# taz.de -- Bahnfahrten im Rollstuhl: Gegen Barrieren anrollen | |
> Die Bahn hat eine Beförderungspflicht – doch Menschen mit Rollstuhl lässt | |
> sie immer wieder stehen. Kay Macquarrie lässt sich das nicht mehr | |
> gefallen. | |
Bild: Lässt sich nicht aufhalten: Aktivist Kay Macquarrie auf einem Bahngleis | |
An diesem Freitag im Advent fährt der Direktzug von Berlin nach Kiel | |
pünktlich auf Gleis 8 ein. Ein Hublift steht schon bereit, daneben wartet | |
ein Bahn-Mitarbeiter mit roter Mütze. Kay Macquarrie fährt seinen Rollstuhl | |
auf die Rampe. Der Mitarbeiter pumpt ihn hydraulisch hoch, dann rollt | |
Macquarrie in den Zug hinein. | |
Heute klappt der Einstieg. Doch Menschen, die im Rollstuhl unterwegs sind, | |
können viel übers Bahnfahren erzählen. Defekte Aufzüge, Hublifte fehlen, | |
kein Personal für die Lifte, kaputte Toiletten und endlose Anrufe bei der | |
zuständigen „Mobilitätsservice-Zentrale“ der Bahn – im Rollstuhl gleicht | |
jede Zugfahrt einer Lotterie. | |
Christian Bayerlein aus Konstanz durfte im rheinland-pfälzischen Dernau | |
nicht in die Bahn einsteigen, weil die Rampe für den Bahnsteig nicht | |
zugelassen war. Nachts um elf musste er daher mit seinem Elektrorollstuhl | |
fünf Kilometer an den nächsten Bahnhof fahren. | |
Ein anderer Gast wurde in Karlsruhe nicht in den Zug gelassen, weil er die | |
Fahrt nach Berlin nicht Tage vorher angemeldet hatte. Die Bahn wirbt mit | |
ihrem Service für Menschen mit Mobilitätseinschränkungen. Doch der Weg zum | |
barrierefreien Reise ist noch weit, sagen Verbände. | |
## 48 Stunden im Voraus | |
Kay Macquarrie fährt seit zehn Jahren regelmäßig zwischen Kiel und Berlin. | |
Pro Fernzug gibt es normalerweise nur einen Waggon mit barrierefreier | |
Toilette und genau zwei Plätzen für Rollstuhlfahrer*innen. Heute sind | |
die schon besetzt. „Das dürfte überhaupt nicht sein“, sagt der 44-Jährig… | |
Ein Mann mit Krücken sitzt auf einem Klappsitz, sein Rollstuhl steht | |
zusammengefaltet daneben. Eine zweite Rollstuhlfahrerin hat sich in eine | |
Nische bugsiert. Es ist Wochenendverkehr, der Zug voll besetzt. Macquarrie | |
fährt ins Familienabteil und hebt sich auf einen Sitz. | |
„Ich muss meine Fahrt am besten 48 Stunden im Voraus anmelden, und trotzdem | |
bekommt der Mobilitätsservice es nicht hin“, sagt er und schüttelt den | |
Kopf. Die [1][Mobilitätsservice-Zentrale (MSZ) der Bahn] koordiniert die | |
Hilfe beim Ein- und Aussteigen, meldet defekte Fahrstühle und reserviert | |
die Rollstuhlplätze im Fernzug. Kann die Fahrt nicht rollstuhlgerecht | |
angeboten werden, lehnt die Bahn ab. Dann muss man eine neue Verbindung | |
suchen. | |
Pro Jahr bearbeitet die Bahn 850.000 Wünsche nach Fahrten, von denen sie | |
nach eigenen Angaben 99 Prozent erfüllt. „Diese Zahl sieht schöner aus als | |
sie ist“, sagt Alexander Ahrens von der Interessensvertretung | |
Selbstbestimmt Leben (ISL). | |
## Ein Raum der Bewegung | |
Immerhin konnten somit 8.000 Menschen nicht frei reisen. Zudem wissen viele | |
Menschen im Rollstuhl, wann es sich überhaupt nicht lohnt, anzufragen. | |
„Wenn ich weiß, dass morgens vor sechs kein Personal am Bahnhof ist, werde | |
ich zu dieser Zeit keine Fahrt mehr anfragen und mich entsprechend selbs | |
beschränken“, führt Ahrens aus. | |
Da die zwei Rollstuhlplätze besetzt sind, dürfte Macquarrie heute gar nicht | |
mehr mitfahren. Denn in anderen Bereichen erlaubt die Bahn Rollstühle aus | |
Sicherheitsgründen nicht. Macquarrie, der in der Öffentlichkeitsarbeit | |
eines Medienunternehmens arbeitet, lässt sich nicht einschüchtern. „Ich | |
habe mich auch schon ins Fahrradabteil hineingeschmuggelt.“ | |
Er ist schlank, sein Handrollstuhl wendig und leicht. Andere Fahrgäste | |
können ihn in den Zug heben. „Als eine Zugbegleiterin kam und mich | |
hinausschmeißen wollte, habe ich ihr gesagt, sie solle die Polizei rufen.“ | |
Diese Konfrontation war der Frau unangenehm. Der Rollstuhl sei ja schmal, | |
wich sie zurück und ließ Macquarrie mitfahren. | |
Der Zug hält in Berlin-Spandau. Eine Familie mit zwei Kindern will ins | |
Familienabteil. Sie haben reserviert. Macquarrie möchte Platz machen, doch | |
im Gang stehen bereits Fahrgäste. Nach kurzen Beratungen winkt die Mutter | |
ab. Ihr Sohn setzt sich auf den Boden. Macquarrie reicht ihm ein Sitzkissen | |
zum Aufblasen. „Die Bahn ist für mich ein Raum der Begegnungen. Als Mensch | |
