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# taz.de -- Kriegsspiele in Russland: Putins Jugend im Gleichschritt
> Vor Moskau schwören Jugendliche der „Junarmija“, einer Jugendarmee,
> feierlich ihre Treue. Sie zerlegen Kalaschnikows um die Wette.
Bild: Diese Schülerinnen nehmen an einem Bootcamp der russischen Luftwaffe in …
Moskau taz | Sergei ist aufgeregt. Der Ausbilder zeigt ihm ein letztes Mal,
wie er beim Salutieren den Arm zu halten hat. „Lass den Oberarm nicht
durchhängen“, weist er den 15-jährigen Schüler an. Dann liest Sergei noch
einmal den feierlichen Eid, den er gleich ablegen wird. Einen Eid auf die
Treue zur „Junarmija“, Russlands Jugendarmee, die Kinder vom zehnten bis
zum 18. Lebensjahr aufnimmt. Für den Schüler aus Schukowskij im Moskauer
Umland ist das ein großes Ereignis. Der Zettel mit dem Schwur, den er in
der Hand hält, ist schon ganz durchnässt.
Die Aufnahme neuer „Jungarmisten“ findet in der Sporthalle der Schule
Nummer 12 statt. Schukowskij ist das Zentrum der russischen Luft- und
Raumfahrtforschung, wo auch Testpiloten für MIG-Kampfjets ausgebildet
werden. In der Sowjetunion war die Stadt für Ausländer geschlossen, nun ist
sie offen, und sogar ausländische Zuschauer können an dem Wettbewerb
militärisch-patriotischer Jugendgruppen teilnehmen, der nach der
Vereidigung stattfindet. Dutzende patriotische Clubs aus dem Moskauer
Umland sind angereist.
Bürgermeister Andrei Woitjuk eröffnet die Veranstaltung, auch er trägt
Orden und Medaillen auf der Uniformjacke. Er mahnt die Jugend zu
unbedingter Wachsamkeit. Pathetische Andeutungen gehören zum Stil der neuen
Zeit. Woitjuk diente im Afghanistankrieg und war für die Rückführung der
„Grus 200“ zuständig, die Zinksärge der am Hindukusch Gefallenen.
Mindestens 15.000 sollen es in den 80er Jahren gewesen sein.
Endlich ist Sergei an der Reihe. Er marschiert in die Hallenmitte,
salutiert und spricht den Schwur: „Ich gelobe feierlich beim Eintritt in
die Junarmija im Angesicht meiner Kameraden …“ Durch den Saal hallt ein
dumpfes Geräusch. Sergeis Kameradin ist in Ohnmacht gefallen. Der Ausbilder
hinter ihm eilt zum Unfallort am linken Flügel. Die Schülerin wird
weggetragen.
Sergej ist nicht aufzuhalten: „… Schwache zu verteidigen und im Kampf für
Wahrheit und Gerechtigkeit alle Hemmnisse zu überwinden“, gelobt er weiter.
Wums, Aufregung und schlechte Luft werfen die nächste Soldatin um. Sergei
fährt stoisch fort. Er schafft es und erhält das begehrte rote Barrett, das
aus ihm einen Jungarmisten macht.
„Molodez!“, lobt ihn der Ausbilder, ein Pfundskerl sei er. Er hätte sich
nicht aus der Fassung bringen lassen, so wie es auch an der Front verlangt
würde. Die Instrukteure sind pensionierte Militärs, die meisten gingen
durch den Fleischwolf der letzten Tschetschenienkriege. Einige stammen aus
dem militärischen Geheimdienst GRU. Harte Jungs. Sport und Waffen sind ihre
Leidenschaft, Russland natürlich auch.
## Kopf hoch, Brust raus!
Dutzende Jugendgruppen kamen nach Schukowskij. Insgesamt sind in den
letzten Jahren in Russland mehr als 6.000 Gruppen und
militärisch-patriotische Bewegungen aus dem Boden geschossen. Der Höhepunkt
wurde nach der Annexion der Krim erreicht. Die Junarmija soll etwas Ordnung
in den Wildwuchs der nationalen Begeisterung bringen. Den Ukas, die
Verordnung dazu, unterschrieb Präsident Wladimir Putin schon im Herbst
2015. Am 29. Oktober, dem Gründungstag des kommunistischen Jugendverbandes
Komsomol.
Putins Jugend marschiert freiwillig im Gleichschritt. In der Sporthalle vom
Schießstand zum Tisch mit dem Schutz gegen chemische Kriegsführung. Sie
singen fröhlich. Engagierte Eltern rufen krummen Sprösslingen hinterher:
„Kopf hoch, Brust raus! Verdammt noch mal!“ An den Rekord beim Anlegen von
Schutzanzug und Gasmaske kommt an diesem Tag niemand heran. Die Jungs
kämpfen mit den Schlaufen, Bändern und Laschen. Bei einer Minute und 15
Sekunden liegt der Rekord.
Soldatinnen in Tarnanzügen feuern Freunde an. Vergebens, es treibe nur den
Schweiß, gesteht Maxim von der Gruppe Woin später. Woin bedeutet Krieger.
