| # taz.de -- Abschied von einem liberalen Traum: California Albdreaming | |
| > Kalifornien, das war lange ein großes Versprechen – von der Kraft der | |
| > Gegenkultur und einem freien Leben. Die soziale Spaltung hat den Traum | |
| > zerstört. | |
| Bild: Kalifornischer Traum? Eine Sonnenbadende vor der Imperial Valley Mall, Sa… | |
| Kalifornien taz | Es hat viele Jahre gebraucht, um zu kapieren, warum ich | |
| ein Gefühl wie nirgends sonst spüre, wenn der Airbus die Landebahn von San | |
| Francisco berührt. Ich dachte immer, das liegt daran, dass ich dort so weit | |
| weg von zu Hause bin. | |
| Aber das Gegenteil ist richtig. Wenn ich auf den Highway 101 einbiege und | |
| rüber auf die 280 fahre, suche ich auf der Spotify-Liste – ohne Witz – | |
| „California Dreaming“, drehe volle Pulle auf, und dann kommt dieses ganz | |
| große Gefühl: Jetzt bist du zu Hause. | |
| Allein schon wie die Leute hier „California“ sagen, ist doch zum | |
| Niederknien. Die Sprache, der Sound, die Identifikation. Es ist praktisch | |
| unmöglich, das Wort auszusprechen und dabei nicht zu lächeln. Selbst ich | |
| sehe in Kalifornien überhaupt nicht mehr grimmig aus, und das will was | |
| heißen. | |
| Es ist auch die kalifornische Ästhetik, also der unfassbar blaue Himmel, | |
| die Wälder mit den riesigen Redwood-Bäumen, der Küstenstreifen und der | |
| Pazifik, die Santa Cruz Mountains in der Sonne, überhaupt das viele Licht. | |
| ## Sein Gold finden | |
| Vor allem geht man aber seit 1848 nach Kalifornien, um sein Gold zu finden. | |
| Um anders, besser, reicher, freier zu werden! Das war bei den deutschen | |
| Wirtschaftsflüchtlingen im 19. Jahrhundert so, bei den amerikanischen | |
| Teenager-Kulturflüchtlingen, die vor ihren Eltern und dem autoritären Mief | |
| flohen. Und bei allen, die von Süden her nach Kalifornien strebten. | |
| Obwohl ich es inzwischen besser weiß und ausgerechnet die kalifornische | |
| Stadt „Paradise“ in diesem Spätherbst abgebrannt ist, höre ich immer noch | |
| „Paradies“, wenn einer „California“ sagt. Mein Gefühl ist aufgeladen d… | |
| die Aufbruchsbewegungen der Nachkriegszeit gen San Francisco, die Beatniks | |
| in North Beach, die Hippies im Sommer der Liebe, die Schwulenemanzipation | |
| im San Franciscoer Stadtviertel Castro, das Glaubenwollen an den niemals | |
| endenden emanzipatorischen Fortschritt und das Wachstum an eigener | |
| Freiheit. | |
| Es ist das Gefühl der Endlosigkeit. Die amerikanische Frontier, die Grenze, | |
| die es immer weiter zu verschieben gilt, endet nicht am Pazifik. Sie | |
| verlängert sich in das Ich und die Gesellschaft. Wir haben wie | |
| selbstverständlich einen endlosen Fortschritt der liberalen Moderne | |
| vorausgesetzt. Emanzipatorisch, identitätspolitisch progressiv, | |
| pluralistisch, frei – und Geld spielt keine Rolle, weil wir das irgendwie | |
| genug haben. | |
| Selbstverständlich ohne gierig zu sein. Das war das prägende Lebensgefühl | |
| für zumindest ein, zwei, drei Generationen nach dem Zweiten Weltkrieg. | |
| ## 7.500 Menschen ohne Obdach | |
| Tja, und neulich war ich mit ein paar Leuten aus Baden-Württemberg in San | |
| Francisco, von denen das manche zuvor nicht kannten. Erst große | |
| Begeisterung. Über die Golden-Gate-Brücke nach Sausalito und zurück, | |
| bisschen Cable Car fahren, durch Chinatown nach North Beach und durch die | |
| Jack-Kerouac-Alley in den City Lights Book Store, einen wirklich miserabel | |
| sortierten Buchladen, aber auch einen heiligen Ort der Gegenkultur. | |
| Zwei Kilometer westlich dann der Golden Gate Park und Haight-Ashbury, | |
