| # taz.de -- Tödliche Polizeischüsse: Der Fall Grigorij S. | |
| > Drei Schüsse feuert ein Zivilpolizist aus nächster Nähe auf Grigorij S. | |
| > ab. Der stirbt. Der Fall ist typisch für mangelnde Kompetenz der Polizei. | |
| Bild: Der Balkon des Ein-Zimmer-Apartments, in dem Grigorij S. wohnte | |
| Memmingen taz | Grigorij S. bereitet seine Brotzeit zu, füllt Kaffee in die | |
| Thermoskanne. Dann verstaut er seine Sachen in einem Rucksack, als wäre | |
| dies ein ganz normaler Arbeitstag. Doch in einem Detail weicht die | |
| Vorbereitung vom alltäglichen Ritual ab: S. versteckt unter seiner Kleidung | |
| mehrere Messer. Der 48-Jährige rechnet damit, dass die Polizei nach ihm | |
| sucht. Kurz nachdem er am Mittag des 11. März 2015 das Mehrfamilienhaus am | |
| Rande der oberschwäbischen Kleinstadt Memmingen verlässt, ist er tot – | |
| erschossen von einem Beamten. | |
| Ein Mann in einer psychischen Ausnahmesituation, bewaffnet mit einem | |
| Messer, erschossen in vermeintlicher Notwehr – der Fall Grigorij S. ist in | |
| vielerlei Hinsicht typisch. Und keine Seltenheit: Seit 1990 sind in | |
| Deutschland [1][mindestens 269 Menschen von Polizisten erschossen worden]. | |
| Im Jahr 2016 starben 13 Menschen auf diese Weise – so viele wie seit den | |
| neunziger Jahren nicht mehr. 2015 waren es zehn; einer davon ist Grigorij | |
| S.. Hinter seinem Tod steckt eine individuelle und tragische Geschichte. | |
| Nachgegangen wird den Hintergründen in solchen Fällen nur selten; die | |
| Frage, wie es so weit kommen konnte, bleibt oft unbeantwortet. | |
| Drei Wochen nach dem Tod sitzt Sylvia King auf ihrer Couch und scheint | |
| durch die Wand in das angrenzende Ein-Zimmer-Apartment zu schauen, in dem | |
| S. wohnte. „Sie müssen den Falschen erwischt haben“, sagt King. Ihren | |
| ehemaligen Nachbarn in der ersten Etage des Neungeschossers beschreibt sie | |
| als „freundlich“ und „ruhig“. Als Dank für entgegengenommene Pakete ha… | |
| ihr hin und wieder Pralinen oder einen selbst geangelten Fisch gebracht. | |
| Dass er wie ein Verbrecher ums Leben gekommen ist, macht sie fassungslos. | |
| S. tritt an seinem Todestag kurz vor 13 Uhr vor die Haustür – da warten | |
| bereits sechs Polizisten in Zivil. Sie wollen einen Haftbefehl | |
| vollstrecken. Als S. die Beamten bemerkt, lässt er seinen Rucksack mit dem | |
| Proviant fallen und zückt ein Taschenmesser. Klingenlänge knapp 9 | |
| Zentimeter. Die Polizisten versetzt das in höchste Alarmbereitschaft – so | |
| haben sie es in ihrer Ausbildung gelernt. | |
| Den Blick auf seine Verfolger gerichtet, versucht sich S. langsam zu | |
| entfernen. Das Messer in der Hand, läuft er rückwärts den Weg entlang, der | |
| etwa 60 Meter bis zu einer Straße führt. Drei Polizisten folgen ihm | |
| unmittelbar, zwei haben ihre Waffe gezogen. „Ich dachte zunächst, das sei | |
| ein Spiel“, sagt eine Rentnerin, die zufällig alles vom Balkon aus | |
| beobachtet. Erst als die Polizisten rufen, der Mann solle das Messer fallen | |
| lassen, wird ihr klar, dass es ernst ist. S. erreicht die Höflerstraße, | |
| eine kaum befahrene Gasse. Ab hier ist der Zeugin der Blick durch eine | |
| Tanne versperrt. Die drei Schüsse, die fallen, kann sie nur hören. Zwei | |
| treffen S. in die Brust, einer davon tödlich. | |
| [2][Wie die Mehrheit aller Erschossenen] war Grigorij S. weder mit einer | |
| Pistole bewaffnet noch mussten die Polizisten eine akute Straftat | |
