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# taz.de -- Historiker über Nationalismus: „Grenzkontrollen sind vielen rech…
> In Europa gibt es ein neues Bedürfnis nach Eindeutigkeit. Das ist mit der
> Fantasie ethnischer Homogenität verbunden, sagt der Historiker Nenad
> Stefanov.
Bild: In Grenzen materialisiert sich das Bedürfnis nach Eindeutigkeit
taz: Herr Stefanov, Sie sind Koordinator des neuen Forschungszentrums
Border Crossings – Crossing Borders an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Um welche Art von Grenzen geht es?
Nenad Stefanov: Einerseits um ein sozialkonstruktivistisches Verständnis
basierend auf der Annahme, dass Grenzen gesellschaftlich produziert sind
und sich an ihnen Herrschaft verdichtet. Unsere Vorarbeiten begannen vor
zwei Jahren, als die ersten Flüchtlinge hier ankamen. Da stand plötzlich
die Frage in der Öffentlichkeit: Brauchen wir neue Grenzen in Europa? Wir
arbeiten aber auch zur Metaphorik der Grenze. Die Fragen lauten dann: Was
ist Europa? Wo hört Europa auf?
Zehntausende Flüchtlinge an der Schengengrenze. Die Balkanroute ist
geschlossen. Großbritannien verlässt die EU. Ist das ein Revival der
Grenzen in Europa?
Es gibt ein neues Bedürfnis nach Eindeutigkeit. Und die ist immer auch mit
der Fantasie einer homogenen, ethnisch-reinen Abstammungsgemeinschaft
verbunden und materialisiert sich in Grenzen. Am Brexit sieht man eins ganz
deutlich: Die Irrationalität dieser Fantasie. In England überwindet sie
sogar die instrumentelle Rationalität der Ökonomie. Dort wollen große Teile
der Gesellschaft die Grenze so sehr, dass sie auf den Freihandel
verzichten.
Den Wunsch nach ethnischer Homogenität verorten wir ja bisher eher nicht in
Westeuropa.
Als ich kürzlich über Österreich nach Deutschland fuhr, hatte ich das
Gefühl, dass vielen die Grenzkontrollen sehr recht waren. Die Fantasie
ethnischer Homogenität ist heute kein Alleinstellungsmerkmal Südosteuropas
mehr, wie man sich nach den Jugoslawienkriegen sicher war. Gerade
entwickelt sich die Politik in diese Richtung: Die Vorstellungen von
Parteien wie der AfD vom Volk als klar umrissener Abstammungsgemeinschaft
korrespondieren mit der Politik der geschlossenen Grenzen – von Österreich
über Ungarn bis zum Brexit.
Kehren also die Dämonen des Nationalismus, die Westeuropa lange auf den
Balkan projiziert hatte, zu uns zurück?
Schon in den 1990ern wurde kritisiert, dass die „Erfindung“ des Balkans als
einer Region der Gewalt und Rückständigkeit dazu dient, Distanz zu
schaffen. So war klar, dass die Kriege dort nichts mit uns hier zu tun
haben, dass die Konflikte nicht gesellschaftlich bedingt, sondern archaisch
waren. Der Schluss daraus: Wir müssen uns dazu nicht verhalten. Diese
Festsetzung des unveränderlichen Wesens einer Gruppe funktioniert aber
andersherum auch für den Balkan. Ein Beispiel ist der Film „Underground“
des Filmemachers Emir Kusturica …
… in dem Partisanen im Zweiten Weltkrieg unter die Erde gehen und erst
während des Bosnienkriegs wieder an die Oberfläche kommen …
Der Film hat die Menschen in Exjugoslawien in ihren ewigen dunklen Tunneln
der Geschichte exotisiert. Die Serben wurden als Gruppe mit gemeinsamem,
unentrinnbarem Schicksal vorgestellt und so auch von der Verantwortung für
den Krieg quasi freigesprochen.
Jugoslawien und die EU ähneln einander in ihrer Idee einer multinationalen
Gemeinschaft. Aber kann man auch die Krisensymptome vergleichen? Nach dem
Brexit wird es keine Toten geben wie 1991, als Slowenien Jugoslawien
verließ …
Großbritannien ist nicht Slowenien, und damals war Kalter Krieg. Aber in
Jugoslawien fühlten sich die Republiken voneinander ausgebeutet, ganz so
wie man es bisweilen in Europa beobachten kann. In Serbien hieß es, die
serbischen Fabriken würden demontiert und in Slowenien wieder aufgebaut; im
reichen Slowenien wollte man nicht für das arme Kosovo zahlen. Man sah es
als Fass ohne Boden.
Das erinnert daran, wie man 2010 in Westeuropa über Griechenland sprach,
oder in Großbritannien über die EU …
Die Mechanismen sind ähnlich. Die nationale Homogenität hat eine so starke
Anziehungskraft, dass sie zur vermeintlichen Alternative zu einer
sozialsolidarischen Gesellschaft werden kann. Wer eine homogene nationale
Gemeinschaft fordert, artikuliert keinen Sozialprotest. Es ist im Gegenteil
eine Absage an soziale Forderungen, dass nur übrig bleibt: Die anderen
sollen nicht mehr haben als wir.