| Epizentrum des Flower-Power-Märchens, über dessen Realität man bei Joan | |
| Didion alles Wesentliche nachlesen kann. Kurzform: nicht so schön. | |
| Jedenfalls war aktuell Weltklimakonferenz, draußen soziale Bewegungen auf | |
| den Straßen, drinnen redete die Bürgermeisterin London Breed, die schwarz | |
| ist und von unten kommt. Also absolut progressives Spitzenniveau. | |
| Aber dann waren die Besucher ganz betreten, nachdem sie ein paar Schritte | |
| von ihrem schönen Hotel durch ein Viertel gegangen waren, in dem ziemlich | |
| viele Menschen auf der Straße leben. Manche in Zelten, manche auf dem | |
| Gehsteig. Doch definitiv ohne Blumen im Haar. Nach offizieller Zählung sind | |
| 7.500 Menschen ohne Obdach. | |
| ## Wer fliegt als Nächstes raus? | |
| Was letztlich für die Stadt spricht. Der deutsche Generalkonsul Hans-Ulrich | |
| Südbeck sagt, andere US-Staaten karrten ihre Obdachlosen mit Bussen nach | |
| San Francisco, um sie loszuwerden. Weil man sie hier nicht rausschmeißt. | |
| Manche hier würden die Obdachlosen aber schon gern nach Sacramento oder so | |
| verfrachten. Es gibt allerdings auch Unterstützung von Leuten, die | |
| fürchten, dass sie selbst die nächsten sind, die rausfliegen. | |
| Früher zog San Francisco Menschen an – [1][jetzt drängt es sie raus]. | |
| Schwarze und Latinos erwischt es als Erste. | |
| Ich treffe im Frühstücksrestaurant „Los Bagels“ in Arcata eine Frau, die | |
| mir in sechzig Sekunden einen tieferen Einblick in ihr Leben gibt, als es | |
| die meisten Deutschen in sechs Jahren Bekanntschaft tun würden. | |
| Arcata ist ein windiges Posthippie-Refugium in Nordkalifornien, superlinks, | |
| womöglich verstecken sich hier noch ein paar Weathermen – das war so etwas | |
| wie die amerikanische RAF. Außerdem ist der Ort „atomwaffenfreie Zone“, was | |
| bei einem Nuklearschlag allerdings nur moralisch hilft. | |
| ## Kämpfe um eine alte Statue | |
| Die politische Szene war die letzten Jahre damit beschäftigt, ein über | |
| hundertzehn Jahre altes Denkmal des 1901 ermordeten Präsidenten William | |
| McKinley aus dem Stadtzentrum entfernt zu bekommen, weil McKinley seiner | |
| Zeit entsprechend rassistisch unterwegs war. Vor ein paar Jahren hätte ich | |
| mir vorstellen können, in Arcata zu leben. Heute fürchte ich, my dear | |
| fellow Arcatians haben womöglich gar nicht mitbekommen, dass der Präsident | |
| Trump ist und nicht McKinley. | |
| Jedenfalls war die Frau im „Los Bagels“ Lehrerin, um die vierzig, weiß und | |
| sagte, sie lebe östlich von San Francisco, weil die Stadt viel zu teuer | |
| sei. Ich fragte sie, ob sie dann in Oakland lebe, auf der anderen Seite der | |
| Bucht, oder hinter dem Hügel, der die Bay Area vom heißen Inland schützt. | |
| Sie sagte: hinter dem zweiten Hügel. Hinter dem ersten sei es auch noch zu | |
| teuer. | |
| Mit 100.000 Dollar Jahresgehalt kann sich eine Familie San Francisco nicht | |
| mehr annähernd leisten, sagt der deutsche Generalkonsul. Eigentlich nennt | |
| er eine noch viel absurdere Summe, die ich mich aber nicht traue | |
| hinzuschreiben. | |
| Ein mittlerer oder höherer Angestellter eines | |
| Internettechnologie-Unternehmens kann sich die Stadt jedenfalls leisten, | |
| wenn er keine Lust mehr hat, [2][in einem der langweiligen und auch obszön | |
| teuren Orte des Silicon Valley zu wohnen.] Dessen Zentrum ist Stanford, | |
| heute die Nummer eins der amerikanischen Elite-Universitäten, weil aus ihr | |
| heraus die neue Welt entstand. | |
| ## Superprogressiv und für die meisten unbezahlbar | |