| unterbinden. Typischerweise ereignen sich die meisten Fälle dieser Art im | |
| privaten Raum – und auch bei S. können keine Augenzeugen oder | |
| Videoaufnahmen dabei helfen, das Geschehen zu rekonstruieren. | |
| Bei dem Memminger Staatsanwalt Christoph Ebert laufen die Ergebnisse der | |
| Ermittlungen, die mit dem Bayerischen Landeskriminalamt eine externe | |
| Behörde übernimmt, zusammen. Der taz sagt Ebert, laut Tatortbericht und | |
| Obduktion seien die tödlichen Schüsse aus einer Distanz von nur einem Meter | |
| gefallen. Ein toxikologisches Gutachten habe bestätigt, dass die Polizisten | |
| zuerst Pfefferspray eingesetzt haben – doch davon habe sich S. nicht | |
| stoppen lassen. | |
| Der Staatsanwalt sagt, S. sei „mit kräftigen Schritten“ und nach vorne | |
| gebeugt auf den Polizisten zugegangen. Die Hand, in der er das Messer | |
| hielt, sei „wie eine Lanze nach vorn gestreckt“ gewesen, sodass der Abstand | |
| zwischen Klinge und Brustkorb des Beamten nur noch 60 Zentimeter betragen | |
| habe. Weil ein Ausweichen nicht mehr möglich gewesen sei, habe der Beamte | |
| im Zurückweichen den ersten Schuss abgegeben, ohne zu treffen. Dann schoss | |
| er zwei weitere Male auf den Brustkorb. Das Fazit des Staatsanwalts: „Ein | |
| Lehrbuchfall für Notwehrsituationen.“ | |
| Doch es bleiben Fragen: Wieso gelingt es sechs Polizisten nicht, einen mit | |
| einem Messer bewaffneten Mann zu überwältigen, ohne ihn zu erschießen? | |
| Wieso haben die Beamten nicht einen größeren Abstand zu S. gehalten? Und | |
| wieso feuert ein ausgebildeter Beamter drei Schüsse in Brust- und nicht in | |
| Beinhöhe ab? | |
| Die Antworten von Polizei und Staatsanwaltschaft bleiben unbefriedigend. | |
| Ebert spricht vom „letzten Moment“, in dem sich der Polizist vor der | |
| Entscheidung sah: „Er oder ich.“ Dass sich die Situation so gefährlich | |
| zuspitzen konnte, liegt für ihn an dem langen Zögern vor der Schussabgabe. | |
| Die Beamten hätten früher schießen dürfen. S. Gefährlichkeit ist für Ebert | |
| unzweifelhaft: Vier weitere Messer wurden an seinem Körper und in seinem | |
| Auto gefunden. | |
| Nahezu immer, wenn Beamte in Deutschland einen Menschen erschießen, | |
| [3][sprechen die Behörden von Notwehr] – schon bevor die Umstände | |
| eingehender untersucht werden. Das soll die Polizisten schützen, doch | |
| Zweifel sind angebracht. „Immer wenn jemand zu Tode kommt, ist ein Fehler | |
| gemacht worden“, [4][sagt der Polizeiwissenschaftler Thomas Feltes]. | |
| Fakt ist, Polizisten sind im Umgang mit der Waffe ungeübt, viele schießen | |
| in ihrem Dienstleben niemals auf einen Menschen. Fehler können bei der | |
| Schussabgabe passieren, häufig aber schon in den Augenblicken zuvor. Der | |
| Drang, Situationen unmittelbar lösen zu wollen, und das Ziehen der Waffe | |
| können erst die Gefahr erzeugen, in der der Schuss dann als letzte Option | |
| erscheint. So geschehen 2013, als ein Polizist zu einem verwirrten Nackten | |
| in den Berliner Neptunbrunnen stieg – und dann im Zurückweichen stolperte | |
| und schoss. | |
| [5][Der ungeübte Umgang mit psychisch Kranken] ist wohl das größte Problem. | |
| Mehr als die Hälfte der Opfer zwischen 2009 und 2017 gehört dieser Gruppe | |
| an. Oft fehlt es Polizisten an Wissen, wie Kranke auf Stressmomente | |
| reagieren und wie solche Situationen zu entschärfen sind. Bis auf wenige | |
| Ausnahmen werden Ermittlungsverfahren gegen die Schützen bald eingestellt. | |
