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# taz.de -- Essay Europas Wahlen 2017: Die Brüsseler Herausforderung
> Die Öffentlichkeit muss repolitisiert werden. Nur wer die BürgerInnen
> fragt, kann eine demokratische Antwort auf die Krise der EU finden.
Bild: Rechte Allianz von links nach rechts: Frauke Petry (DE), Marine Le Pen (F…
Am Morgen des 8. Mai könnten Rechtspopulisten in zwei Ländern, die
Gründungsmitgliedern der EU sind, an der Macht sein: Marine Le Pen mit
ihrem Front National in Frankreich und Geert Wilders mit seiner
Freiheitspartei in den Niederlanden. Den letzten Umfragen zufolge ist
dieses Szenario nicht unrealistisch. Der Brexit und die Wahl von Donald
Trump haben gezeigt: Man muss auf alles gefasst sein.
Doch gerade aufgrund der populistischen Gefahr sollten diese
Entscheidungsmomente für die Repolitisierung der Öffentlichkeit genutzt
werden – von Politikern, Medien und BürgerInnen. In einem offenen Dialog,
worin unterschiedliche Meinungen akzeptiert und ausdiskutiert werden,
können neue Visionen für die Zukunft der EU ausgearbeitet werden. Wir
sollten das Wahljahr zu einem Impulsmoment der demokratischen Mitbestimmung
machen.
Es ist manchen vielleicht noch nicht ganz klar, was mit den anstehenden
Wahlen in Frankreich und in den Niederlanden auf dem Spiel steht. Sowohl
die Zukunft der EU als auch das Bestehen unserer liberalen,
gesellschaftlich offenen Weltordnung sind gefährdet. Das macht die
anstehenden Wahlen zu außergewöhnlichen Entscheidungsmomenten, die weit
mehr sind als die regelmäßigen politischen Machtwechsel, an die man sich
gewöhnt hat.
Ein Erfolg Le Pens und Wilders’ würde sowohl den jeweiligen
innenpolitischen Status quo als auch die bisherigen Umgangsformen der
europäischen Zusammenarbeit umstürzen. Ein Wahlsieg der Rechten würde das
Ende der liberalen Demokratien in Europa und den Beginn einer neuen
populistischen Ära einläuten.
Der Befund lässt sich auch auf die globale Ebene übertragen. Nicht zu
Unrecht sprechen manche Politikbeobachter von der illiberalen Triade
Putin/Erdoğan/Trump, die einen nationalautoritären Ring um Europa zieht.
Wenn sich der Rechtspopulismus tatsächlich auch im demokratischen Kern der
EU festsetzen sollte, dann wird der linksliberale gesellschaftliche Konsens
für längere Zeit der Vergangenheit angehören.
## Eine reale Gefahr
Wer verteidigt dann aber noch die pluralistische Weltordnung, die zumindest
in Verfassungen und Verträgen, auf die man sich berufen kann,
Menschenrechte, Solidarität und Rechtsstaatlichkeit kodifiziert? Das
bestehende Werte- und Rechtssystem, das nach 1945 eingerichtet und
ausgebaut worden ist, könnte schneller zusammenbrechen, als man sich
vorstellen mag. Dem Zeitalter populistischer Autokratien stünde nichts mehr
im Weg.
Schließlich würde ein Erfolg von Populisten in Frankreich und in den
Niederlanden die Rechten in ganz Europa stärken. Es ist sehr
wahrscheinlich, dass die AfD bei den Bundestagswahlen im September die
Fünfprozenthürde knacken wird. Eine starke Allianz von Rechtspopulisten in
Europa ist eine reale Gefahr. Um ein solches Albtraumszenario zu vermeiden,
gilt es eine starke demokratische Opposition zu schaffen. Dabei kommt man
um die Frage nach den Gründen für den weltweiten Aufschwung der
Rechtspopulisten allerdings nicht herum.
Der Erfolg der Rechtspopulisten kommt trotz der historisch bekannten
Risiken und Nebenwirkungen des Phänomens wenig überraschend. Der EU geht es
schlecht. Sie hangelt sich von Krise zu Krise, in der Asyl- und
Flüchtlingspolitik, beim Brexit, in der Finanz- und Haushaltspolitik. Und
dabei ist sie mittlerweile mit einer grundsätzlichen Frage konfrontiert,
nämlich mit ihren antidemokratischen Entscheidungsprozessen, insbesondere
beim Management der Eurokrise. Die technokratische Politik der angeblichen
Alternativlosigkeit, wie sie in der Griechenlandkrise „implementiert“ wurde
und noch immer wird, ist langfristig zum Scheitern verurteilt.
Soziale Ungleichheit, Arbeitslosigkeit und das Gefühl der Machtlosigkeit
der BürgerInnen haben zu Frustration und zu Ressentiments innerhalb der
europäischen Gesellschaften und zu einem tiefgehenden Vertrauensverlust
gegenüber der EU geführt. Daran sind nicht die Populisten schuld, die die
bestehenden Missstände lediglich schamlos ausbeuten.
