# taz.de -- SPD und Grüne vor der Bundestagswahl: Die Abgekanzelten | |
> Angela Merkel gilt auch unter vielen SPD- und Grünen-Fans als liberal und | |
> weltoffen. Das könnte für Rot-Grün zum Problem werden. | |
Bild: SPD in der Klemme: Wer will gegen Merkel verlieren? | |
BERLIN taz | Es werde ja niemanden überraschen, sagt Katarina Barley im | |
Foyer des Willy-Brandt-Hauses, wenn sie ein paar Worte über Merkel | |
verliere. Eigentlich will die SPD-Generalsekretärin über Wichtigeres reden | |
als über die erneute Kandidatur der Kanzlerin. Links neben ihr im Foyer des | |
Willy-Brandt-Hauses steht am Montagnachmittag Familienministerin Manuela | |
Schwesig, rechts Fraktionschef Thomas Oppermann; große Besetzung für ein | |
kunterbuntes SPD-Impulspapier, 20 Thesen für eine bessere Zukunft | |
Deutschlands. | |
Merkels Auftritt sei „kraftlos“ gewesen. Barley muss das jetzt noch | |
loswerden. Nach fast zwölf Jahren im Kanzleramt sei die Luft offensichtlich | |
raus. Schwesig schiebt wenig später nach: „Merkel hat ihre Verdienste. Aber | |
sie steht nicht mehr für die Zukunft.“ Barley, die Ministerin und der | |
Fraktionschef schauen ernst. Die SPD, soll das heißen, kann es besser. | |
Kraftlos, angeschlagen, der Mythos der Unbesiegbarkeit sei weg: Führende | |
Sozialdemokraten geben sich betont selbstbewusst, wenn es um Merkels | |
Wiederantritt geht. Doch hinter der gespielten Coolness stellen sich SPDler | |
bange Fragen. Merkel, das schwant manchem Strategen, dürfte 2017 Wähler | |
locken, die SPD und Grüne bisher sicher bei sich glaubten. Schließlich hat | |
sie den Flüchtlingszuzug des vergangenen Jahres so liberal und empathisch | |
gemanagt, dass ihr die Herzen der Linksliberalen nur so zuflogen. SPD und | |
Grüne stellten sich auf diesem zentralen Politikfeld hinter sie, wie schon | |
in der Europapolitik. | |
Was zu der Frage führt: Wie grenzt sich die Konkurrenz links der Mitte von | |
einer CDU-Kanzlerin ab, die in rot-grünen Milieus beliebt ist wie nie? | |
Ein paar Minuten später, als die Journalisten im Willy-Brandt-Haus fragen | |
dürfen, muss sich Barley dafür rechtfertigen, warum die SPD jetzt nicht | |
sofort ihren eigenen Kanzlerkandidaten benenne, statt – wie geplant – bis | |
Januar zu warten. Abgesehen davon, dass dies allein schon deshalb nicht | |
infrage kommt, weil die SPD nicht getrieben wirken will, gibt es handfeste | |
Probleme. | |
SPD-Chef Sigmar Gabriel zögert offenbar noch, ob er die Last der Kandidatur | |
auf sich nehmen soll. Er weiß, wie bescheiden seine Popularitätswerte im | |
direkten Vergleich sind. Erst am Wochenende veröffentlichte die Bild am | |
Sonntag neue Zahlen: Bei einer Direktwahl läge Amtsinhaberin Merkel mit 51 | |
zu 21 Prozent gegen ihn vorne. Selbst 54 Prozent der SPD-Anhänger sind für | |
Merkel. Das sind Tiefschläge für Gabriel, der in dunklen Momenten zu | |
Selbstzweifeln neigt. | |
Bei den Sozis kursieren intern seit Langem Witze darüber, dass Merkel die | |
beliebteste sozialdemokratische Kanzlerin seit Willy Brandt sei. Das | |
Phänomen ist dabei keineswegs neu: Schon 2009 und 2013 bissen sich | |