| In dem danebenliegenden Städtchen Palo Alto kostet ein kleines Papphäuschen | |
| zwei Millionen aufwärts. Dann lieber im Kleinkinder-Stadtteil Noe Valley | |
| leben wie Mark Zuckerberg – und von San Francisco ins Valley pendeln. | |
| San Francisco gehörte auch vor dem Epochenwandel durch das Silicon Valley | |
| nicht den einfachen Leuten, das ist ja klar. Auch der schwarze und | |
| demokratische Bürgermeister Willie Brown galt als Politiker der | |
| Unternehmen. Aber jetzt werden eben auch Mittelschichtsstadtteile aggressiv | |
| für die postindustrielle Zeit und die Lebensstile von noch mal deutlich | |
| solventeren Bewohnern neu modelliert. Mexikanische Kantine raus, | |
| High-End-Restaurant rein. Kleiner Buchladen raus, teure Galerie rein. | |
| Trotzdem ist der Glaube immer noch lebendig, schreibt der New Yorker, dass | |
| San Francisco eine superprogressive Stadt sei. Very leftleaning, also | |
| linksdrehend. Darüber habe ich mit dem Reporter George Packer gesprochen, | |
| der in seinem grandiosen Buch „Die Abwicklung“ den Absturz der | |
| amerikanischen Mittelschicht skizziert. | |
| Amerika sei immer mehr wie Wal-Mart geworden, sagt Packer: billig. | |
| ## „Einer der ungleichsten Orte in Amerika“ | |
| Wal-Mart ist das umsatzstärkste Unternehmen der Welt und hat über zwei | |
| Millionen Angestellte, und sein Prinzip lautet: Niedrige Preise durch | |
| niedrige Löhne. Immer weniger ordentliche Jobs, dafür Dienstleistungsjunk. | |
| Packer sitzt in seinem Homeoffice in New York, als wir telefonieren, ich | |
| fünfzig Meter vom Pazifik entfernt in Kalifornien. Aber eigentlich kommt | |
| Packer aus dem Silicon Valley, nur dass es damals noch nicht so hieß, als | |
| er dort aufwuchs. Es war eine langweilige Mittelschichtsgegend der | |
| Ähnlichen. Ähnliche Häuser, ähnlicher Lebensstil, ähnliche Vorstellungen. | |
| Wie in der Bundesrepublik von Brandt, Schmidt und Kohl auch, die ja eben | |
| keine politischen Antipoden waren, sondern leichte Variationen eines | |
| Modells. | |
| „Silicon Valley ist einer der ungleichsten Orte in Amerika“, sagt Packer. | |
| Hier könne man die voranschreitende Auflösung der amerikanischen | |
| Gesellschaft am deutlichsten sehen. | |
| Die bräsige, aber soziale Mittelschichtswelt seiner Jugend ist geschrumpft | |
| wie in Deutschland die klassischen SPD-Milieus. Dafür hat man nun ein paar | |
| tausend IT-Millionäre auf der einen Seite und Millionen von | |
| Niedriglohnjobbern ganz ohne soziale Sicherheiten. | |
| Die Industriegesellschaft, von der George Packer oder die deutschen | |
| Willy-Brandt-Nostalgiker schwärmen, machte in den USA mal die Hälfte der | |
| Arbeitsplätze aus, heute sind es noch 14 Prozent. Dafür sind jetzt drei | |
| Viertel der Jobs im Dienstleistungsbereich. Die einen hochqualifiziert und | |
| gutbezahlt, die anderen als deren Service Class. | |
| ## Reagan, Thatcher und Rot-Grün | |
| Das ist eine Polarisierung, die die „Politik“ aber nicht entwickelt, | |
| allerdings zu bestimmten Zeitpunkten politisch gefördert hat, etwa durch | |
| Reagan, Thatcher und auch die rot-grünen Sozialreformen, die der Union | |
| nicht weit genug gingen. Das ist das eine. | |
| Das Zweite ist: Der Finanzkapitalismus mit seiner Fixierung auf schnelle, | |
| riesige Profite für wenige hat mit dem Kollaps von 2008 und dem Platzen der | |
| Immobilienblase Leben zerstört – und auch die Lebenspraxis, mit dem Kauf | |
| eines Hauses in Sicherheit zu sein. | |
| Drittens: Die digitale Disruption ist nicht wie die anderen industriellen | |
| Revolutionen zuvor auch ein sozialer Schritt nach vorn, der mehr und | |