Deren Projekt, Probleme ab sofort wieder stramm national zu lösen, kann
trotzdem nicht aufgehen. Auf globale Entwicklungen wie Migration,
Klimawandel oder Handelsverflechtung können nationale
EntscheidungsträgerInnen weder wirksam noch angemessen reagieren. Eine
Zusammenarbeit auf EU-Ebene ist deswegen keine „nette
Freizeitbeschäftigung“, sondern notwendiger Pragmatismus.
## Impulsmoment zur Repolitisierung
Das Wahljahr 2017 könnte ein Impulsmoment zur Repolitisierung der
Öffentlichkeit auf nationaler und europäischer Ebene werden. Es sollte
aktiv genutzt werden. Dazu müssen PolitikerInnen den Anschluss an ihre
Wählerinnen und Wähler wiederfinden. Etablierte PolitikerInnen sind in der
modernen Medienwelt noch orientierungslos: CDU und SPD zusammen haben
weniger Facebook-Anhänger als die AfD. Mit Bürgerversammlungen, Dialogforen
und Onlinediskussionsformaten müssen EntscheidungsträgerInnen deshalb
dringend eine ehrliche Debatte mit Bürgerinnen und Bürgern führen, die
weder in unverständliche technokratische Rhetorik noch in populistische
Hetze mündet.
Doch um mehr demokratische Partizipation zu schaffen, müssen die Formen der
Entscheidungsfindung überdacht und reformiert werden – auf kommunaler,
regionaler, nationaler Ebene, vor allem aber auch auf der Ebene der
wirtschaftlichen Entscheidungen, die inzwischen in Brüssel getroffen
werden. Gerade in Umverteilungsfragen müssen BürgerInnen wieder mehr
Mitbestimmungsrechte erhalten – etwa in der Steuerpolitik, im
Verbraucherschutz und im Arbeitsmarkt.
Dabei geht es vor allem darum, Optionen und Handlungsspielräume präzise zu
benennen und die jeweiligen Vor- und Nachteile klar zu verdeutlichen. Es
geht also darum, nicht nur in Hinterzimmern und Lobbylounges zu
diskutieren, sondern öffentlichen Debatten wieder einen Platz in den
politischen Entscheidungsprozessen zu geben. Welche Konsequenzen eine
versagende politische Debattenkultur hat, demonstrierten zuletzt die
Briten. In der Brexit-Kampagne schossen populistische Polemiken und
haltlose Versprechungen wie modrige Pilze aus dem Boden.
Auch inhaltlich sollten wieder echte Alternativen geboten werden. Es gibt
bekanntlich unterschiedliche Ansätze: in der Sozial- und Arbeitspolitik, in
der Außen- und Sicherheitspolitik, in der Geld- und Bildungspolitik, kurzum
in allen Politikbereichen. Auch Fragen zur Orientierung und Finalität des
europäischen Projekts müssen endlich auf den Tisch kommen.
## Mangel an klaren Visionen
Augenblicklich mangelt es aber an klaren Visionen, nicht nur zu einzelnen
Politikbereichen, sondern auch zur Zukunft der EU. Kommissionspräsident
Juncker hat diesen Mangel mit seinem Weißbuch jüngst noch einmal vor Augen
geführt. Die fünf Strategien, die Juncker für die Zukunft der EU
vorschlägt, sind ausnehmend einfallslos. Nichtsdestotrotz ist sein Aufruf
an die Mitgliedstaaten, die Zukunftsfrage der EU in die Hauptstädte zu
tragen und sie dort zu diskutieren, richtig. Denn nur wer die BürgerInnen
fragt, kann eine demokratische Antwort für die EU finden.
Damit die EU nicht zu einem Phantomprojekt der Vergangenheit wird, muss
Europa wieder ins Bewusstsein aller Bürgerinnen und Bürger rücken. Das
fängt in der Schule an – im Politikunterricht kann nicht nur das politische
System auf nationaler Ebene erklärt werden, denn Nationalstaaten haben
entscheidende Souveränitätsbereiche an die EU abgegeben, so beispielsweise
in Währung- und Wirtschaftsfragen. In den „Tagesthemen“ geht es weiter:
Politische Entscheidungen in Ungarn oder Griechenland sind ebenso wichtig
wie Nachrichten aus dem Emsland. Die europäische Demokratie verlangt
aufseiten der BürgerInnen ein gewisses Grundverständnis der Abläufe in
Brüssel. Und dieses Verständnis ist Voraussetzung für einen ehrlichen
politischen Dialog.
Unsere Zukunft innerhalb der Europäischen Union muss sowohl in Medien als
auch in politischen Diskursen offen angesprochen werden und keine
Elitendiskussion bleiben. Gerade in Frankreich und in den Niederlanden ist
das Engagement der Bürgerinnen und Bürger für das Wahlergebnis
entscheidend. Ohne starke Wahlbeteiligung und ohne eine intensiv geführte
politische Debatte wird der öffentliche Raum weiter den Populisten
überlassen – mit unabsehbaren Konsequenzen für den gesamten Kontinent.
12 Mar 2017
## AUTOREN
Sophie Pornschlegel
Marcel Hadeed
Marcel Hadeed, Sophie Pornschlegel
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