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# taz.de -- Folgen der Aushöhlung des Asylrechts: „Wann holst du uns hier ra…
> 2015 bekamen fast alle geflüchteten Syrer Asyl. Jetzt erhalten sie oft
> nur „subsidiären Schutz“. Es geht um zerrissene Familien.
Bild: Von Schuldgefühlen geplagt: Mostafa Abo Nokta in Bottrop
Bottrop/Zaatari taz | Mostafa Abo Nokta ist fett geworden in Deutschland.
In der Pfanne vor ihm fünf Spiegeleier, daneben Pommes, Weißbrot, ein
Schälchen Humus. Essen, das für eine ganze Familie reichen würde. Und er,
der 35-jährige Syrer, sitzt da allein und wartet. Aber da kommt niemand.
Niemand, der sich zu ihm setzt an den gedeckten Plastiktisch in seiner
Wohnung in Bottrop. Nur Mostafa, das Essen, sein Telefon.
Mostafa zuckt zusammen, wenn der WhatsApp-Rufton im Handy pfeift. Wenn das
grüne Symbol erscheint: Neue Nachricht von Amani. Amani, das ist Abo Noktas
Frau, die Mutter seiner Kinder; inzwischen sind es vier. Sie und die Kinder
sitzen fest in Zaatari, in Jordanien, dem mit 80.000 Einwohnern größten
Flüchtlingscamp im Nahen Osten. 3.500 Kilometer entfernt von Bottrop, von
Mostafa Abo Nokta. Seine Frau schreibt Mitteilungen wie: „Die Kinder
vermissen dich sehr, wie geht es dir?“ oder „Wie lange sollen wir noch
warten, wann holst du uns hier raus? Wann endlich?“
Mostafa Abo Nokta legt dann das Handy beiseite und spachtelt noch schneller
in sich hinein. Was soll er auch antworten? „Ich hatte Hunger und hab mir
ein paar Eier gebraten? Von 9 bis 13 Uhr saß ich im Deutschkurs. Und wie
ich euch da rausholen kann, davon hab'ich echt keinen Plan.“ Soll er das
vielleicht schreiben?
„Ich bereue es, dass ich meine Familie verlassen habe. Ich fühle mich
schuldig“, sagt Mostafa. Dreizehn Monate ist es her, seit er auf den
Pick-up gesprungen ist, der ihn zum jordanischen Flughafen gebracht hat.
„Wir sehen uns bald!“, hatte er seinem Sohn noch zugerufen. Bald. Ein
Monat, vielleicht zwei hatte er sich gedacht. Dass seine Tochter in
Deutschland zur Welt kommen würde und nicht in einem staubigen Feldspital,
da war er sich sicher. Inzwischen ist Sara acht Monate alt und hat ihren
Vater noch nie gesehen.
## Die Kehrtwende
In Deutschland hatte Mostafa Abo Nokta sich das so vorgestellt: Asylantrag,
Asylbescheid, dann die Familie nachholen. Das war damals keine Illusion,
das war die Realität. In fast hundert Prozent der Fälle wurde Syrern der
volle Schutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention zugesprochen,
Familiennachzug inklusive. Das Bamf, das Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge, hatte bei Syrern die individuelle Prüfung aus- und stattdessen
ein beschleunigtes Schriftverfahren eingesetzt. Begründung:
Syrien-Rückkehrer müssen mit individueller Verfolgung durch das
Assad-Regime rechnen. Das war 2015.
Als Abo Nokta seinen ganz persönlichen Brief vom Bamf bekommt, muss er sich
übergeben. Wortwörtlich. Es ist der 28. Juni 2016, darin steht: „Der
subsidiäre Schutzstatus wird zuerkannt. Im Übrigen wird der Asylantrag
abgelehnt.“
Konkret heißt das: Du darfst bleiben, Mostafa. Deine Familie bleibt, wo sie
ist. „Dabei bin ich doch für meine Kinder geflohen“, sagt Mostafa.
„Ich war zu spät dran“, konstatiert er heute. Sein Cousin Hamza, der mit
ihm Zaatari am selben Tag verließ, mit ihm am selben Tag in Bottrop
eintraf, hatte sein Asylinterview bereits im Februar – und bekam Asyl.