SPD-Kandidaten an Merkel die Zähne aus. Sie düpierte erst Frank-Walter | |
Steinmeier, der mit 23 Prozent das schlechteste Ergebnis der Nachkriegszeit | |
einfuhr. Peer Steinbrück erging es vier Jahre später nicht viel besser. | |
Ausgerechnet Gabriel, an dem das Image des Sprunghaften klebt, soll Merkel | |
knacken? | |
Merkel wurde durch ihre Flüchtlingspolitik des vergangenen Jahres zu einer | |
Hassfigur für Rechtspopulisten und viele CSU-Anhänger – und auch in ihrer | |
eigenen Partei gibt es ernst zu nehmende Irritationen. Die Ironie dabei | |
ist, dass sie in rot-grünen Milieus genau davon profitieren könnte. „Merkel | |
ist in grünen Milieus durchaus populär“, sagt auch | |
Grünen-Bundesgeschäftsführer Michael Kellner, der den Wahlkampf der | |
Ökopartei organisiert. 71 Prozent der Grünen-Anhänger sind laut | |
Deutschlandtrend von infratest dimap „zufrieden“ oder „sehr zufrieden“ … | |
Merkels Arbeit. Und immerhin 49 Prozent der SPD-Anhänger. | |
## Gegen den knorrigen Schäuble das bessere Blatt | |
Mehr Differenz zum CDU-Kanzlerkandidaten, da sind sich SPDler und Grüne | |
einig, wäre hilfreich. Hätte Merkel etwa wider Erwarten einen Rückzug | |
gemacht und wäre der knorrige Schäuble angetreten, hätten die Parteien | |
links der Mitte jetzt das bessere Blatt. | |
Programmatisch wendet sich die CDU im Moment genau jenen zu, die auch die | |
Sozialdemokraten ansprechen wollen. Ein Entwurf des Leitantrags für den | |
Parteitag in Essen sprach zunächst ausdrücklich von Menschen, „die sich als | |
Modernisierungsverlierer sehen“ und bei Populisten von rechts und links | |
Zuflucht suchen. Das plakative Wort „Modernisierungsverlierer“ wurde zwar | |
in der Endfassung gestrichen – doch die Botschaft bleibt. | |
Die CDU verspricht Familien und Bürgern mit kleinen und mittleren Einkommen | |
Steuersenkungen, und sie will das Ehegattensplitting durch ein | |
Familiensplitting ergänzen, das Eltern zugutekäme. Außerdem soll ein Teil | |
der erwarteten Mehreinnahmen des Staats in die Infrastruktur fließen, also | |
in Straßen, Brücken, Schulen oder Kitas. Auch wenn die Steuerentlastung | |
gering ausfallen wird, weil eine starke Gegenfinanzierung fehlt: Die CDU | |
wirbt 2017 im Kern mit sozialdemokratisch angehauchten Botschaften. | |
Und Merkel, die bei ihrem offiziellen Auftritt am Sonntagabend im | |
Kanzleramt munter und durchaus kampfeslustig wirkte, versprach danach in | |
der Fernsehsendung „Anne Will“, „mit einer Politik von Maß und Mitte Halt | |
und Orientierung zu geben“. Die CDU müsse neue und konkrete Antworten auf | |
Sorgen der Bürger geben, etwa bei der Altersarmut. | |
## Arbeiter wählen zunehmend Rechtspopulisten | |
Spätestens jetzt erscheint ein Szenario denkbar, über das Sozialdemokraten | |
am liebsten schweigen. Die SPD könnte zwischen einer als liberal geltenden | |
Merkel und der AfD aufgerieben werden. Mit Sorge beobachten führende | |
Sozialdemokraten, dass Arbeiter, also ehemals klassische SPD-Wähler, | |
zunehmend ihr Kreuz bei den Rechtspopulisten machen. Diese Abwanderung ließ | |
