Es fühlt sich an, als wären wir nur da, damit | |
| Google sagen kann: Wir haben auch die Bürger*innen beteiligt. Wir haben | |
| bisher keine sinnvollen Details zur Größe und Gestaltung des Projekts | |
| bekommen“, sagt Fernandez. „Sie haben uns nur ein paar schöne | |
| Präsentationen gezeigt, wie toll es bei Google in anderen Teilen der Welt | |
| aussieht. Aber auch wenn das alles sehr hübsch ist, müssen wir über die | |
| ganzen anderen Probleme reden.“ Fernandez sorgt sich insbesondere darum, | |
| wie es den Minderheiten im Stadtviertel ergehen wird: „Wir verlieren People | |
| of Colour. Deshalb müssen wir kämpfen.“ | |
| Der Bau des neuen Google-Standorts wird langsam anlaufen. Vermutlich | |
| startet das Unternehmen seine Entwicklungspläne erst, wenn der Ausbau der | |
| Diridon Station schon weit fortgeschritten ist. „Was wir jetzt mit Google | |
| besprechen, wird wahrscheinlich erst in 15 Jahren umgesetzt“, sagt Raul | |
| Peralez. Gegen Ende November wollen Google und die Stadt San José aber | |
| schon eine Absichtserklärung unterschreiben. Dann ist der Verkauf des | |
| Landes an Google mehr oder weniger beschlossene Sache. Maria Noel | |
| Fernandez will sich bis dahin weiter dafür einsetzen, dass sich der | |
| Techkonzern in der Gemeinde engagiert. „Wir wollen, dass Google sagt: Ja, | |
| wir sind Teil des Problems. Aber wir wollen auch ein Teil der Lösung sein.“ | |
| Die Autorin hat mehrfach versucht, auch mit Google über die Pläne in San | |
| José zu sprechen. Das Unternehmen wollte sich zu diesem Zeitpunkt nicht | |
| äußern. | |
| Die Recherche ist im Rahmen einer Journalistenreise entstanden, die Global | |
| Experts in Zusammenarbeit mit Visit San José organisiert hat. | |
| 30 Nov 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Belinda Grasnick | |
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