Hamza fährt heute mit seinen Kindern im Bottroper Movie Park Achterbahn,
während Mostafa Abo Nokta frustriert Essen in sich hineinschaufelt.
## Von 98,5 auf 30 Prozent gesunken
Was ist dazwischengekommen? Zweierlei: Anfang 2016 führte Deutschland die
individuelle Prüfung für Syrer wieder ein, auch das persönliche Interview.
Außerdem verabschiedete die Bundesregierung im Februar das Asylpaket II.
Darin ist festgeschrieben, dass der Familiennachzug für subsidiär
Schutzberechtigte von März an für zwei Jahre ausgesetzt wird. Seit jenem
Monat sinkt die Anzahl der positiven Asylbescheide: In den ersten zwei
Monaten des Jahres hatten noch 98,5 Prozent der syrischen Antragsteller
Asyl erhalten, im Juni nur noch 52,6 Prozent – inzwischen hat sich die Zahl
bei 30 Prozent eingependelt.
Für die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl ist es kein Zufall, dass dieser
Rückgang ausgerechnet mit dem Aussetzen des Familiennachzugs zusammenfällt.
„Den Syrern soll das Leben in Deutschland möglichst unattraktiv gemacht
werden“, sagt Geschäftsführer Günter Burkhardt. „Das ist die Kehrtwende …
der Flüchtlingspolitik und ein Zugeständnis der Politik an
Rechtspopulisten.“
Zwar will kein Mitarbeiter des Bamf am Telefon Stellung zu diesen Vorwürfen
nehmen, sondern man verweist in einer E-Mail darauf, bei den persönlichen
Anhörungen beobachtet zu haben, dass bei Syrern „vermehrt ein
Bürgerkriegsschicksal, aber kein individuelles Verfolgungsschicksal
vorliegt“.
## Was soll man schreiben?
Mostafa Abo Nokta fährt mit dem Zeigefinger über die Zeilen auf seinem
Fragebogen. Langsam, in holprigem Deutsch liest er die Frage vor, von der
er glaubt, dass sie ihm zum Verhängnis geworden ist:
„Waren sie selbst Augenzeuge, Opfer oder Täter von begangenem Völkermord,
Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit; Übergriffen
(Folter, Vergewaltigungen oder anderen Misshandlungen) von kämpfenden
Einheiten auf die Zivilbevölkerung; Hinrichtungen bzw. Massengräbern oder
Einsätzen von Chemiewaffen? Wann, wo und wie wurden diese Taten begangen
und gibt es Personen, die das bestätigen können? Können sie Täter benennen,
wo sind diese aufhältig und kennen Sie die Namen?“
Ja, er war dabei. Als in Daraa, Südsyrien, die ersten Demonstranten vom
Militär erschossen wurden. Als Assads Leute sein Dorf stürmten, Einwohner
erschossen. Vor wenigen Wochen wurde Mostafas Cousin im seinem Heimatdorf
von einer Rakete zerfetzt; ein Bekannter hat ihm das Video geschickt. Und
ja, die Daten benennen kann Mostafa Abo Nokta auch. Und trotzdem steht im
Bamf-Fragebogen nur ein Wort: „Nein.“
„Wie kann man so eine Frage mit Ja oder Nein beantworten?“, fragt Mostafa
Abo Nokta. „Weil ich den Schützen nicht kenne, der auf uns beim
Demonstrieren geschossen hat? Weil ich den Piloten des russischen Kampfjets
nicht beim Namen nennen kann, der meinen Cousin ermordet hat?“
## 500 Dollar umsonst
Spätsommer 2016. Im Zaatari-Camp in Jordanien ist es kurz nach Mittag, die
Temperatur liegt bei knapp 50 Grad. Amani Nokta, Mostafas Frau, steht in
einem Pulk Menschen vor der Polizeistation. 80, vielleicht 100 Leute warten
alle auf eins: eine Ausreisegenehmigung, die man braucht, wenn man das Camp
für nur wenige Stunden verlassen will.