| Gerichtsverfahren gegen Polizisten sind selten, zu Verurteilungen kommt es | |
| so gut wie nie. | |
| Zu einer der seltenen Verurteilungen kam es infolge eines Polizeieinsatzes | |
| in der Silvesternacht 2008. Im brandenburgischen Schönfließ will ein | |
| Verdächtiger mit dem Auto fliehen, als ihn Polizisten festzunehmen | |
| versuchen. Ein Polizist gibt sechs Schüsse durch die Seitenscheibe ab, um | |
| den Wagen zu stoppen. Er erhält eine Bewährungsstrafe von zwei Jahren wegen | |
| Totschlags in einem minder schweren Fall. | |
| Grigorij S. wird in den Pressemeldungen nach seinem Tod mit nur einem | |
| Attribut beschrieben: als Person, die „aufgrund diverser Konflikte mit | |
| Behörden bekannt war“. Doch das Bild ist vielschichtiger und gibt Hinweise | |
| darauf, wie es zu seinem Tod kommen konnte. | |
| 1966 in Kasachstan geboren, kommt S. in den neunziger Jahren gemeinsam mit | |
| seiner Frau als Spätaussiedler nach Deutschland. Auch die meisten seiner | |
| Nachbarn in dem Memminger Hochhaus stammen aus der ehemaligen Sowjetunion. | |
| Sie schildern ihn als eher zurückgezogenen Menschen. An Feiern der | |
| Russlanddeutschen habe er nicht teilgenommen. Der gelernte Pilot arbeitete | |
| bei Liebherr in der Endmontage von Kühlgeräten. In einem Nachruf wird er | |
| als „zuverlässiger und fleißiger Mitarbeiter“ beschrieben. | |
| ## Ein Streit ums Sorgerecht | |
| Die Tragik liegt in S.' Kampf um seinen Sohn. Die Ehe zerbricht, nach der | |
| Scheidung bleiben der Sohn und die ältere Tochter bei der Mutter. Der Junge | |
| besucht seinen Vater regelmäßig. Auf S. Profil in einem russischen sozialen | |
| Netzwerk sieht man Bilder des stolzen Vaters mit seinen fröhlichen Kindern. | |
| Auch Nachbarn beschreiben S. als fürsorglich. Eine Frau im Haus erinnert | |
| sich, wie er stets nach unten eilte, wenn der Sohn beim Spielen gestürzt | |
| war oder mit anderen Kindern in Streit geriet. | |
| Als der Junge 14 Jahre alt ist, wird S. das Sorgerecht entzogen; wieso, ist | |
| nicht mehr herauszufinden, auch weil niemand aus seiner Familie aufzufinden | |
| ist oder bereit ist, zu reden. Später gibt es Probleme zwischen dem Sohn | |
| und der Mutter, der Junge soll in eine Pflegefamilie. Als man den Jungen | |
| bei ihm abholt, rastet S. aus. So erzählen es Menschen, die ihn kennen. | |
| Wegen Beleidigung und Verleumdung wird er zu einer zwölfmonatigen | |
| Freiheitsstrafe verurteilt. Die Strafe fällt auch deshalb so hoch aus, weil | |
| S. bereits Vorstrafen hatte; für welche Vergehen, ist nicht bekannt. | |
| Doch ins Gefängnis will S. auf keinen Fall. Auf die Ladung zum Haftantritt | |
| soll er der Staatsanwaltschaft schriftlich geantwortet haben, eine | |
| Verhaftung könne zu einem Problem werden. Am Tag des tödlichen Geschehens | |
| war die Frist zum Haftantritt bereits über einen Monat verstrichen. | |
| ## Ein bekanntes Gesicht | |
| Dass der Versuch, ihn festzunehmen, derart eskalieren konnte, hat womöglich | |
| noch einen weiteren Grund. Als S. die Beamten vor seiner Haustür bemerkt, | |
| schaut er in ein ihm bekanntes Gesicht. Dieser Polizist war bereits dabei, | |
| als sein Sohn bei ihm abgeholt wurde, um ihn in die Pflegefamilie zu | |
| bringen. S. kennt ihn mit seinem Namen. Ihm wendet er sich schließlich mit | |
| seinem Messer zu. Und von ihm wird er erschossen. Der Einsatz dieses | |
| Beamten war vermutlich ein folgenschwerer Fehler. Einer, den weder Polizei | |