Wo sehen Sie weitere Ähnlichkeiten zwischen Jugoslawien und Europa?
Die Politik des ehemaligen serbischen Präsidenten Slobodan Milošević
erscheint heute als Avantgarde der aktuellen Populismen. Die
Wirtschaftskrise delegitimierte in den 1980ern die jugoslawische
Einparteienherrschaft, aber während die meisten Funktionäre der Erosion
ihrer Macht zuschauten, nutzte Milošević den Unmut der „Straße“ gegen das
„Establishment“. Der serbische Autor Ivan Čolović sagte über die
Sozialproteste: „Sie kamen als Arbeiter und gingen als Serben auseinander.“
Die Unzufriedenen wollten, dass alles anders wird, aber doch irgendwie beim
Alten bleibt. Da war einfach kein Raum für Vorstellungen von einer
alternativen gesellschaftlichen Entwicklung.
Und die Lösung war der Rückzug auf die nationale Identität?
Ja. Die verstörende Heterogenität wurde rückübersetzt in die Idee, dass die
Fremdbestimmung durch Homogenität überwunden werden könne, indem Serben
wieder Serben sind. Für die Arbeiter war nach dem Zerfall des Sozialsystems
die schützende Ethnogemeinschaft plausibler als ein ungewisser sozialer
Kampf. Allerdings geschah dies unter autoritärer Herrschaft. Die
Staatspartei besetzte alle gesellschaftlichen Felder, kontrollierte die
Medien und die Polizei. Die Agenda des Volkes wurde so massiv gesetzt, dass
andere Akteure, dass eine einst demokratische Öffentlichkeit dagegen nicht
ankamen. Polemisch könnte man sagen, dass es in Serbien viel Macht
gebraucht hat, um den Populismus dominant werden zu lassen. In den USA ging
das einfacher.
Tatsächlich erinnert Miloševićs „antibürokratische Revolution“ an Trumps
Rhetorik gegen das „Establishment“.
Ja. Milošević trat in seiner Rede auf dem Amselfeld 1989 nicht als Führer
auf, sondern als Sprachrohr des serbischen Volkes – so wie Trump bei seinem
Amtsantritt betonte, dem Volk die ihm geraubte Macht zurückzugeben. Um
Milošević hat es keinen Führerkult gegeben, es gab einen Kult um das Volk.
Das Volk ist in dieser Vorstellung ursprünglich und wahrhaftig. Es braucht
nur einen Sprecher, der diese Wahrhaftigkeit verkündet. Das kennen wir von
den neuen populistischen Bewegungen.
Was bringt uns der Vergleich Europas mit Jugoslawien heute?
Er gibt uns die Möglichkeit, politische Prozesse anders als nur in
nationalen Kategorien zu deuten, auf dem Balkan und in der EU. So wird
verständlicher, dass es sich auch heute um regionale Ungleichgewichte
handelt, die innenpolitisch als Projektionsflächen genutzt werden: Mit der
Rede vom faulen Südländer etwa wird Entsolidarisierung betrieben. Durch den
Vergleich rücken die Akteure in den Blick und die Frage: Wie reagiert der
Einzelne auf eine Krise? Interessant ist, dass in Gesellschaften, die nicht
mehr von historischen sozialen Milieus geprägt sind, das Ethnische zum
Ersatz für den Anspruch auf gesellschaftliche Anerkennung wird. Wie das
ausgeht, kann man an Jugoslawien sehen.
Was genau meinen Sie damit?
Jugoslawien war eine „geniale Lösung“, weil es die Anerkennung aller Formen
von Ethnizität gewährleistet hat. Damit wurde eine Art von
Gleichberechtigung geschaffen. Doch in einem autoritären Einparteiensystem
blieb dies das einzige Ventil für Unzufriedenheit. Alle Rechte nationaler
Minderheiten waren verbrieft, nicht aber individuelle Freiheit. Politische
und soziale Konflikte wurden als ethnische Konflikte artikuliert – wie eben
in den Sozialprotesten der 1980er.
Was heißt das für uns in Europa?
Wenn wir nur auf das Ethnische schauen, vernachlässigen wir andere
Dimensionen sozialer und politischer Partizipation. Das darf nicht
passieren, denn mit dieser Verengung gehen wir in die Falle. In Jugoslawien
haben wir gesehen, wie aus Dynamiken gesellschaftlicher Abgrenzung, wie aus
Projektionen reale Grenzen wurden. Die enttäuschte Sehnsucht nach sozialer
Sicherheit hat sich in eine Sehnsucht nach einem schützenden nationalen
Kollektiv, nach Grenzen und Mauern, verkehrt. Und das passiert so ähnlich
in Westeuropa.
23 Mar 2017
## AUTOREN
Sonja Vogel
## TAGS
Nationalismus
Balkan
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