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# taz.de -- Die EU und ihre Konkurrenz: Europäer, seid unvernünftig!
> Die Europäische Union ist eine verrückte Idee. Nun wollen ihr drei Irre,
> Putin, Erdoğan und Trump, Konkurrenz machen.
Bild: Prozesse wie die Digitalisierung sind abstrakt. Je komplexer und diffuser…
Im Jahr 2016 haben wir die Kontrolle verloren. Jedenfalls haben wir es da
bemerkt. [1][Als eine Software einen der Besten im Go-Spielen schlägt],
berichten alle Medien, obwohl Go in Europa kaum jemand kennt. Dass ein
Roboter ein Auto am Fließband zusammenschraubt, okay, aber dass er den
Menschen bei etwas schlägt, dass Kreativität verlangt, war eine deutliche
Ansage: Die Maschine kann es besser.
Das war mal ein großer Traum. In den USA, Japan, den westeuropäischen
Ländern sollten Maschinen gefährliche, langweilige Arbeit machen und
effizienter produzieren. „Ratio bedeutet Vernunft, die Rationalisierung
will also nichts anderes als die ‚vernünftige‘ Einsparung von Arbeit,
Material und Kosten“, schwärmte 1953 ein Autor der Zeit über eine „Große
Rationalisierungs-Ausstellung“ in Düsseldorf, Motto: „Alle sollen besser
leben.“ Diese Art Vernunft hat Länder wie Deutschland und Frankreich reich
gemacht und damit die Europäische Union. Diese Vernunft kapiert aber heute
kaum noch jemand.
[2][Wie die App Uber Taxifahrer ersetzt], versteht man, aber wer kann sich
vorstellen, wie ein Algorithmus, ein Roboter aus Software, an der Börse mit
Aktien handelt? 9 Prozent der Jobs in hochentwickelten Ländern können von
Maschinen gemacht werden, schätzen Forscher aus Mannheim; US-amerikanische
prophezeien, jeder Zweite könnte seine Arbeit an einen Automaten verlieren.
Wie bei Globalisierung, Finanzkrise und Bankenrettung ist das
Nichtverstehen dieser Entwicklungen ebenso Teil eines Gefühls, die
Kontrolle über das eigene Leben zu verlieren, wie die Aussicht, man könnte
zu den Verlierern dieser Entwicklung gehören. Demokratien und die von ihnen
gemachten Gesetze seien zu schwerfällig und zu langsam, um mit den
Algorithmen mitzuhalten, sagen Menschen, die solche Programme entwickeln
und verkaufen. Gut, ab und an gibt es ein Bild wie das fassungslose Gesicht
des geschlagenen Go-Spielers. Aber der Rest ist Rauschen. Irgendetwas
passiert, aber was eigentlich?
## Konkurrenz für die EU
Dafür wählen wir PolitikerInnen. Sie sollen uns das Gefühl geben, sie
hätten die Dinge halbwegs im Griff, auch die komplizierten. Im September
wählen die Deutschen. Nachdem Hunderttausende Flüchtlinge hergekommen sind,
kann eine rechte, nationalistische Partei ins Parlament einziehen. Es ist
eine Wahl, die über die Zukunft der EU bestimmt. Andere treffen diese Wahl
schon früher. Die [3][NiederländerInnen entscheiden am 15. März], [4][die
Franzosen gehen am 23. April in die erste Runde ihrer Präsidentenwahl].
Die EU war von innen für manche immer schon pfui, aber von außen sehr
attraktiv. Die meisten europäischen Länder wollten mitmachen. Doch [5][nun
geht Großbritannien]. Die EU hat Konkurrenz bekommen auf ihrem ureigenen
Feld, die komplizierte Gegenwart besser zu regeln als andere.
Ihre Wettbewerber versprechen, es sei besser, sich nur auf sich selbst zu
verlassen. Es sind die großen Übersichtlichmacher [6][Trump], [7][Putin und
Erdoğan]. Drei Männer protzen damit, die Regeln zu brechen, nach denen die
Welt bislang funktioniert. Starke Kerle wollen sie sein, die das
Undurchschaubare ordnen, indem sie klare Feinde bieten. Sie haben einer
Vernunft den Kampf angesagt, die, wenn man sie genauer anschaut, für
bestimmte Menschen tatsächlich viel vernünftiger ist als für andere.
Um beim Beispiel der Rationalisierung und ihrer Töchter Automatisierung
und Digitalisierung zu bleiben: Je höher der Bildungsgrad, desto
wahrscheinlicher gehört man zu den Gewinnern. Landstriche mit leeren
Fabriken in den USA, England, Ostdeutschland, Polen, das sind die Denkmäler
einer Vernunft, die nicht nur langweilige und gefährliche Jobs eliminiert
hat, sondern damit auch die Möglichkeit für viele Menschen, einen Platz und
eine Bedeutung in der Welt zu haben. Andere fürchten, es könnte ihnen
genauso gehen, und sie misstrauen der Vernunft, nach der ihr Leben lange
ganz gut funktioniert hat.
## Irre sind sie nur für Profiteure
Unvernunft ist immer auch der Versuch, wieder Herr der Lage zu werden,
einen Ausbruch zu wagen aus dem scheinbar Ausweglosen. Wenn es derzeit also
gilt, einen Politiker zu wählen, wen sollten die, die sich in einer für sie
destruktiven Vernunft nicht wiederfinden, anderes wählen als einen Irren?