| noch Staatsanwalt kommentieren. | |
| Im Gespräch schildert Staatsanwalt Ebert die Bestürzung eines anderen | |
| Beamten, der bei der missglückten Verhaftung dabei war. Der Mann, ein | |
| erfahrener Polizeiausbilder, hatte ebenfalls seine Waffe auf S. gerichtet, | |
| auch er hätte schießen dürfen. „Wir haben es nicht geschafft, ihn | |
| festzunehmen“, soll er immer wieder gesagt haben. Noch am Tatort kümmert | |
| sich der Memminger Polizeihauptkommissar Rainer Fuhrmann um die Polizisten. | |
| Fuhrmann ist Leiter der sogenannten Verhandlungsgruppe, die in den | |
| siebziger Jahren für die Verhandlung mit Geiselnehmern oder | |
| Suizidgefährdeten gegründet wurde, inzwischen bietet sie aber auch bei | |
| internen Konfliktsituationen ihre Hilfe an. | |
| „Seit einigen Jahren dürfen auch Polizeibeamte Gefühle zeigen“, sagt | |
| Fuhrmann. Nach einem traumatischen Ereignis wie einer Schussabgabe oder dem | |
| Einsatz bei einem schweren Verkehrsunfall obliegt es dem | |
| Dienststellenleiter, seinen Beamten für einige Tage vom normalen Dienst | |
| abzuziehen. Normal sei, erklärt Fuhrmann, dass ein Polizist noch zwei oder | |
| drei Wochen unter seinen Eindrücken leide. Dauert es länger, empfiehlt er | |
| einen Notfallseelsorger oder den psychosozialen Dienst. | |
| ## Stress nach dem Schuss | |
| Eine Studie für die Deutsche Polizeihochschule kommt zu dem Ergebnis: Ein | |
| Drittel der Beamten zeigt nach einem Schusseinsatz nur geringfügige | |
| Stressreaktionen. Bei einem weiteren Drittel ist die Belastung größer, | |
| nimmt jedoch nach einigen Tagen oder einigen Wochen wieder ab. Ein letztes | |
| Drittel der Polizeibeamten hat dagegen über einen längeren Zeitraum mit den | |
| psychischen Folgen von Schusseinsätzen zu kämpfen. Einige finden nie mehr | |
| den Weg zurück in den Streifendienst. | |
| Wie üblich, werden auch gegen den Todesschützen im Fall Grigorij S. | |
| Ermittlungen aufgenommen. Noch am Tag des Einsatzes wird er vom | |
| Staatsanwalt befragt. Die Ermittlungen seien ein „rechtsstaatliches | |
| Grundprinzip und keine Vorverurteilung“, erklärt der Memminger | |
| Polizeihauptkommissar Fuhrmann. Dies vermittle er auch den Polizisten, denn | |
| für diese sei es durchaus problematisch, wenn nach so einem Ereignis | |
| „jemand kommt und es wagt, das Erlebte zu hinterfragen“. | |
| Für den Polizisten, der im März 2015 in Memmingen die tödlichen Schüsse auf | |
| Grigorij S. abgegeben hat, währt der Status als „Beschuldigter“ nur kurze | |
| Zeit. Die Gutachten des Landeskriminalamts stützen die Annahme der Notwehr. | |
| Nach einigen Tagen Auszeit sind der Schütze und seine Kollegen in ihrem | |
| normalen Dienst zurückgekehrt. | |
| Seit 1990 wurden mindestens 269 Menschen von Polizisten erschossen. Wie | |
| lässt sich das erklären? Das ganze Dossier von Erik Peter und Svenja | |
| Bednarczyk finden Sie unter [6][taz.de/polizeitote] | |
| 16 May 2017 | |
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| [1] https://taz.atavist.com/polizeitote#chapter-1957447 | |
| [2] https://taz.atavist.com/polizeitote#chapter-2336583 | |
| [3] https://taz.atavist.com/polizeitote#chapter-2410990 | |
| [4] https://taz.atavist.com/polizeitote#chapter-2274951 | |
| [5] https://taz.atavist.com/polizeitote#chapter-2274951 | |
| [6] /polizeitote | |
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| Erik Peter | |
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