| bessere Arbeitsplätze bringt. Tech zerstört alte Wirtschafts- und | |
| Gesellschaftsstrukturen und bringt eben keine neue Mittelklasse mit sich. | |
| Das ist Packers zentrale These. | |
| Speziell die Künstliche Intelligenz, bei der Silicon Valley und chinesische | |
| Westküste miteinander konkurrieren, wird den Kapitalismus und seine | |
| Arbeitsgesellschaft in den nächsten Jahren noch mal ganz anders verändern. | |
| Auch das ist nicht aufzuhalten. | |
| ## Ist alles zu kompliziert geworden? | |
| Die große Frage ist, welchen Einfluss Politik wirklich auf die Verwerfungen | |
| der Vergangenheit und die Gestaltung der Zukunft hat. Inwieweit die | |
| politische Elite wirklich versagt hat oder gekauft war – oder ob ein hoher | |
| Anteil auch darin besteht, dass alles zu kompliziert geworden ist und die | |
| langfristigen Vor- und Nachteile bestimmter Handlungen nicht verlässlich | |
| berechenbar sind. | |
| Und damit zum vierten und unangenehmsten Punkt. George Packer hatte schon | |
| früh die Erkenntnis, die erst im Zuge der Beschäftigung mit den Soziologen | |
| Didier Eribon, Mark Lilla und anderen langsam in Deutschland ernst genommen | |
| wird: Die akademischen Weltbürger-Linken haben die emanzipatorischen | |
| Minderheitsbewegungen vorangebracht, also das Liberale. Aber das Linke | |
| vergessen oder anders gesagt: das Gemeinsame. | |
| George Packer sagt das so: Der schwule Junge kann jetzt zu den Boy-Scouts, | |
| aber wenn er nicht aus der richtigen Familie ist, hat er zwar weniger | |
| Diskriminierung, aber auch weniger Zukunft als in den 70ern. | |
| ## Surf-Dads warten auf ihre Welle | |
| Besonders klar kann man diese Spaltung 30 Meilen westlich vom Silicon | |
| Valley sehen, in dem Uni-Städtchen Santa Cruz, einem Beachparadies für | |
| liberale Weltbürger. | |
| Alle Quoten top in Schuss. Vegetarische Restaurants dito. Superstrände, | |
| Superparks, Superbuchladen Riesige Polizeidienststelle, na ja, aber dafür | |
| hat man an der Uni einen besonders schönen Professorenstuhl für die | |
| Bürgerrechtsikone Angela Davis erfunden („History of Consciousness“). Der | |
| Großschriftsteller Jonathan Franzen ist von New York hierher gezogen, weil | |
| er hier sein maximales Lebensfreiheitsgefühl gefunden habe. Und ich kann | |
| ihn so was von verstehen, denn mir geht es genauso. Wenn man morgens mit | |
| dem Fahrrad am Surfspot Steamer Lane vorbeifährt, wo die Surfer-Dads vor | |
| dem Büro auf ihre Welle warten und der Blick womöglich bis Monterey auf der | |
| anderen Seite der Bay reicht, dann … na ja, ist das Leben schon sehr gut. | |
| ## Der systemnotwendige Schattenzwilling | |
| Was man nicht sieht: Santa Cruz hat noch einen systemnotwendigen | |
| Schattenzwilling namens Watsonville. Auch 50.000 Einwohner, aber nicht | |
| schön am Meer gelegen, sondern 20 Minuten den Highway 1 runter zwischen den | |
| riesigen Feldern der Industrielandwirtschaft. Deutlich niedrigere | |
| Häuserpreise, weitgehend charmefrei. Hier lebt das | |
| Latino-Dienstleistungsproletariat der akademischen Weltbürgerklasse von | |
| Santa Cruz. | |
| Und die ganz unten gehen in der River Street im Industriegebiet von Santa | |
| Cruz auf den Arbeiterstrich. Da stehen jeden Tag die gleichen Latino-Männer | |
| und warten, dass ein Professor oder IT-Typ sie aufgabelt, damit sie ihm | |
| gegen Cash zu Hause das Laub wegfegen oder das Garagendach flicken dürfen. | |
| An einem wunderschönen Herbsttag fahre ich mit einem Mietwagen rüber nach | |
| Berkeley, gehe über die legendäre Telegraph Avenue und durch das Sather | |
