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# taz.de -- Rot-Rot-Grün im Trialog: „Ihr seid ja alle Sozialdemokraten!“
> Sahra Wagenknecht, Katarina Barley und Cem Özdemir sprechen gemeinsam
> über rote Linien – und die Chancen auf Rot-Rot-Grün auf einer Skala von 1
> bis 10.
Bild: Selbst die Bio-Limonade ist rot, rot und grün: Sahra Wagenknecht, Katari…
taz: Frau Wagenknecht, Frau Barley, Herr Özdemir, zu Beginn eine
Schätzfrage: Für wie wahrscheinlich halten Sie Rot-Rot-Grün 2017 auf einer
Skala von 1 – „minimale Chance“ – bis 10 – „so gut wie sicher“?
Sahra Wagenknecht: 3 bis 4, wenn ich sehr optimistisch bin.
Katarina Barley: Es hängt ja nicht nur von uns dreien ab. Eine 4.
Wagen Sie die 5, Herr Özdemir?
Cem Özdemir: Die Wahrscheinlichkeit hängt von so vielen Faktoren ab, dass
sie sich nicht in ein solches Zahlenkorsett pressen lassen. Aber gut: Ich
bleibe bei Frau Barley, eine 4.
Was wäre der inhaltliche Kern eines Linksbündnisses?
Barley: Wir alle wollen soziale Gerechtigkeit in diesem Land. Dieses
Interesse eint uns, auch wenn wir uns in manchen Punkten unterscheiden.
Wagenknecht: Rot-Rot-Grün müsste einen echten sozialen Aufbruch verkörpern.
Menschen, die sich seit Jahren im Stich gelassen fühlen, müssen spüren, ihr
Leben wird endlich wieder besser und sicherer.
Özdemir: Die Zeit von Koalitionen als Projekt ist vorbei. Koalitionen
ergeben sich aufgrund von Wahlergebnissen. Die führenden Personen sollten
sich in die Augen schauen und sagen können: Das können wir vier Jahre lang
uns und dem Land zumuten. Für mich wären bei Rot-Rot-Grün die ökologische
Modernisierung entscheidend, der gesellschaftliche Zusammenhalt und die
Weltoffenheit Deutschlands. Ich finde aber wichtig, nicht nur über das
Gemeinsame zu reden. Wir sollten auch die Fallstricke benennen …
Die Harmonie ging ja schnell zu Ende. Die Haltung zur EU ist eine
Bruchstelle für ein Linksbündnis, oder?
Özdemir: Für mich ist das das entscheidende Thema, das alle anderen
überlagert: Wie steht die Linkspartei zu Europa? Nicht zu einem imaginären,
noch zu bauenden Europa – sondern zur real existierenden EU? Für mich ist
klar: Wer diese EU abreißen und komplett neu bauen will, erteilt Europa
eine Absage.
Frau Wagenknecht, wollen Sie das jetzige Europa zerstören?
Wagenknecht: Ich will gute europäische Zusammenarbeit. Die heutige EU
zerstört Europa, denn sie macht die Le Pens stark. Deutschland exportiert
mit seinen permanenten Handelsbilanzüberschüssen Arbeitslosigkeit.
Gleichzeitig wandert die gebildete junge Generation aus Südeuropa aus. So
kommen diese Länder nie wieder auf die Beine. Die Aussage „Wer Europa will,
muss ‚Weiter so‘ sagen“ ist grundfalsch.
Özdemir: Natürlich soll nicht alles bleiben, wie es ist. In Griechenland
gab es einen immensen Reform- und Investitionsbedarf. Daher war es ein
Fehler, in der Finanzkrise ausschließlich aufs Sparen zu setzen.
Barley: Dass die EU reformbedürftig ist, bezweifelt keiner. Im Gegensatz zu
Ihnen, Frau Wagenknecht, sage ich aber: Die EU, so wie wir sie kennen, ist
ein historisches, friedensstiftendes Projekt, das wir nicht gefährden
dürfen. Ich wohne im Dreiländereck bei Trier. Die Großeltern der Menschen,
die dort leben, haben gegeneinander Krieg geführt. Das dürfen wir nie
vergessen.
Scheitert der Euro, scheitert Europa, sagt Angela Merkel. Der
Nobelpreisträger Joseph Stiglitz sagt: Der Euro war ein Mittel zum Zweck,
nämlich für ein prosperierendes Europa. Wenn er das Gegenteil bewirkt, muss
er weg. Wer hat recht?
