# taz.de -- Psychologe über tödliche Polizeischüsse: „Fast alle Fälle sin… | |
> Seit 1990 starben in Deutschland 269 Menschen durch Polizeischüsse. Viele | |
> Opfer haben eine psychische Erkrankung. Thomas Feltes über Deeskalation. | |
Bild: 2013 wurde Manuel F. von der Polizei im Berliner Neptunbrunnen erschossen… | |
Die klassische Western-Vorstellung von bewaffneten Räubern, die in einem | |
Gefecht mit den Ordnungshütern ihr Leben verlieren, hat mit der Realität | |
nur wenig zu tun. Wer in Deutschland von Polizisten erschossen wird, ist | |
mit hoher Wahrscheinlichkeit psychisch krank oder befindet sich zumindest | |
in einer akuten psychischen Ausnahmesituation. Auch die Folgen von | |
Drogenmissbrauch spielen eine nicht unwesentliche Rolle. Es trifft | |
Menschen, die in Stresssituationen nicht mehr adäquat reagieren können, | |
manchmal auch solche, die ihren Tod bewusst provozieren. | |
Insbesondere seit Ende des vergangenen Jahrzehnts mehren sich Hinweise auf | |
psychische Erkrankungen der Erschossenen. Die Recherche der taz zeigt: | |
Zwischen 2009 und 2017 verloren 74 Menschen durch Polizeischüsse ihr Leben; | |
bei 38 von ihnen, etwas mehr als der Hälfte, fanden sich Hinweise auf | |
psychische Erkrankungen. In vielen Fällen bleibt der Gesundheitszustand der | |
Opfer im Nachhinein ungeklärt; die eigentliche Zahl dürfte also höher | |
liegen. Ihnen gegenüber stehen nur 16 Fälle, in denen von einem | |
„gewöhnlichen“ kriminellen Hintergrund ausgegangen werden kann, sich etwa | |
Verdächtige einer Festnahme entziehen wollten. Thomas Feltes, Kriminologe | |
von der Ruhr-Universität Bochum, beschäftigt sich seit vielen Jahren mit | |
polizeilichem Handeln und den davon Betroffenen. | |
taz: Herr Feltes, seit 1990 sind mehr als 260 Menschen in Deutschland von | |
Polizisten erschossen worden, im Jahr 2016 waren es mit 13 so viele wie | |
lange nicht mehr. Ist die Zahl der Opfer zu hoch? | |
Thomas Feltes: Die Schussabgabe eines Polizisten ist hierzulande immer | |
noch ein sehr seltenes Ereignis und im internationalen Vergleich steht | |
Deutschland nach wie vor eher positiv da. Viele Polizeibeamte kommen | |
glücklicherweise nie in die Situation, von der Schusswaffe Gebrauch machen | |
zu müssen. Dennoch ist jeder Tote einer zu viel, denn fast alle Fälle sind | |
vermeidbar. Fast immer werden bei den Einsätzen, die tödlich enden, zuvor | |
Fehler gemacht. Gerade weil diese Situationen so selten sind, ist es für | |
Polizeibeamte so schwierig, sich angemessen zu verhalten. | |
Auffällig ist, dass sich bei etwa der Hälfte der Opfer Hinweise auf eine | |
psychische Erkrankung finden. Der Anteil psychisch Erkrankter bei den | |
Todesfällen ist in den vergangenen Jahren stark gestiegen. Woran liegt das? | |
Es gibt immer mehr Menschen, die unter psychischen Erkrankungen leiden, und | |
sie werden – zum Glück – nicht mehr so rigide weggesperrt wie früher. Dazu | |
kommt die Vereinzelung in der Gesellschaft: Zunehmend fehlt ein Umfeld, das | |
diese Menschen sozial auffangen könnte. Auch der Drogenkonsum hat sich | |
gewandelt. Überdosierungen und verunreinigte Drogen können dazu führen, | |
dass Menschen nicht mehr rational agieren und nicht ansprechbar sind. Mit | |
verändertem oder repressiverem Verhalten der Polizei haben die steigenden | |
Zahlen wohl eher nichts zu tun. | |
Wie können Polizisten erkennen, dass Menschen in einer Extremsituation | |
sind? | |
Es gibt Kriterien, anhand derer man „ungewöhnliches“ Verhalten einordnen | |
kann, auch wenn in wenigen Sekunden keine richtige Diagnose möglich ist. | |
Desorientierung, überschießende Aggressivität oder Verwirrtheit sind | |
Hinweise auf psychische Probleme. | |
Wie sollten Polizisten in solchen Situationen reagieren? | |
Am wichtigsten ist es zu klären, ob eine unmittelbare polizeiliche Handlung | |
