| # taz.de -- Wille und Wirklichkeit: Willkommen auf diesem Bahnhof | |
| > Der Stadtteilbahnhof Bremen-Walle ist seit 1998 offiziell barrierefrei: | |
| > In Vielem bleibt das beim guten Vorsatz. Ein eher frustrierender | |
| > Praxistest in zwei Stationen | |
| Bild: Objekt mit Tücken: ein ganz normaler Automat in Bremen-Walle | |
| Ab 2022 müssen Bus und Bahn vollständig barrierefrei nutzbar sein. Das | |
| steht im Personenbeförderungsgesetz. Eine Vorstellung, wie weit der Weg | |
| dorthin ist, vermittelt ein Praxistest mit der Leitfrage: Wie barrierefrei | |
| ist ein anerkannt barrierefreier Bahnhof wirklich? | |
| Ort: Bahnhof Walle, ein Stadtteil-Bahnhof in Bremen, gilt seit dem Umbau | |
| 1998 als barrierefrei. | |
| Testerin: Nicole Papendorf, 40, ist Fachkraft fürs Erkennen von Barrieren. | |
| Sie ist einerseits auf den Rollstuhl angewiesen, um sich fortzubewegen, | |
| andererseits arbeitet sie in Vollzeit als Testleserin für leichte Sprache. | |
| Leichte Sprache ist eine schriftliche Ausdrucksweise, die auf besonders | |
| leichte Verständlichkeit abzielt. Sie soll Menschen mit geistiger | |
| Einschränkung und mit Leseschwäche das Erfassen von schriftlichen | |
| Informationen und die Teilhabe an schriftlichen Interaktionen – | |
| beispielsweise Wahlen – ermöglichen. Als Testleserin prüft Papendorf seit | |
| 2005 Übersetzungen in leichte Sprache und markiert unverständliche, aber | |
| auch zu kindliche Ausdrücke als Fehler. Sie hat das Berufsbild | |
| mitentwickelt und bildet auch neue TestleserInnen aus. | |
| Lage: Der Bahnhof liegt am Kopf einer Eisenbahnbrücke, die eine Hauptstraße | |
| überquert. Die Infotafeln befinden sich ebenerdig neben dem Aufgang | |
| unterhalb der Gleise. Direkt bei der Treppe befindet sich auch der einzige | |
| Fahrkartenautomat und der Fahrstuhl, Baujahr 1997. Links des Aufgangs | |
| hängen an der Wand der Unterführung plexiverglaste Schaukästen mit | |
| Infotexten des Verkehrsverbundes VBN und der Bahn AG. | |
| Zeit: Dienstagvormittag, 11.10 Uhr | |
| Witterung: heiter bis wolkig | |
| ## 1. Station: Die Infotafeln | |
| 1.1. Äußere Aspekte | |
| Papendorf: Hier fängt es schon mal an. Damit komme ich überhaupt nicht | |
| klar. Erst mal ist die Scheibe verschmiert und verkratzt. Und es blendet, | |
| von hier sehe ich da fast nix. | |
| Tatsächlich ist der untere Rahmen des Schaukastens auf 110 Zentimetern, der | |
| obere Rand des Schaukastens liegt bei circa 250 Zentimetern Höhe. Die | |
| durchschnittliche Augenhöhe von RollstuhlfahrerInnen liegt bei 122 | |
| Zentimetern: Die Reflexe des einfallenden Sonnenlichts machen aus dieser | |
| Perspektive große Teile der Informationsplakate unsichtbar, mindestens | |
| schwer erkennbar. Das Infoplakat der DB AG ist zusätzlich laminiert, sodass | |
| es auch noch selbst spiegelt. Bis auf den unteren Abschnitt ist es bei | |
| Tageslicht aus Rollstuhlperspektive komplett unlesbar. | |
| Papendorf: Und dann ist da sehr viel Text und nicht in leichter Sprache. | |
| Das kann man alles hier nicht lesen. Weil das total schwierig ist. Erst mal | |
| weil es zu schwierig geschrieben ist. Und die Schrift ist auch schwer zu | |
| lesen, wegen der Farbe: Weiß auf Rot, das geht nicht. Das könnte man alles | |
| einfacher machen. Und besser. Die Buchstaben sind auch zu klein. | |
| 1.2. Textverständlichkeit | |
| Auszug aus dem VBN-Plakat: „Erwerb von Anschlusstickets | |
| Will der Inhaber eines Zeit-Tickets (MonatsTicket, MIA, MIAplus, JobTicket, | |
| JobTicket-Azubi, Schüler-MonatsTicket, Schüler-SammelzeitTicket, MIAjunior, | |
| BahnCard100) über dessen Geltungsbereich hinaus Fahrten durchführen, | |
| benötigt er ein Anschluss-Ticket.“ (Anm. d. Red: Die Varianten der | |
| Schreibweisen entsprechen dem Originaltext) | |
| Papendorf: Gut, dass du es vorgelesen hast. Jetzt weiß ich wenigstens, dass | |
| du lesen kannst. Ich habe das wirklich gar nicht verstanden. Also das würde | |