Wagenknecht: Aktuell spaltet der Euro Europa, er verschärft
Ungleichgewichte. Für manche Länder ist er zu hart, für andere zu weich.
Eine gemeinsame Währung funktioniert eben nicht, wenn Volkswirtschaften
sich sehr unterschiedlich entwickeln, vor allem die Löhne. Deshalb sollte
die EU ein Währungssystem schaffen, in dem die Spekulation ausgebremst
wird, es aber wieder Auf- und Abwertungen gibt.
Sie wollen also die Rückkehr zu mehreren Währungen in der Eurozone?
Wagenknecht: Das wäre sinnvoll. Vor dem Euro gab es ein Europäisches
Währungssystem, das nur den Fehler hatte, dass die Bundesbank alles steuern
konnte. Deshalb ist eine Europäische Zentralbank, bei der alle Länder
Mitsprache haben, wichtig.
Özdemir: Das Ende des Euro wäre der Anfang vom Niedergang der EU. Es ist
doch absurd, wenn progressive Parteien oder solche, die sich dafür halten,
in das antieuropäische Horn der ganz Rechten tröten.
Barley: Keine Frage, wir brauchen ein sozialeres Europa. Ich halte zum
Beispiel europäisch organisierte Sozialversicherungen für denkbar. Aber die
Fantasie, man male sich die ideale EU und dann werde alles gut, halte ich
für Unfug. In Wirklichkeit geht es um einen zähen Prozess, das Bestehende
in kleinen Schritten zum Guten zu verändern.
Dass der Euro ohne gemeinsame Sozialpolitik Ungleichheiten verschärft, ist
doch nicht von der Hand zu weisen.
Barley: Die südeuropäischen Länder waren auch in keinem guten Zustand, als
sie noch eine eigene Währung hatten.
Wagenknecht: Natürlich war Südeuropa früher nicht die Insel der Seligen.
Aber die ökonomische Entwicklung war eindeutig besser. Italien hat allein
seit 2008 ein Viertel seiner Industrie verloren. Das kann nicht so
weitergehen. Ich wohne an der Grenze zu Frankreich. Dort beträgt der
Mindestlohn 9,67 Euro. Wie sollen französische Landwirte konkurrenzfähig
sein, wenn der Mindestlohn zwei Kilometer weiter bei 8,50 Euro liegt?
Wäre das was für Rot-Rot-Grün – ein Mindestlohn auf derselben Höhe wie in
Frankreich?
Özdemir: Ich rate davon ab, dass wir Dinge versprechen, die wir nicht
erfüllen können. Ein europäischer Mindestlohn auf gleichem Niveau geht
angesichts der Unterschiede in den Ländern erst mal nicht. Sozialpolitik
bleibt gegenwärtig überwiegend eine Frage der Mitgliedsstaaten, auch wenn
alle eine solidarische Verantwortung tragen. Die Jugendarbeitslosigkeit im
Süden darf auch uns nicht kaltlassen. Wir müssen Prioritäten setzen, weil
nun mal nicht alles gleichzeitig geht. Die drängenden Fragen sind: Wollen
wir Europa zu dem Kontinent machen, der beim Klimaschutz energisch
vorangeht? Was zukunftsfähige Arbeitsplätze angeht, ist das übrigens auch
eine Gerechtigkeitsfrage.
Rot-Rot-Grün hätte außenpolitisch noch andere Baustellen. Wie schätzen Sie
Putins Außenpolitik ein?
Wagenknecht: Russland kämpft um seine Einflusssphären. Syrien ist die
letzte Bastion, die die Russen im Nahen Osten noch haben. Putin will sich
dort nicht von den USA vertreiben lassen, deshalb hat er mit aller
Brutalität in den Krieg eingegriffen. Ähnlich sah es bei der Krim aus.
Putin ging es vor allem um seine Schwarzmeerflotte.
Putin verteidigt sich nur gegen die aggressive Expansion der Nato?
Wagenknecht: Russland macht imperialistische Politik, wie die USA, die
weltweit auch nicht intervenieren, um Freiheit und Demokratie zu
verteidigen, sondern für Öl, Gas und Einflusssphären. Der Unterschied ist:
US-Truppen stehen heute an der russischen Grenze, nicht russische Truppen
an der Grenze der USA.