Damals hatte Amani noch Hoffnung. 500 Dollar hatte Mostafa für dieses
letzte bisschen Hoffnung an ein Konto in Syrien überwiesen. 500 Dollar –
der Schwarzmarktpreis für einen Termin in der deutschen Botschaft in Amman.
Der Sprecher des Auswärtigen Amtes sagte dazu im September, er möchte
„Vorwürfe in aller Form zurückweisen“, wonach es „illegalen Handel mit
Terminen in den Visastellen deutscher Botschaften gegeben haben soll“.
Und doch sind es 500 Dollar, die jetzt auf Mostafas Konto fehlen. Ein
Einkommen hat die Familie nicht. Nicht mehr. Als Mostafa noch in Zaatari
gelebt hatte, arbeitete Amani als Englischlehrerin im Camp. Mostafa war
Grundschullehrer, erzählt sie. Gleichzeitig hat er für eine amerikanische
Organisation, die den umkämpften Süden Syriens mit Lebensmitteln versorgt,
als Vermittler gearbeitet. Legal war das nicht.
„Es war besser für ihn zu gehen. Hier wurde es zu gefährlich“, sagt Amani
Nokta. Sie ist nicht wütend auf ihren Mann, sie ist wütend auf die Politik.
Die in Syrien, die in Jordanien, die deutsche. Die sie vergessen hat im
Wohncontainer in der jordanischen Wüste. Sie und die vier Kinder. Hamode,
Hanna, Mumin. Zehn, acht, sechs Jahre alt und Sara, das Baby.
## Wer ist schuld?
Es ist schon Herbst in Bottrop, gebückt schlurft Mostafa durch die
Bottroper Fußgängerzone. Da sind Männer und Frauen, die Händchen halten.
Manche schieben Kinderwagen vor sich her. „Was denken die Deutschen von
mir?“, fragt er. „Dass ich ein schlechter Vater bin, weil ich meine Familie
zurückgelassen habe und mir hier ein schönes Leben mache?“ Immer wieder
liest Abo Nokta solche Kommentare im Internet.
„Hast du die Bilder gesehen von dem Lastwagen in Österreich im letzten
Jahr? Die Menschen, die in den Schlauchbooten untergehen?“, fragt er
bitter. „Ist es falsch, wenn ich nicht will, dass meine Kinder da
durchmüssen?“ Den Syrer beschäftigt die Frage: Wer ist schuld, dass meine
Familie leidet, während ich in Bottrop Deutsch lernen soll? Ich oder die
Politik?
Abo Nokta hat inzwischen gegen sein Urteil geklagt. Auf den vollen
Asylstatus nach der Genfer Flüchtlingskonvention. Erst wenn er den hat,
kann seine Frau einen Antrag auf Familiennachzug stellen, so hatte man sie
bei der deutschen Botschaft in Amman im Sommer abgewiesen.
## Klage gegen das Bamf-Urteil
Mit seiner Klage ist Mostafa Abo Nokta nicht allein: Bis Mitte Oktober
haben 18.666 Syrer gegen die Entscheidung für subsidiären Schutz Klage
eingereicht. In 80 Prozent der bislang verhandelten Fälle erhielten die
Kläger einen höheren Schutzstatus zugesprochen. Das Bamf wiederum geht mit
einer massiven Welle von Berufungsverfahren dagegen vor.
Eine Frage bleibt: Wieso kehrt Mostafa Abo Nokta nicht zurück, wenn er
seine Familie tatsächlich so vermisst? Wieso setzt er sich nicht in den
Flieger nach Jordanien, es gibt One-Way-Tickets von Frankfurt nach Amman
für 200 Euro? Er überlegt, starrt auf das erkaltete Bratfett in seiner
Pfanne, als würde er darin die Antwort suchen. „Als ich ausgereist bin,
habe ich in Jordanien ein Dokument unterschrieben, dass ich nicht mehr
zurückkomme“, sagt er leise. „Wenn doch, werde ich nach Syrien
abgeschoben.“
30 Nov 2016
## AUTOREN
Bartholomäus von Laffert
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Asylrecht
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