sich bei Landtagswahlen wie denen in Baden-Württemberg, Sachsen-Anhalt oder | |
Mecklenburg-Vorpommern beobachten, im Bund droht eine Wiederholung im | |
großen Stil. | |
Für das linksliberale Bürgertum wiederum wird sich die Frage stellen, wem | |
es mehr vertraut. Merkel – oder dem SPD-Kandidaten. Wenn Gabriel den Job | |
nicht selbst übernimmt, wäre noch EU-Parlamentspräsident Martin Schulz im | |
Gespräch. Schulz, ein jovialer Rheinländer, ist ein begabter Wahlkämpfer | |
und guter Rhetoriker, der Menschen packen kann. Aber die Winkelzüge der | |
Innenpolitik sind für ihn Neuland. Wenn er Kanzlerkandidat würde, hätte die | |
SPD andere Probleme als mit Gabriel – aber nicht unbedingt kleinere. | |
Gabriel setzt seit einiger Zeit auf eine Schärfung des klassischen | |
SPD-Profils. Die Partei, so sein Mantra, müsse sich um den Alltag der | |
kleinen Leute kümmern. Im linken SPD-Flügel wächst angesichts des | |
Wettbewerbs mit Merkel das Bedürfnis nach klarer Kante. „Es kommt nun auf | |
kraftvolle Antworten der SPD an“, sagt Juso-Chefin Johanna Uekermann. Sie | |
zählt auf: Ihre Partei müsse sagen, wie sie die Menschen zusammenführen | |
wolle, wie sie die Schere zwischen Arm und Reich schließen könne und | |
Frieden und Freiheit sichern in Deutschland und Europa. | |
Doch ein zugkräftiges Thema wie der Mindestlohn, mit dem die SPD im | |
Wahlkampf 2013 warb, ist bisher nicht in Sicht. Und ob eine | |
Bürgerversicherung, also eine große Gesundheitsreform, einen ähnlich großen | |
Symbolwert hat? | |
## Grüne wollen Merkel attackieren | |
Die Grünen von heute haben nur noch wenig Berührungsängste in Sachen | |
Merkel. Sie stützten ihren Kurs ebenfalls in zentralen Feldern, etwa in der | |
Europa- und der Flüchtlingspolitik. Und sie haben sich bekanntlich 2013 | |
eine blutige Nase geholt, als sie sich scharf von der populären Kanzlerin | |
absetzten – und auf eine chancenlose Rot-Grün-Option setzten. „Wir werden | |
im Wahlkampf Merkels Doppelzüngigkeit offenlegen“, sagt | |
Bundesgeschäftsführer Kellner. Sie gelte als Flüchtlingskanzlerin. „Aber | |
wie ihre Koalition den Familiennachzug unterbunden hat, ist skandalös.“ | |
Dass Grünen-Wähler 2017 zur Merkel-CDU abwandern, glaubt er nicht – dafür | |
gebe es zu große programmatische Unterschiede, etwa beim Klimaschutz. Dass | |
könnte zutreffen. | |
Aber was passiert, wenn die AfD weiter zulegt? Merkel, davon ist | |
auszugehen, wird von den Rechtspopulisten scharf attackiert werden. Ihre | |
Person könnte zur Wasserscheide werden, hier die Demokraten, dort das | |
rechtspopulistische Chaos. Je nach Umfragelage dürften sich dann auch | |
Grünen-Wähler überlegen, auf welcher Seite sie stehen. Winfried | |
Kretschmann, der starke Grüne aus Baden-Württemberg, der während der | |
Flüchtlingskrise für Merkel betete, betont gerne, dass der „Konsens ein | |
Wert an sich“ sei. | |
SPD und Grüne könnten 2017 zu spüren bekommen, wie sehr ihnen diese | |
Weisheit schaden kann. | |
21 Nov 2016 | |
## AUTOREN | |
Ulrich Schulte | |
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