Özdemir: Wie Sie sich sicher vorstellen können, sehe ich das anders. Ich
hatte früher einen großartigen Lehrer, einen Linken, der heute
wahrscheinlich bei Ihnen in der Partei wäre. Wenn er vom Vietnamkrieg
erzählte, forderte er uns auf: Ihr müsst handeln, wenn es Unrecht gibt.
Dann kam die sowjetische Invasion in Afghanistan. Ich fragte ihn am
nächsten Morgen, wie wir denn nun handeln könnten. Gemach, gemach,
antwortete er, holte eine Karte hervor und sprach von der Einkreisung der
UdSSR durch die USA. Die Russen seien in Afghanistan, um Demokratie und
Wohlstand für die Armen durchzusetzen. Das könne man nicht vergleichen mit
dem, was der Westen macht. Exakt die gleiche Wortwahl wie bei Ihnen, Frau
Wagenknecht.
Wagenknecht: Haben Sie mir zugehört? Ich habe gerade gesagt: Putin handelt
ähnlich wie die USA. Nicht, er macht etwas anderes.
Özdemir: Der Westen, bei all seinen Defiziten, steht für Demokratie. Putin
nicht. Er hat kein Interesse an einem starken Europa. Sie reden
leichtfertig über die Ukraine daher. Es gab das Budapester Memorandum, in
dem die Ukraine auf ihre Atomwaffen verzichtet hat – unter der Zusicherung
von Russland, den USA und Großbritannien, ihre Grenzen zu respektieren. Wie
wollen wir jetzt irgendein Land in der Welt dazu bringen, freiwillig auf
Atomwaffen zu verzichten, wenn vorgemacht wurde, dass Garantien nichts wert
sind?
Barley: Russland mit den USA zu vergleichen führt nicht weiter. Putins
Verhalten hat verschiedene Gründe, da spielen das Zerbrechen des Warschauer
Pakts, das Zusammenrücken westlicher Bündnisse hinein, spielen aber auch
die Innenpolitik und seine Persönlichkeit eine Rolle. Ich finde es
erschreckend, wie manche Leute über Staaten reden, die früher zum
Warschauer Pakt gehörten. Das sind souveräne Staaten, aber wenn es um
Fragen wie einen EU-Beitritt geht, tun manche – Frau Wagenknecht scheint
dazuzugehören – so, als könne man sie wie Schachfiguren behandeln. Wenn wir
diese Logik akzeptierten, wäre das ein Rückfall in finsterste Zeiten.
Wagenknecht: Die Frage ist doch, was sinnvoll ist. Deutschland hatte zum
Beispiel gegen einen Nato-Beitritt Georgiens ein Veto eingelegt. Folgte man
Ihrer Argumentation, Frau Barley, dann war das falsch. Ich halte es aber
für richtig.
Özdemir: Das hat damals Rot-Grün unter Gerhard Schröder und Joschka Fischer
beschlossen …
Wagenknecht: … und zwar zu Recht. In der Außenpolitik muss man immer die
Interessen des Anderen berücksichtigen. Das war auch der Ansatz der
Entspannungspolitik Willy Brandts. Brandt ging davon aus, dass es in einer
Welt mit Atomwaffen keine Kriege mehr geben darf. Also war er bemüht,
Konflikte zu deeskalieren, statt sie zu provozieren. Deswegen ist es
übrigens auch nicht sinnvoll, Nato-Manöver an der russischen Grenze
durchzuführen, noch dazu mit deutschen Soldaten …
Özdemir: Aber die Russen dürfen es?
Wagenknecht: Na ja, sie machen ihre Manöver innerhalb der eigenen Grenzen,
nicht an der US-Grenze.
Özdemir: Wir sind uns einig, dass man sieben Tage die Woche 24 Stunden lang
die Tür für Putin offenhalten muss. Sobald er sich nur ein bisschen auf uns
zubewegt, müssen wir uns auf ihn zubewegen, weil wir es mit einer
Nuklearmacht zu tun haben. Aber sind Sie denn mit mir einig, dass Putin
Marine Le Pen und Donald Trump unterstützt, weil er kein Interesse hat,
dass sich die liberale Demokratie durchsetzt? Willy Brandt, von dem ich bei
mir im Büro ein Bild habe …
Barley: Ihr seid ja alle Sozialdemokraten! Ich habe übrigens immer
Mitgliedsanträge dabei.