| ich anders schreiben. Da kann man sich nochmal überlegen, dass man sich | |
| Hilfe holt, wie man das anders schreiben kann. Mehrere Sätze draus machen, | |
| auf jeden Fall. Einfache Wörter zu nehmen wäre auch gut. Man muss sich ja | |
| nur mal überlegen, wie man mit Freunden redet. Da sagt man ja auch nicht, | |
| du erwirbst jetzt ein Anschlussticket. Sondern du sagst: Du kaufst eine | |
| Fahrkarte. Wenn man das schreibt, weiß jeder, was er da machen muss. | |
| Das Plakat der DB AG: | |
| Ganz oben links ist ein Piktogramm. Ist das zu erkennen? | |
| Papendorf: Ich glaube, das, ist das ein Rollstuhlfahrer? Das hat etwas mit | |
| einem Rollstuhlfahrer zu tun. Aber der Text, nein, das ist gar nicht zu | |
| erkennen. | |
| Der Text lautet: | |
| „Wenn Sie Fragen oder Hinweise zu Service, Sicherheit und Sauberkeit im | |
| Bahnhof haben: 24 Stunden für Sie erreichbar die 3-S-Zentrale Bremen | |
| Hauptbahnhof, Telefon 0421 2214780. An diesem Bahnhof ist keine | |
| Hilfeleistung für mobilitätseingeschränkte Personen verfügbar.“ | |
| Papendorf: Ja, das kann ich nicht erkennen. | |
| Die Überschrift heißt: „Willkommen an diesem Bahnhof“ | |
| Papendorf: Finde ich echt nicht witzig. | |
| 1.3. Problembewusstsein | |
| Fragen an die VBN: | |
| Wo ist der VBN möglicherweise besonders weit in der Umsetzung der | |
| Barrierefreiheit? | |
| Antwort VBN: Im Bereich der Fahrgastinformation gibt es Rahmenbedingungen, | |
| die die Umsetzung erschweren, zum Beispiel ist die Schriftgröße bei einigen | |
| gedruckten Fahrplantabellen nicht optimal. Hier können EDV-affine Nutzer | |
| über unsere elektronischen Medien für sich geeignete Einstellung wählen. | |
| Welche Ziele verfolgt die VBN mit Infotafeln? | |
| Antwort VBN: Die an den Bahnsteigen platzierten VBN-Infovitrinen dienen | |
| primär dazu, Fahrgäste vor dem Einstieg in den Zug noch einmal über die | |
| „Spielregeln“ beim Bahnfahren innerhalb des VBN zu informieren. | |
| Warum benutzt VBN Sätze, deren Länge die durchschnittliche Satzlänge von | |
| Thomas Manns Roman „Dr. Faustus“ deutlich überschreitet? | |
| Antwort VBN: Die auf unseren Infovitrinen verwendeten Texte entstammen den | |
| VBN-Tarifbestimmungen und Beförderungsbedingungen. Da diese möglichst | |
| wasserdicht formuliert sein müssen, haben sie nahezu Gesetzescharakter. | |
| Dieses führt im Umkehrschluss zu den zugegebener Maßen nicht immer ganz | |
| leicht zu verstehenden Sätzen. | |
| Frage an DB Regio | |
| Welche Maßnahmen sind geplant, um Fehlkonstruktionen wie die laminierten | |
| Infoplakate zu beseitigen? | |
| Antwort DB AG: Für Bremen Walle prüfen wir unsere Infovitrinen und werden | |
| ggf. Änderungen in der Gestaltung der Aushänge vornehmen. | |
| ## 2. Station: Der Fahrkartenautomat | |
| 2.1. Versuch | |
| Papendorf: Ich kann da nichts lesen. Weil’s zu hoch ist, weil’s spiegelt, | |
| weil's zu dunkel ist. Ich kann überhaupt nichts erkennen. | |
| Der Touchscreen des Automaten ist leicht angeschrägt, also statt auf 90 | |
| Grad auf etwa 120 Grad. Das erleichtert für Läufer ab 150 Zentimetern die | |
| Lesbarkeit. Vom Rollstuhl aus ist das Display so gut wie gar nicht | |
| einsehbar. Hinzu kommen ungünstige Schatten- und Spiegeleffekte durch | |
| einfallendes Sonnenlicht. | |
| Papendorf: Ich kann nicht sehen, was da steht, das ist zu dunkel. Es ist | |
| nicht zu erkennen, was da passiert. Ich kann den Automaten nicht benutzen. | |
| Ich drücke nichts, was ich nicht lesen kann. Ich will nicht für etwas | |
| verantwortlich sein, für etwas, was ich zwar mache, aber wo ich nicht weiß, | |
| was es ist, weil da eine Barriere für mich ist. Die können mich dafür | |
| verklagen, wenn ich da was Falsches mache. Und ins Gefängnis kommen kann | |
| ich, das weiß ich. Das habe ich rausgefunden. | |
| Ist wirklich gar nichts zu sehen? | |