überhaupt notwendig ist: Besteht tatsächlich eine unmittelbare Gefahr für | |
andere oder die betreffende Person, die nur durch Schusswaffengebrauch | |
beendet werden kann? Wenn das nicht der Fall ist, darf es nur darum gehen, | |
die Lage so zu stabilisieren, dass von der Person keine unmittelbare Gefahr | |
ausgeht. Die Polizisten können sich zurückzuziehen, Abstand halten und die | |
Person nicht unter Druck setzen. Eine Hauptproblem besteht in vielen Fällen | |
allerdings darin, dass Polizeibeamte ein Problem unbedingt selbst und | |
sofort lösen wollen, ohne geeignete Fachleute zurate zu ziehen. Psychisch | |
gestörte Menschen mit gezogener Waffe zu konfrontieren, Pfefferspray oder | |
gar Hunde gegen sie einzusetzen, führt unweigerlich zur Eskalation der | |
Situation. | |
Was müsste sich bei der Polizei ändern, damit solche Einsätze eben nicht | |
eskalieren? | |
In den Einsatzzentralen sollte es Listen von Psychologen und Psychiatern | |
geben, die man zum Einsatzort rufen kann, sobald es einen Verdacht auf eine | |
psychische Erkrankung gibt. Entsprechende Notfalldienste gibt es in allen | |
größeren Städten. Zudem muss den Polizeibeamten das notwendige Grundwissen | |
über psychische Erkrankungen und den richtigen Umgang damit vermittelt | |
werden. In der Ausbildung wird das Thema zwar angesprochen, aber es fehlen | |
entsprechende Fortbildungsmaßnahmen. | |
Und was, wenn es schon zu spät ist? | |
Jeder Fall, in dem eine psychisch kranke Person Opfer von Polizeigewalt | |
wird, muss durch unabhängige Ombudsleute oder Polizeibeschwerdestellen | |
aufgearbeitet werden – nicht nur polizeiintern. Wenn Fehler passiert sind, | |
müsste Schadenersatz gezahlt werden, wie es in den USA regelmäßig der Fall | |
ist. Das würde auch dem Ansehen der Polizei zugutekommen. | |
Gibt es innerhalb der Polizei ein Problembewusstsein dafür, dass so viele | |
psychisch Kranke erschossen werden? | |
Ich habe nicht das Gefühl, dass die Polizei die Bedeutung des Problems | |
wirklich realisiert. Sie tendiert eher dazu, ihr Handeln zu rechtfertigen | |
und Fehler herunterzuspielen oder gar zu vertuschen. Mit der Begründung, in | |
Notwehr gehandelt zu haben, wird der Einsatz dann legitimiert. Dabei wird | |
die eigentliche Notwehrsituation oftmals erst durch den Polizeieinsatz | |
ausgelöst. Die interne Aufarbeitung dringt auch nicht nach außen, dabei | |
würde auch diese dem Ansehen der Polizei mehr nutzen als schaden. | |
Die meisten der Erschossenen waren nicht mit einer Schusswaffe, sondern mit | |
einem Messer bewaffnet. Polizisten wird beigebracht, dass von einem Messer | |
die größte Gefahr ausgeht. Zu Recht? | |
Ja. Einen Schuss kann man zumeist leichter überleben als einen tiefen | |
Messerstich. Zudem sind Messer praktisch immer griffbereit, und man kann | |
sich nur schwer dagegen schützen, wenn man der Person zu nahe kommt. Es | |
genügt häufig schon, Abstand zu gewinnen, um die Situation zu beruhigen. | |
Dann kann man psychologische Unterstützung anfordern und gegebenenfalls | |
auch ein Spezialeinsatzkommando. | |
Braucht die Polizei eine andere Bewaffnung? | |
In Berlin werden jetzt Taser getestet, also Elektroschockpistolen. Ich | |
halte diese für vollkommen ungeeignet, besonders im Umgang mit psychisch | |
Kranken. Der Umgang mit Tasern erfordert ein hohes Maß an Training. Sie | |
sind außerdem, wie Pfefferspray, tödliche Waffen, wenn sie falsch oder bei | |
Personen eingesetzt werden, die entsprechende Vorerkrankungen haben. Die | |
Polizei braucht keine anderen Waffen, sondern fachübergreifende | |
Unterstützung und Fortbildung. | |
Seit 1990 wurden mindestens 269 Menschen von Polizisten erschossen. Wie | |
lässt sich das erklären? Das ganze Dossier von Erik Peter und Svenja | |
Bednarczyk finden Sie unter taz.de/polizeitote. | |
17 May 2017 | |
## AUTOREN | |
Erik Peter | |
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