Özdemir: Nun ja, Wenn Helmut Schmidt damals nicht den Nato-Doppelbeschluss
gefasst hätte und vor allem für Atomkraft war, hätte mich Ihre Partei
vielleicht nicht derart abgeschreckt. Brandt jedenfalls hat die Ostpolitik
nicht gemacht, damit sich die Systeme annähern, sondern damit sich die
Demokratie durchsetzt.
Wagenknecht: Er wollte den Frieden. Ich glaube nicht, dass Willy Brandt für
möglich gehalten hat, dass der Ostblock tatsächlich zusammenbricht.
Lässt sich wirklich eine gemeinsame Außenpolitik von Rot-Rot-Grün
formulieren?
Wagenknecht: Das kommt darauf an, ob die SPD an ihre eigenen Traditionen
anknüpfen will. Zum Beispiel an ihr 1989 beschlossenes Berliner Programm.
Darin warben die Sozialdemokraten dafür, die Nato durch ein kollektives
Sicherheitssystem unter Einschluss Russlands zu ersetzen. Das ist genau
das, was wir wollen.
Barley: So zu tun, als sei die SPD in der Außenpolitik das Problem, ist nun
wirklich albern. Unser Außenminister Frank-Walter Steinmeier wird für seine
besonnene, kluge Diplomatie allseits gelobt. Die Frage ist eher, ob Grüne
und Linke zusammen können. Ich habe während der Ukrainekrise zweimal
erlebt, dass sich ein Grünen- und ein Linken-Abgeordneter fast geprügelt
hätten. Seitdem bin ich etwas skeptischer.
Özdemir: Die taz hat neulich über einem Debattenbeitrag über Rot-Rot-Grün
getitelt: No risk, no fun. Unter diesem Motto darf man aber keine
Außenpolitik betreiben. Deutschland hat mit dem Hitler-Stalin-Pakt schon
einmal die Länder Osteuropas aufgeteilt. So etwas wird es mit den Grünen
nicht geben. Wir unterschreiben keinen Koalitionsvertrag, in dem es nicht
eine glasklar proeuropäische Ausrichtung gibt. Wir unterschreiben keinen
Koalitionsvertrag ohne ein Bekenntnis zur liberalen Demokratie und zu
westlichen Werten. Darüber verhandeln wir weder mit der sächsischen CDU
noch mit Teilen der Linkspartei.
Ein Akt linker Politik könnte es sein, nun zu fordern, ein paar
Hunderttausend syrische Flüchtlinge über Kontingente aufzunehmen. Warum
sind Grüne, Linke und SPD auf diesem Feld so still?
Wagenknecht: Die Menschen wollen weg, weil Krieg herrscht und die Situation
in den Lagern vor Ort unsäglich ist. Das betrifft allein um Syrien etwa 10
Millionen Menschen. Kontingente würde einigen helfen, aber der großen
Mehrheit nicht. Deshalb muss dringend vor Ort mehr Hilfe geleistet werden.
Und es muss alles getan werden, den Krieg zu beenden, statt ihn durch
Waffenexporte und Hochrüstung islamischer Terrorbanden zu verlängern.
Özdemir: Das flüchtlingspolitische Ziel muss immer noch ein europäischer
Verteilungsschlüssel sein. Deutschland hat lange so getan, als seien die
Flüchtlinge das Problem der Italiener oder Griechen. Ich glaube, dass
Deutschland mit anderen EU-Staaten solidarisch sein muss. Das wäre eine
Rückkehr zu einer Europapolitik, die auch die kleineren Partner wieder auf
Augenhöhe betrachtet, wie sie einst selbst Kohl verfolgte.
Erst loben Sie Willy Brandt, nun Helmut Kohl. Die Grünen sind offenbar
endgültig in der Mitte der Gesellschaft angekommen.
Özdemir: Der Punkt ist doch: Wer solidarisch ist, erhält im Gegenzug
Solidarität zurück.
Barley: Deutschland sollte nicht zu empört nach europäischer Solidarität in
der Flüchtlingsfrage rufen. Dafür hat Deutschland die Staaten an der
EU-Außengrenze zu lange mit dem Problem alleingelassen. Die kritische
Haltung in Staaten wie Spanien, Griechenland und Italien kann ich vor
diesem Hintergrund sehr gut nachvollziehen.
Wagenknecht: Es ist doch zynisch, wenn sich Frau Merkel für ihre angeblich
humane Flüchtlingspolitik feiern lässt, aber unverändert afrikanischen
Ländern Freihandelsabkommen diktiert werden, die ihre Wirtschaft zerstören
und immer mehr Menschen in die Flucht treiben.