mit Behinderung möchte ich daran teilnehmen.“ Im Auto oder Taxi zu reisen | |
lehnt er daher ab. | |
## Druck ausüben | |
Kurz vor Hamburg kommt ein Zugbegleiter. Fahrscheinkontrolle. Macquarrie | |
fragt, warum drei Rollstühle im Abteil seien. Es sei keine Meldung | |
gekommen, sagt der Kontrolleur. Er tippt auf seinem Handy, um zu zeigen, | |
dass die dort hätte herkommen sollen. Macquarrie bittet ihn, die drei | |
Rollstühle schriftlich zu bestätigen. Für alle Fälle, falls er wieder aus | |
einem Zug geworfen werden soll. Robustes Auftreten nennt er das. | |
Macquarrie engagiert sich als Mobilitätsaktivist. Wenn er von seinen | |
Erlebnissen beim Bahnfahren erzählt, spricht er zügig und pointiert. An | |
einigen Stellen wartet er auf die Reaktion der Zuhörenden. Dann | |
unterstreicht er das Gesagte mit einem Zucken der Mundwinkel. An die | |
Öffentlichkeit bringt er die Missstände erst seit einem Jahr. | |
Als ihn jemand fragte, wie es denn so sei, mit Rollstuhl Bahn zu fahren, | |
wurde ihm die Notwendigkeit bewusst. Probleme sichtbar machen und so | |
gemeinsam Druck auf die Bahn ausüben – das ist das Ziel der Homepage | |
barrierefreiebahn.de, die er seit Mai mit dem ISL betreibt. | |
Aufregen muss er sich immer wieder über die Toiletten. Zu oft klebt dort | |
ein gelbes „Defekt“-Schild. „Manchmal schließt mir ein Zugbegleiter | |
trotzdem auf. Die Schüssel ist dann zwar halb voll, aber es geht.“ Doch bei | |
einer Fahrt Anfang Dezember rüttelt die Zugbegleiterin nur an der Tür und | |
lässt ihn stehen. Schließlich uriniert er auf die Stufen zur Waggontür. | |
„Das war Nötigung“, sagt er in nüchternem Ton. Sein Blick ist fest, die | |
Mundwinkel zucken. | |
## Hilfe im Fragendschungel | |
Seit 15 Jahren arbeitet die Bahn mit dem Deutschen Behindertenrat zusammen. | |
78 Prozent der 5.700 Bahnhöfe seien stufenlos erreichbar, jährlich baue sie | |
100 weitere Haltepunkte barrierefrei aus, heißt es auf der Infoseite. 16 | |
mobile Teams helfen beim Ein- und Aussteigen an Bahnhöfen ohne Personal. | |
Die Bahn müht sich. Doch Macquarrie vermisst ein umfassendes Konzept. | |
Kompliziert sei auch das Formular zur Anmeldung von Bahnfahrten. „Für eine | |
Hin- und Rückfahrt mit jeweils einmal umsteigen, muss ich im Onlineformular | |
des MSZ 79 Felder ausfüllen!“, schüttelt er den Kopf. | |
Um den [2][Fragendschungel des Hilfsformulars] zu lichten, hat Philipp | |
Maier, ein Mitaktivist von Macquarrie, die [3][App „Hase“ programmiert. | |
„Hase“ steht für Hilfsleistungen als Service]. „Was die Bahn über Jahre | |
nicht geschafft hat, hat er in sieben Tage entwickelt“, erzählt Macquarrie. | |
Hase speichert die persönlichen Daten des*r Reisenden und überträgt sie | |
automatisch in das Bahnformular. | |
Macquarrie will, dass die Bahn diesen Service mit anbietet. Dafür hat er | |
Anfang des Jahres [4][eine Onlinepetition an Bahnchef Richard Lutz] | |
initiiert. 93.000 Menschen haben seitdem unterschrieben. „Die Petition | |
beende ich erst, wenn die Bahn das umsetzt oder Lutz im Rollstuhl mit mir | |
Zug fährt.“ Bisher hat der Vorstandschef abgelehnt, aus Zeitmangel. | |
## Misstrauen am eigenen System | |
Kurz vor Hamburg kommt noch mal der Zugbegleiter. Die schriftliche | |
Bestätigung über die drei Rollstühle hat er nicht dabei. Dafür hakt er | |
nach, wo Macquarrie aussteigen wolle. „Damit auch wirklich der Hublift am | |
Bahnsteig wartet“, vermutet Macquarrie. Der Mitarbeiter scheint dem eigenen | |
System nicht zu trauen. | |
Auf die Frage, ob Macquarrie noch Lust auf Bahnfahren habe, antwortet er | |
mit eindeutigem Nicken. „Ich mache kooperativen Krawall mit eigenen | |
Verbesserungsvorschlägen.“ Ihn bestärken die Menschen, die hinter der | |
Petition stehen. | |
Und zur Motivation gebe es Fahrten, die fast perfekt funktionieren: Als der | |
Eurocity pünktlich in Kiel einfährt, wartet neben einem Hublift eine | |
Mitarbeiterin mit roter Mütze. Die nächste Reise könnte in der | |
Fahrtenlotterie aber wieder ganz anders aussehen. | |
22 Dec 2019 | |
## LINKS | |
[1] https://www.bahn.de/p/view/service/barrierefrei/uebersicht.shtml | |
[2] https://msz-hilfe.specials-bahn.de/ | |
[3] https://hilfeleistung-als-service.de/ | |
[4] https://www.change.org/p/deutsche-bahn-ag-bahnfahren-einfach-machen-f%C3%BC… | |
## AUTOREN | |
Isabel Röder | |
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