Hinter der Abkürzung Woin versteckt sich die sperrige Auflösung „Treu der
vaterländischen Geschichte des Volkes“.
„Die heimlichen Heldinnen sind die Mädchen“, sagt Maxim neidlos. Noch nie
sei beim Zerlegen und Zusammensetzen einer Kalaschnikow jemand schneller
gewesen als ein Mädchen aus seiner Gruppe. „Mädchen sind belastbarer,
ausdauernder und zäher“, flüstert Sweta. Die 15-jährige Schülerin stammt
aus Schukowskij, die Eltern sind Militärs. Sie kenne nur diese Welt, meint
sie. Die Eltern hätten nicht viel Geld.
## Stahlhelme, Messer, Minen
Sweta verbringt die Freizeit in einer Gruppe, die im ehemaligen Stalingrad
und an anderen Schauplätzen des Vaterländischen Krieges – so heißt der
Zweite Weltkrieg in Russland – nach sterblichen Überresten Gefallener
gräbt. Was sie sonst noch ausbuddeln, liegt vor den jungen Frauen auf einem
Tapeziertisch. Gewehre, Stahlhelme, Messer, Minen.
Die Gruppe betreut Alexei Sokolow, Veteran vom Bund sowjetischer Offiziere.
Ihm ist besonders an einer norwegischen Sprottendose aus
Wehrmachtsbeständen gelegen. Ein Rotarmist hatte mit einem Messer den
Deckel aufgeschnitten. Die Lasche zum Abziehen des Verschlusses war noch
unversehrt. „So etwas kannte er nicht“, lacht der Instrukteur und erzählt
von zivilisatorischer Rückständigkeit und unbezwingbaren Urgewalten, die
auf dem Reichstag endeten. Sokolow macht das stolz.
Apropos Reichstag: Wird er mit seinen Anvertrauten im Militärfreizeitpark
Patriot nahe Moskau in dem geplanten Nachbau des Reichstags den Häuserkampf
trainieren? Die Frage ist ihm unangenehm. Lassen wir das lieber, sagt er
freundlich.
Die Wettbewerbsteilnehmer wirken hochmotiviert, ihre Augen leuchten. Was
sie hier tun, sei nicht umsonst. Vielmehr eine Vorstufe zu einem „Podwig“ �…
einer Heldentat, meint jemand aus dem Off.
## Bereit zum Kampf
Neben Körperertüchtigung und Wehrkunde gehören Geschichte und
Militärtheorie zum Programm. „Wenn die jungen Leute politische Fragen
stellen, beantworten wir auch die“, sagt Iwan Warabjow. „Wir möchten aber,
dass sie sich eine eigene Meinung bilden“, sagt der Instrukteur. „Wenn sie
etwas nicht richtig verstehen, erklären wir ihnen die Hintergründe noch
mal.“
Ilja Drobyschew ist besonders engagiert. „Pot ekonomit krow“, steht schwarz
auf weiß auf seinem T-Shirt. „Schweiß erspart Blut“ auf Deutsch. „Wenn …
Kriegsfall eintritt, stehen wir in der ersten Reihe und wehren den Schlag
ab“, sagt er. Sein Gesicht verhärtet sich. Was meint er damit? „Krieg gegen
die Ukraine! Ich bin bereit, dort zu kämpfen“, sagt er, während er sich für
einen Lauf im Freien in Montur wirft: schusssichere Weste, Stahlhelm und
Kalaschnikow.
Im Parcours muss eine Rauchwand überwunden werden, Verletzte sollen
abtransportiert werden. „Wie viele unserer Soldaten sind in der Ukraine
schon gefallen“, sagt Dobryschew aufgebracht. Vielleicht haben die
Ausbilder ihnen doch etwas mehr erzählt.
Bürgermeister Alexei Woitjuk nimmt kein Blatt vor den Mund: „Wir wissen, wo
die Feinde sitzen, warum sollen wir sie nicht beim Namen nennen?“ Die USA,
der Westen und die Ukraine sind gemeint. Auch Sweta ist überzeugt, Kiew
hätte den Donbass überfallen und bedrohe jetzt Russland. Und für den
17-jährigen Agwan steht fest: „Wir müssen auf alles vorbereitet sein,
Russland darf dies aber nicht nach außen zeigen.“ Agwan wird nach dem
Abitur im Sommer an einer Militärhochschule studieren.
Erst seit Kurzem sind Studienplätze an militärischen Lehrstühlen wieder
heiß begehrt. Inzwischen kommen sechs Bewerber auf einen Studienplatz. In
Rostow am Don werden bereits im Kindergarten Paraden für kleine
Vaterlandsverteidiger veranstaltet. Die Militarisierung der Gesellschaft
ist weit fortgeschritten. „Das ist ein Verbrechen an den Rechten der
Kinder“, sagt Walentina Melnikowa. Seit 1989 leitet sie das Komitee der
Soldatenmütter, das Rekruten gegen die Willkür in der Armee verteidigt.
„Ich hätte nicht gedacht, dass ich das zu meinen Lebzeiten noch einmal
erleben würde“, meint ein älter Mann vor der Halle in Schukowskij im
Vorbeigehen.
17 Mar 2017
## AUTOREN
Klaus-Helge Donath
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Russland
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