Unser Eindruck ist: Sie alle drei finden Abkommen wie Merkels Türkeideal
schmutzig, sind aber insgeheim froh, dass kaum noch Flüchtlinge kommen. So
können Sie sich um das Thema herumdrücken.
Barley: Diese Sicht teile ich nicht. Wir sind drei Abgeordnete mit
Migrationshintergrund. Ich glaube, wir wissen alle, was es heißt, Kulturen
miteinander zu verbinden. Das ist eins unserer gemeinsamen Themen. Ich
zumindest scheue dazu keine sachliche Diskussion.
Özdemir: Und ganz so schlecht ist unser Land bei der Integration offenbar
nicht: Drei wie uns als Spitzenpolitiker in drei Parteien hätte es vor
zehn, zwanzig Jahren nicht gegeben. Aber klar, die Verantwortung für eine
gemeinsame europäische Bekämpfung von Fluchtursachen bleibt.
Ein wichtiges Feld für ein Linksbündnis wäre die Finanz- und Sozialpolitik.
Die Grünen werben ja nun für eine Vermögensteuer für Superreiche. Herr
Özdemir, wer ist das überhaupt?
Özdemir: Das sind Multimillionäre und Milliardäre. Wir wollen eine
verfassungsfeste, ergiebige Vermögensteuer, die diese Gruppe der
Steuerzahler stärker zur Finanzierung des Gemeinwesens heranzieht – aber
gleichzeitig Investitionen von Unternehmen nicht verhindert.
Wagenknecht: Wenn Sie auch nach der Wahl dazu stehen, wäre es gut. Bei
dieser unglaublichen Konzentration von Riesenvermögen in wenigen Händen
brauchen wir in Deutschland eine Vermögensteuer. Dabei geht es nicht um
Belastungen für die Mittelschicht. Unser Modell gewährt zum Beispiel einen
Freibetrag von 1 Million Euro.
Wäre die SPD dabei?
Barley: Menschen mit mittleren und niedrigen Einkommen sollten unbedingt
entlastet werden. Gleichzeitig ist es in Ordnung, wenn sehr wohlhabende
Leute mehr bezahlen. Wir arbeiten gerade im Zuge unseres
Regierungsprogramms daran, wie wir das umsetzen können.
Wirklich? Ihr Parteichef hat mal gesagt, die Vermögensteuer sei tot.
Barley: Wir haben ja das klitzekleine Problem eines
Verfassungsgerichtsurteils, das Hürden für eine Vermögensteuer aufstellt.
Wir sollten daher nichts versprechen, was wir am Ende nicht halten können.
Wagenknecht: Wichtig ist neben der Umverteilung durch Steuern die
Entwicklung der Löhne. Der Staat muss die Arbeitnehmer stärken, indem er
Gesetze zurücknimmt, die sie wehrlos gemacht haben: etwa was Leiharbeit,
Werkverträge oder Dauerbefristungen angeht.
Barley: Die SPD hat den Mindestlohn durchgesetzt, auch deshalb geht jetzt
die Reallohnentwicklung wieder nach oben. Aber wir sehen ganz klar, wo es
mit CDU und CSU nicht weitergeht. Bei Befristungen von Arbeitsverträgen
kriegen wir beispielsweise mit der Union Verbesserungen hin, aber eben
keine Abschaffung.
Özdemir: Wir dürfen auch nicht vergessen: Wenn man etwas verteilen will,
muss man vorher etwas erwirtschaften. Das setzt voraus, dass wir in die
Infrastruktur investieren und den Mittelstand stärken. Ob diese schlichte
Tatsache in einem solchen Bündnis jeder der Partner anerkennt, ist für mich
fraglich. Wir müssen auch über die Probleme reden, die in einem solchen
Bündnis auftreten können.
Barley: Herr Özdemir, das ist doch eine Selbstverständlichkeit. Aber wenn
wir weiterkommen wollen, dürfen wir auch Gemeinsamkeiten nicht ausblenden.
Özdemir: Bei Rot-Rot-Grün kommt es besonders darauf an, dass ein solches
Bündnis überrascht. In Thüringen hat Rot-Rot-Grün eine klarere Position zur
DDR-Vergangenheit formuliert als die Große Koalition davor. Berlin stellt
unter Rot-Rot-Grün mehr Polizisten ein.