| Gate, durch das man den Campus von „Cal“ betritt, wie man die erste und | |
| wichtigste Uni des kalifornischen Staats nennt, 1868 gegründet. | |
| ## Etwas Mumifiziertes | |
| Wenn ich früher auf der zentralen Sproul Plaza stand, hatte ich immer ein | |
| ganz besonders erhabenes Kalifornien-Gefühl. Hier bin ich vorn, hier gehör | |
| ich hin, dachte ich. Und nun? Einerseits ziehen um 12 Uhr mittags Tausende | |
| schöner, junger Menschen vorbei. Und wer wenn nicht sie sollten die Zukunft | |
| sein? Andererseits hängen überall schwarze Veranstaltungsplakate: „Warum | |
| wir eine echte Revolution brauchen, und wie wir sie wirklich machen können. | |
| 15 Uhr.“ | |
| Die großen Orte des gesellschaftlichen Aufbruchs haben neben allem | |
| Positiven längst auch etwas Mumifiziertes, das trifft nicht nur auf | |
| Berkeley, San Francisco oder Arcata zu, sondern auch auf Berlin-Kreuzberg, | |
| das mit seiner links-grünen Vergangenheitsverwaltung auch als Karikatur von | |
| Progressivität betrachtet werden kann. | |
| Im Grunde geht es hier oft nur noch ums Verhindern und den Wunsch, einen | |
| Schutzwall gegen die ganzen „Arschlöcher“ hochzuziehen. Investoren, | |
| Touristen, Bio-Markthallen, alles, was fremd und bedrohlich daherkommt – | |
| und es in mancherlei Hinsicht auch ist. | |
| Dreihundert Meter nördlich vom Sather Gate liegt das Free Speech Movement | |
| Café, das die gegenkulturelle Revolte der 60er würdigt. In der Schlange | |
| beim Kaffeekaufen steht man direkt vor einer eingravierten Würdigung von | |
| Mario Savio. Er ist das Gesicht und die Stimme der amerikanischen | |
| Studentenbewegung, die 1964 in Berkeley begann. Es ging zunächst darum, | |
| Free Speech, das freie Rederecht, auf dem Campus zu erkämpfen. | |
| ## Das Liberale wurde das Normale | |
| Dieses freie Sprechen versetzte den nach Selbstbefreiung lechzenden jungen | |
| Menschen in den Industriestaaten des Westens in die Lage, seine neue, | |
| emanzipatorische und antiautoritäre Sicht auf die Welt zu artikulieren – | |
| und bis zu einem gewissen Grad auch durchzusetzen. Das Denken, die | |
| Lebensstile, der Staat: Das „Normale“ verschob sich vom Autoritären ins | |
| Liberale und eben auch vom Gemeinsamen ins Individuelle. | |
| Heute sitzt man im Free-Speech-Café und muss damit klarkommen, dass ein | |
| paar Meter entfernt linke Studenten im vergangenen Jahr mit Gewalt das | |
| Recht auf freie Rede verhindert haben, für das ihre Vorgänger damals | |
| aufgestanden sind. Weil der rechte Rebellen-Darsteller Milo Yiannopoulos es | |
| einforderte. | |
| Bei der marxistischen Starautorin Angela Nagle kann man nachlesen, wie die | |
| College-Linke in den USA sich in identitätspolitische Haltungs- und | |
| Ausdrucksfragen verbiss und ansonsten zusah, wie die Alt-Right, die | |
| alternative Rechte in den USA, die Kultur der subversiven, spielerischen, | |
| ironischen, aggressiven Grenzüberschreitung gekapert und ins Netz | |
| übertragen hat – was ein wichtiger Grund für die Wahl von Donald Trump zum | |
| Präsidenten war. | |
| Selbstverständlich hatte Yiannopoulus die Studis von Berkeley mit seinen | |
| rassistischen und sexistischen Sprüchen in eine Falle gelockt. Das Drama | |
| besteht darin, dass sie so bescheuert waren, das Spiel der umgekehrten | |
| Rollen mitzuspielen. | |
| ## Das Großartige an der liberalen Gesellschaft | |
| Man kann die liberale Gesellschaft gegen das Illiberale nicht verteidigen, | |
| indem man selbst totalitär und illiberal agiert. Und nur die eigenen | |
| Positionen als universalistisch geschützte Wahrheit gelten lässt. Das ist | |