Die Putins, Erdoğans und Trumps wirken wie Wahnsinnige, wenn sie
versprechen, kaputt zu machen, was bisher als alternativlos gilt, wenn sie
Kompliziertes in Hauptsätze zerhäckseln, wenn Trump seine Dekrete in die
Kameras hält wie ein Kind, das stolz seinen ersten Kackhaufen herzeigt.
Aber wie Irre wirken sie vor allem auf die Profiteure der bisherigen
Entwicklungen. Die Verlierer und diejenigen, die glauben, sie könnten
welche werden, sehen vielleicht eher, dass da einer etwas ordnet, notfalls
mit harter Hand.
Deshalb sind die starken Männer Projektionsflächen für Europas Autoritäre,
für Front National, deutsch-türkische Erdoğanistas, Pegida.
Natürlich findet sich in der Politik der starken Männer kein Erlass gegen
die Macht der Algorithmen. Die Politik richtet sich gegen Schwarze,
Homosexuelle, Frauen, politische Gegner. Die sind identifizierbare, leichte
Ziele.
## „Echt jetz, Europa“
Während es für die klassische Industrie und damit das traditionelle
männlich geprägte Bild vom Leben bergab ging, haben diejenigen, die wir als
Minderheiten titulieren, einen Aufstieg hingelegt. Sie haben andere Rechte
als vor 50 Jahren, bessere Jobs, mehr Geld, mehr Macht. Manche von ihnen
reden so wie die früher rein weißen Eliten. Das ist ein zeitliches
Aufeinandertreffen von Entwicklungen, kein kausales. Aber Prozesse wie die
Digitalisierung sind abstrakt. Und je komplexer und diffuser die Lage,
desto bedeutsamer wird das, was wir noch sehen können. Auf etwas Sichtbares
einzuschlagen gibt einem wenigstens das Gefühl, etwas zu kontrollieren.
Außerdem kosten rassistische und chauvinistische Ressentiments kein Geld.
Sie zu aktivieren ist für Machthaber die billigste Alternative zum
tatsächlichen Lösen eines Problems.
Die Europäische Union steht in einem Wettbewerb: Wer hat die Dinge besser
im Griff? Sie kann von ihrer Konkurrenz nichts lernen, denn die Utopien der
starken Männer schließen das offene Nebeneinander verschiedener Leben aus,
auch eine Balance von Kontrolle und Freiheit. Aber die EU und die Menschen,
die für sie streiten, müssen die Unvernunft von ihren Gegnern
zurückerobern. Der Fotograf Wolfgang Tillmans hat recht, wenn er sagt: „Man
kann das Rumspinnen nicht den Honks überlassen.“
Die EU ist das Ergebnis einer bescheuerten Idee, sie widersprach allen
historischen Erfahrungen. Krieg war der Normalzustand in Europa. Die großen
Erzfeinde Frankreich und Deutschland als Verbündete? Undenkbar! Wir
brauchen wieder die produktive Verrücktheit, aus der die EU entstanden ist,
und weniger von der destruktiven Vernunft, nach der sie gerade
funktioniert. Warum lassen wir Algorithmen nicht mal etwas Nützliches tun
und politische Probleme mit lösen? Dann wählen wir aber auch Programmierer
dieser Algorithmen wie Abgeordnete oder Verfassungsrichter. Und was ist
eigentlich dran an der Idee, Politiker auslosen zu lassen, statt sie zu
wählen?
Die Bürgerbewegung [8][Pulse of Europe] demonstriert in über 30 Städten
für die EU. Leute, die für etwas auf die Straße gehen, nicht dagegen – auch
eine irre Idee. Am letzten Sonntag standen in Berlin 3.000 Menschen auf dem
Gendarmenmarkt, doppelt so viele wie in der Woche davor. Neben sektenhaft
umflorten EU-Missionaren sprachen auch Menschen, die zum ersten Mal auf
einer Demo redeten. Einer erzählte, wie er als Kind im Zweiten Weltkrieg
durch brennende Städte floh, ein anderer rief, diese Herausforderungen
seien Europas Sternstunde. Sie redeten mit viel „äh …“ und „hm …“,…
der Menge sah man Jubel, Tränen, Begeisterung. Es hatte etwas herrlich
Handgestricktes.
Die taz wird mitmachen bei der Suche nach der produktiven Unvernunft. Sie
tut es unter dem Label „Echt jetzt, Europa“. Die Redaktion begibt sich
dafür auf die Suche nach einer europäischen Identität und denen, die dafür
streiten wollen. Wir reden mit denen, die sich in der überkommenen Vernunft
nicht wiederfinden, echte und gefühlte Abgehängte, denn ohne sie wird es
keine europäische Zukunft geben.
Um anderes zu sehen, wechseln wir die Perspektive. Die Kollegen von der
französischen Liberation übernehmen die taz am 22. April, dem Tag vor der
Wahl in Frankreich, und wir gehen dafür im September nach Paris. Beide
Redaktionen wollen gemeinsame Rechercheprojekte vereinbaren. Fehlen nur
noch Sie. Schauen Sie nach dem „Echt jetzt, Europa“-Logo in der „taz“ u…
suchen Sie mit uns zusammen nach der Zukunft.
11 Mar 2017
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## AUTOREN
Daniel Schulz
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