Barley: Das ist oft so. CDU und CSU reden den ganzen Tag von innerer
Sicherheit, machen dann am Ende aber nichts Greifbares.
Özdemir: Das sagen Sie jetzt. Aber dann sind Sie und Ihre Partei doch die
Ersten, die in die große Koalition gehen, wenn es darauf ankommt!
Barley: Moment. Sie sind doch hier der Schwarz-Grüne, oder nicht? Die SPD
wird 2017 keine Koalitionsaussage und auch keinen Lagerwahlkampf machen. So
verfahren ja offenbar auch die Grünen. Aber es ist unsere Verantwortung, zu
zeigen, dass die drei Parteien links der Mitte keine Feinde sind.
Die CSU warnt jetzt schon vor der gefährlichen Linksfront.
Barley: Richtig. Wir dürfen uns nicht in die Schmuddelecke schieben lassen.
Es geht um respektvollen Austausch zwischen den drei Parteien. Die
politische Linke hat viel zu oft gegeneinander gekämpft statt miteinander.
Wir haben da auch eine historische Verantwortung. Deutschland und Europa
stehen an einem Wendepunkt.
Wie überrascht Rot-Rot-Grün?
Özdemir: Etwa indem wir den Kohleausstieg, artgerechte Tierhaltung und
Elektromobilität mit der Wirtschaft zusammen zu einem Gewinnerthema machen.
Wir müssen die Ängste vor einer solchen Koalition nehmen – auch denjenigen,
die das Rückgrat der deutschen Wirtschaft bilden und sich Sorgen machen,
dass Rot-Rot-Grün die Gelddruckmaschine anwirft und enorme Schulden macht.
Das Gefühl muss auch sein: Die Sicherheit ist in diesem Bündnis in guten
Händen, die außenpolitische Verlässlichkeit auch.
Barley: Die SPD will für die ganz normalen Menschen da sein. Für die, die
hart arbeiten, sich an die Regeln halten und ihren Beitrag zur Gesellschaft
leisten. Ehrlich gesagt, möchte ich lieber deren Erwartungen erfüllen und
deren Nöte im Alltag lindern, als sie zu überraschen. Ich finde übrigens
auch, dass wir uns nicht schlechtreden sollten. Warum sollte es unter
Rot-Rot-Grün weniger Jobs geben?
Wagenknecht: Viele Menschen in diesem Land wären schon extrem überrascht,
wenn sich tatsächlich einmal wieder eine Regierung für ihre sozialen
Interessen einsetzen würde. Die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft
oder den Verband der Familienunternehmen, der in Wahrheit die Interessen
alter Erbdynastien vertritt, möchte ich nicht überraschen.
Beenden wir das Gespräch mit etwas Positivem. Frau Wagenknecht, was
schätzen Sie an Frau Barley und an Herrn Özdemir?
Wagenknecht: Herrn Özdemir kenne ich persönlich wenig. Mit Katarina Barley
habe ich schon öfter diskutiert. Sie kämpft nie unterhalb der Gürtellinie.
Özdemir: Frau Barley hatte den Mut, eine nicht einfache Aufgabe zu
übernehmen. Sie hat als SPD-Generalsekretärin einen guten eigenen Stil
gefunden, was bei einem so selbstbewussten Parteivorsitzenden sicher nicht
einfach ist. Frau Wagenknechts Biografie sieht ein bisschen nach zweitem
Bildungsweg aus. Sie durften ja erst nicht studieren und gingen erst nach
der Wende zur Uni. Mir flößt immer Respekt ein, wenn jemand sich neben der
Arbeit noch Wissen aneignet.
Wagenknecht: Ich habe tatsächlich erst nach der Wende studieren dürfen,
aber nebenbei arbeiten musste ich nicht. Damals gab es noch ein Bafög, von
dem man leben konnte.
Frau Barley, was mögen Sie an Ihren Gesprächspartnern?
Barley: An Frau Wagenknecht schätze ich ihre Eloquenz und ihren Scharfsinn.
Herr Özdemir vertritt klare Standpunkte, das gefällt mir. In diesen Punkten
sind sich die beiden eigentlich sehr ähnlich.
5 Dec 2016
## AUTOREN
Martin Reeh
Ulrich Schulte
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R2G Berlin
Schwerpunkt Rot-Rot-Grün in Berlin
Cem Özdemir
Die Linke
Berlin
SPD
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Bündnis 90/Die Grünen
Katarina Barley
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