| Papendorf: Das, was ich sehen kann, ist das dicke schwarze Feld. Da steht: | |
| Ziel und Ticket wählen. Das andere kann ich alles nicht. Dass ich zum | |
| Bahnhof muss, das ist das Ziel. Dass ich ein Ticket brauche, das ich dem | |
| Schaffner zeige, das kann ich sagen. Aber wie ich das machen soll, hiermit, | |
| weiß ich nicht. Das kann ich hier nicht sehen. Ich weiß nicht, welchen | |
| Knopf ich wie drücken muss, dass da, was da erscheint, wie man was da | |
| machen muss. Damit ich da nichts verkehrt mache, gehe ich dann vorbei. | |
| Aber jetzt sind wir ja dabei … | |
| Papendorf: Ich traue mich nicht. Ich traue mich trotzdem nicht zu drücken. | |
| Es kann nichts passieren! | |
| Papendorf: Okay, ich habe ja Zeugen (berührt das Bedienfeld). Ich mache das | |
| jetzt alles auf blauen Dunst. | |
| Das Display springt um, es zeigt eine Auswahl von Feldern mit verschiedenen | |
| Startbahnhöfen, die aber vom Rollstuhl aus völlig unlesbar bleiben. | |
| Papendorf: Ich seh’ nichts. Ich kann nicht erkennen, was da passiert. | |
| Nach 30 Sekunden ploppt ein bildschirmfüllendes gelbes Dreieck auf: Zeit | |
| ist abgelaufen. | |
| Papendorf: Ich kann hier kein Ticket lösen. Ich kann mich nur in den | |
| Fahrstuhl setzen, hochfahren und oben warten, bis ein Zug kommt und würde | |
| sagen, ich brauche hier ein Ticket. | |
| 2.2 Lösungsansätze | |
| Was wäre hier eine Hilfe? | |
| Papendorf: Eine Hilfe wäre, wenn das Ding tiefer ist, und wenn man sich | |
| richtig davor stellen kann, und sich nicht das Licht drauf spiegelt. | |
| Wir kommen nicht einmal bis zur sprachlichen Hürde … | |
| Papendorf: Weil ich einfach nicht sehen kann, ja. Eine Hilfe wäre, wenn | |
| hier jemand ist. Dass die hier ein Häuschen machen, wo man hingehen kann | |
| und sagen, der Fahrstuhl funktioniert nicht, kommen sie mal mit. Oder holen | |
| sie mir mal ein Ticket aus dem Automaten. Der braucht ja noch nicht einmal | |
| hier zu stehen, aber dass mindestens beim Kiosk was ist, wo jemand mitkommt | |
| und mir hilft. Das wäre, was man auf die Schnelle machen könnte. Das würde | |
| ich gut finden. Das haben die in Bremerhaven zum Beispiel auch. Im | |
| Zeitungsladen, wenn jemand vom Mobilitätsservice nicht da ist, dann kann | |
| man da hingehen, sagen, man braucht ein Ticket für irgendeine Rückfahrt, | |
| dann stellen die einem eins aus. Oder man sagt, man braucht Hilfe, rufen | |
| Sie mal beim Mobilitätsservice an. | |
| Ist nicht der Anspruch, dass alles für alle zugänglich ist? | |
| Doch. Aber wenn die sofort was ändern wollen, ist das am leichtesten. Man | |
| braucht ja nur eine Person für einzustellen. Es gibt so viele Leute, die | |
| arbeitslos sind. Die kann man hier gut hinstellen. Denen kann man sagen, | |
| wie das funktioniert, und die können das dann denen erklären, die Hilfe | |
| brauchen. | |
| Und grundsätzlich – bräuchte man so etwas wie Testleser für Bahnhöfe? | |
| Papendorf: Ja. Eigentlich für alles. Da kann ich nichts ausnehmen, wo man | |
| keine Testleser für braucht. Oder Testleute. Die müssten einfach da sein. | |
| Die kann man dann anfordern: Jede Behinderung kann einen abstellen, dass | |
| man guckt, dass man verschiedene Sachen abdecken kann. Ich finde, das | |
| fehlt. | |
| 2.3. Problembewusstsein | |
| Frage an die VBN: | |
| Sind Änderungen an Fahrkartenautomaten geplant, um die allgemeine | |
| Barrierefreiheit bis 2022 herzustellen? | |
| Antwort VBN: Bei den Fahrkartenautomaten gibt es eine sog. TSI-Norm, die | |
| bei den Eisenbahnverkehrsunternehmen insbesondere bei Neuanschaffungen in | |
| Rücksprache mit den Aufgabenträgern umgesetzt wird. | |
| Lesen Sie mehr im aktuellen taz nord Schwerpunkt-Thema „Barrierefrei?!“ in | |
| der gedruckten Ausgabe oder [1][hier] im E-Paper. | |
| 20 Aug 2016 | |
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| ## AUTOREN | |
| Benno Schirrmeister | |
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