| das Komplizierte und Großartige an einer liberalen Gesellschaft – und das, | |
| was sie von rechten und linken Diktaturen unterscheidet. | |
| Eine Meile vom Campus entfernt an Berkeleys zentraler Durchfahrtsstraße | |
| liegt „Saul’s Delicatessen“, ein jüdisches Restaurant. Dort sitzt an ein… | |
| Fensterplatz der Silicon-Valley-Millionär, Dreadlock-Philosoph und | |
| Friedenspreisträger Jaron Lanier und verteilt einen fett belegten | |
| „Everything Bagel“ und etwas Sauce über sein weites schwarzes Kleid. | |
| „Pardon my eating habits“, sagt er mit Fistelstimme, „they are terrible.�… | |
| Lanier, 58, hat schon in den 80ern mit seinem Start-up die virtuelle | |
| Realität entwickelt. Er war nicht überall dabei, aber oft. Heute berät er | |
| Microsoft. Anders als die meisten Silicon-Valley-Jungs ist er kein | |
| Hardcore-Libertärer, aber schon auch ein Verfechter der kalifornischen | |
| Grundmelodie, nach der der Staat sich weitgehend raushalten soll. | |
| ## Reichtumskonzentration, die zu Unfreiheit führt | |
| Aber auch aus Laniers Sicht hat sich die Tech-Wirtschaft die | |
| Reichtumskonzentration in der Bay Area um San Francisco so zugespitzt, dass | |
| sie Unfreiheit zur Folge hat. Und zwar nicht nur für seine armen | |
| Künstlerfreunde, die in Containern leben, sondern auch für die Reichen, die | |
| sich jetzt gegen die Welt abschotten, weil sie Angst vor ihr haben. | |
| Lanier lebt mit Frau und Tochter in Berkeley, weil er hier trotz hoher | |
| Miet- und Hauspreise noch in Ansätzen das „Gefühl von Normalität“ spüre. | |
| Seine Milliardärsfreunde in Palo Alto fragen ihn gern, ob er nicht mit | |
| ihnen nach Neuseeland kommen will, wo sie für alle Fälle Bunker gebaut | |
| haben. „Ihr habt Amerika abgefuckt“, pflege er zu antworten, „und nun wol… | |
| ihr auch noch Neuseeland abfucken?“ | |
| Aus seiner Sicht hat die Internettechnologie zwei Klassen geschaffen. | |
| Diejenigen, die die Maschinen besitzen oder nah dran sind – und die | |
| anderen. Die Künstliche Intelligenz, und nur darum geht es hier, schiebe | |
| zunehmend Menschen raus aus dem Kreis derer, die dazugehören. Künstliche | |
| Intelligenz ist für ihn ein anderes Wort für „Diebstahl“. Die Maschine | |
| braucht und stiehlt die Daten des Menschen und erklärt ihn gleichzeitig für | |
| überflüssig. | |
| Das sei die alles zerstörende Geschichte des Silicon Valley. Menschen, die | |
| sich überflüssig fühlen, nicht mehr gebraucht werden und nicht mehr | |
| dazugehören: Das könnte die alles zerstörende Geschichte des 21. | |
| Jahrhunderts sein. Wenn wir nicht schleunigst eine andere finden. | |
| ## Nur ein individualistischer Traum | |
| Unser kalifornischer Traum ist nur ein individualistischer oder bestenfalls | |
| teilgesellschaftlicher Traum, der das Ich ins Unendliche ausdehnen soll und | |
| die Welt zu unserer machen. Der Begriff „bessere Welt“ dabei ist ein | |
| Euphemismus für „unsere Welt“. Wer unsere Fortschrittserzählung teilt und | |
| also Teil davon ist, gilt als progressiv und gut. Wer sie nicht teilt, weil | |
| er nicht beteiligt ist oder sich nicht beteiligt fühlt, ist reaktionär. Mit | |
| dem reden wir nicht mehr, basta. | |
| Das kann man machen, aber es wird böse enden. Die Herausforderung besteht | |
| darin, die abgehängten Männer im Mittleren Westen nicht moralisch ein | |
| weiteres Mal zu deklassieren, sondern sich ernsthaft Träumen, | |
| Normvorstellungen, Lebensstilen und Bedürfnissen zu stellen, die nicht die | |
| eigenen sind. In diesem Denkversuch ist Trump nicht das Problem, sondern | |
