| # taz.de -- Neue Züge in Schleswig-Holstein: Für Rollis untauglich | |
| > Der Behinderten-Verband kritisiert, dass die 220 Millionen Euro teuren | |
| > neuen Züge im schleswig-holsteinischen Nahverkehr nicht barrierefrei | |
| > sind. | |
| Bild: Hindernis Rampe: Wenn der Neigungswinkel zu steil ausfällt, haben Mensch… | |
| Neumünster taz | Steile Rampen, wenig Raum zum Rangieren: Menschen mit | |
| Behinderungen in Schleswig-Holstein kritisieren die Verkehrsgesellschaft | |
| „Nah.SH“. Die hat für rund 220 Millionen Euro neue doppelstöckige Züge | |
| bestellt. Doch laut den Kritiker*innen seien die für Menschen, die auf | |
| einen Rollstuhl angewiesen sind, kaum benutzbar. Nun wird nach technischen | |
| Lösungen gesucht, um die Züge barrierefrei zu machen. Bei Nah.SH herrscht | |
| „nur gedämpfter Optimismus“. | |
| „Bisher dachte ich, der französische TGV ist der schlimmste Zug für | |
| Rollstuhlfahrer, aber dies hier toppt ihn“, sagt Heike Witsch. Die | |
| 79-jährige Schleswig-Holsteinerin, die seit 45 Jahren im Rollstuhl sitzt, | |
| ist Expertin für Bahnrecht beim Bundesverband Selbsthilfe Körperbehinderter | |
| (BSK). Ihre Kritik richtet sich gegen das Zugmodell „KISS“, das ab 2022 | |
| zwischen Lübeck und Hamburg fahren soll. 18 Doppelstock-Züge hat Nah.SH bei | |
| der Firma Stadler bestellt. | |
| Das Jahr 2022 hat für Behindertenrechtsvertreter*innen eine besondere | |
| Bedeutung: Laut der UN-Behindertenrechtskonvention soll es ab diesem | |
| Zeitpunkt möglich sein, dass Menschen mit Behinderungen öffentliche | |
| Verkehrsmittel eigenständig benutzen können, sagt Matthias Krasá, | |
| Landesvertreter des BSK für Schleswig-Holstein. Ebendas gehe bei dem | |
| KISS-Wagen aber nicht. | |
| Das Problem: Die meisten Bahnsteige im Land haben eine Höhe von 76 | |
| Zentimetern über der Schiene. Gleichzeitig sind Doppelstock-Züge nach oben | |
| in ihrer Höhe begrenzt, damit sie keine Oberleitungen rammen. Daher liegt | |
| die untere Ebene unter der Bahnsteighöhe, nämlich bei 55 Zentimetern. Der | |
| Unterschied von 21 Zentimetern soll bei den KISS-Wagen mit einer Rampe | |
| bewältigt werden. Deren Steigungswinkel liegt jedoch bei 15 Prozent – zu | |
| steil für viele Rollstühle, aber auch für viele Fußgänger*innen, sagt Heike | |
| Witsch. „Wenn eine Mutter mit Wagen schnell darüber fährt, merkt sie | |
| irgendwann, dass das Kind in der Luft schwebt.“ Auch wer blind, | |
| sehbehindert oder gangunsicher sei, sei gefährdet. Im Inneren des Zuges | |
| lägen weitere Rampen vor den Rollstuhlplätzen. Und den Rollstuhl aus | |
| eigener Kraft zu drehen, sei auf dem engen Platz zwischen Tür und Treppen | |
| nicht möglich. | |
| Dieser Raum sei auch nicht als Wendeplatz gedacht, sagt Dennis Fiedel, | |
| Sprecher von Nah.SH und fügt gleich hinzu: „Das ist aber zweitrangig.“ Denn | |
| es sei „keine schöne Situation“ und „nicht trivial“. | |
| Rechtlich sei aber alles in Ordnung, meint Fiedel: „Die EU-weit geltende | |
| Norm ist berücksichtigt. Nur stellt man bisweilen fest, dass die | |
| Mindestanforderungen nicht für alle Menschen ausreichend sind.“ | |
| Dirk Mitzloff, Stellvertreter des Landesbeauftragten für Menschen mit | |
| Behinderung in Schleswig-Holstein, bestätigt das: „Grundlegende Richtlinien | |
| auf EU-Ebene lassen leider die Auslegung zu, solche Rampen zu verwenden und | |
| dennoch als barrierefrei zu gelten.“ Der Landesbeauftragte Ulrich Hase | |
| hielte die „vorliegende Lösung jedoch für ungünstig“. Noch in dieser Woc… | |
| will Hase sich mit Vertreter*innen von Nah.SH treffen, um eine Lösung zu | |
| finden. | |
| Bahnexpertin Witsch kann sich einiges vorstellen: Etwa dass in die Reihe | |
| der Doppelstockwagen ein Waggon mit einer Ebene eingeschoben wird, der dann | |
| leichter zu befahren sei. Oder dass statt der Rampen eine elektrische | |
| Hebevorrichtung den Höhenunterschied bewältigt. „Es kann doch nicht sein, | |
| dass die Politik den Verkehr mehr in Richtung Bahn steuern will, und | |
| ausgerechnet wir sitzen dann wieder im Taxi“, sagt die ehemalige Lehrerin. | |
| Auch Stadler-Sprecherin Silja Kollner verweist darauf, dass die jetzt | |
| bestellten Züge den Normen entsprechen. Dennoch werde über Lösungen | |
| nachgedacht. Geplant ist bereits, die Rampe zu den Toiletten abzusenken. | |
| Alles andere müsse Nah.SH entscheiden: „Jede Änderung kostet Geld und | |
| Zeit.“ | |
| Für Matthias Krasá vom BSK ist das kein Argument: „Die Züge sollen 30 Jahre | |
| fahren, da kann die Zeitschiene nicht so wichtig sein.“ Laut der | |
| Behindertenrechtskonvention hätten die Behindertenverbände von Anfang an | |
| mitreden müssen. „Da das unterblieben ist, sollte die Ausschreibung wegen | |
| Formfehlern komplett wiederholt werden.“ | |
| 19 Nov 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Esther Geißlinger | |
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