| die Folge des Problems, der Aufstand derjenigen, die nicht oder nicht mehr | |
| Teil unserer Welt sind. Deren Ich in dem Maße geschrumpft ist, in dem | |
| unseres gewachsen ist. | |
| Hinzu kommt: Diese liberale, emanzipatorische und soziale Moderne kann eben | |
| bisher nur als fossile gedacht werden. Trump leugnet die Erderwärmung, | |
| aber wir tun auch nichts. Und deshalb kommt ein anderer Aspekt von | |
| Kalifornien ins Spiel. Der deutsche Kulturmigrant Jürgen Klinsmann schwärmt | |
| davon, als ich ihn an einem Sonntagmorgen in San Francisco treffe. | |
| ## Immer an den Best Case denken | |
| Der frühere Nationalmannschaftskapitän und Bundestrainer zog wegen eines | |
| California Girls nach Los Angeles. Und weil er vom Spirit angezogen wurde. | |
| Für ihn ist der zentrale Unterschied, dass man sich in Deutschland an der | |
| Vergangenheit orientiert und in Kalifornien an der Zukunft. Er liebt die | |
| Can-do-Mentalität und die Risikobereitschaft. Es gehe immer um den Best | |
| Case. „Den Worst Case überlassen die Kalifornier den Anwälten“, sagt er. | |
| Also ziemlich das Gegenteil von dem, was wir in Deutschland in den | |
| vergangenen Jahren erlebt haben. | |
| Außerdem schätzt Klinsmann die Neidfreiheit. Diese ist aus | |
| europäisch-sozialdemokratischer Sicht einer ideologischen Gehirnwäsche | |
| geschuldet, die dazu führt, dass die Deklassierten und Abgestürzten nicht | |
| den Mangel an Sozialstaat und Sicherheit kritisieren, sondern sich selbst | |
| verantwortlich fühlen, wenn sie Arbeit und Haus verlieren und auf der | |
| Straße stehen. | |
| Aber da ist auch noch mehr. Die Leere, die man als Europäer hier auch | |
| empfindet und die sich in meinen abschätzigen Bemerkungen über die | |
| Silicon-Valley-Städtchen zeigt, der freie Raum, auch der Denkraum und der | |
| Zwang zum Risiko sind eben die Voraussetzung, damit etwas entstehen kann. | |
| Hollywood in L.A., 1968 in Berkeley, Tech in und um Stanford. | |
| ## Der Traum der einen ist der Albtraum der anderen | |
| Und nun hat der aus dem Amt scheidende Gouverneur Jerry Brown als | |
| Vermächtnis verfügt, dass Kalifornien bis 2045 komplett CO2-frei sein muss. | |
| „Es gibt keinen Plan, wie das gehen soll“, sagt mir sein Pressesprecher in | |
| einem Hotel in San Francisco. „Er hat es angeordnet, damit es einen Plan | |
| geben kann.“ Der Satz „Wir schaffen das“ ist die Voraussetzung, es zu | |
| schaffen. Und kein Verbrechen. Das Problem ist aber, dass die letzte | |
| Hoffnung der freien Welt die Technologie-Innovation zu sein scheint, die im | |
| Silicon Valley und anderswo gleichzeitig an ihrer zunehmenden Unfreiheit | |
| arbeitet. | |
| Kalifornien steht dafür, dass wir einen weiten und guten Weg gegangen sind. | |
| Aber auch dafür, dass das nicht für alle gut ist. Dass jeder Vorteil auch | |
| einen Nachteil hat. Dass wir Pop und Politik verwechselt haben. Ich und | |
| wir. Dass wir jetzt etwas Gewaltiges riskieren müssen. Neu denken müssen. | |
| Von einer gemeinsamen Zukunft her. | |
| Kalifornien steht dafür, dass Menschen großartig sein können. Aber auch | |
| naiv, gedankenlos, selbstbesoffen und brutal. Der kalifornische Traum der | |
| einen ist der kalifornische Albtraum der anderen. | |
| Manchmal schrecke auch ich inzwischen nachts hoch, weil ich keine Luft mehr | |
| kriege, denn das ganze Zimmer ist voll mit Angst. Dann verteile ich den | |
| Schweiß im Gesicht, schüttele das Kissen und flüstere mir ins Ohr: Schlaf | |
| schön weiter, Baby Blue. | |
| Manchmal klappt es. | |
| 27 Dec 2018 | |
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