# taz.de -- Sexuelle Übergriffe von Köln: Ein halbes Jahr nach Silvester | |
> Köln wurde zum Symbol für Ängste und eine gescheiterte Willkommenskultur. | |
> Was wissen wir heute darüber, was dort passiert ist? | |
Bild: Die Kölner Domplatte wurde nach Silvester zur Projektionsfläche | |
KÖLN taz | Der Mann sah „südländisch“ aus, das sei ihr sofort aufgefalle… | |
sagt Jennifer D. am vergangenen Donnerstag vor dem Kölner Amtsgericht. Er | |
quatschte sie vor dem Dom an, sagte, er wolle ein Foto mit ihr und ihrer | |
Freundin. Jennifer D.s Verlobter machte eines. Kurz danach kam noch einer, | |
auch er wollte ein Foto mit den beiden jungen Frauen. Jennifer D. ist 27, | |
zierlich, hat lange blonde Haare. Sie knetet ihre Hände beim Erzählen. Dann | |
versagt ihre Stimme, sie weint. | |
Immer mehr Männer kamen, zehn, fünfzehn, umzingelten sie, sagten etwas von | |
„Ficken“ und „Sex“. Einer packte sie am Hintern, ein anderer griff ihr … | |
den Schritt. Ein Typ nahm ihre Freundin Lena S. in den Schwitzkasten, | |
leckte ihr übers Gesicht. Jennifer D.s Verlobter wurde bedroht: „Give me | |
the girls oder tot.“ Irgendwie gelang es Jennifer D., sich aus der Gruppe | |
herauszuwinden und auch ihre Freundin zu befreien. Sie rannten weg. Zurück | |
ins Hostel, das die Siegburger für die Silvesternacht gebucht hatten. | |
Erst eine gute Woche später erstatteten Jennifer D. und Lena S. Anzeige. Da | |
war die Kölner Silvesternacht schon weltweit in den Schlagzeilen. Was | |
Jennifer D. und Lena S. nicht ahnten: Die Handyfotos mit den Tätern wurden | |
zum Glücksfall für die Ermittler, ein seltenes und stichfestes | |
Beweismittel. | |
Der 26-jährige Hassan T. und der 20-jährige Hussein A. werden zu | |
einjährigen Freiheitsstrafen auf Bewährung verurteilt. Das Gericht sieht es | |
als erwiesen an, dass der Jüngere der beiden, ein irakischer Flüchtling, | |
Lena S. sexuell genötigt hat. Der Ältere, ein Algerier, lebt seit | |
eineinhalb Jahren in einer Asylunterkunft in Kerpen bei Köln. Weil er | |
nicht eingriff, wird er wegen Beihilfe zu sexueller Nötigung verurteilt. | |
Und wegen versuchter Nötigung, weil er Jennifer D.s Verlobten bedrohte. | |
## Es war dunkel, eng, chaotisch | |
Ein halbes Jahr nach der Silvesternacht wird damit zum ersten Mal ein | |
sexueller Übergriff geahndet. Ausgerechnet an jenem Tag, an dem der | |
Bundestag beschließt, das Sexualstrafrecht zu verschärfen. Die Kölner | |
Prozesse haben die Reform beschleunigt. | |
„Köln“ ist schnell zur Chiffre geworden. Man muss nur den Namen der Stadt | |
nennen, und in den Köpfen passiert etwas. Köln, ein Symbol für den Kampf | |
der Kulturen, für die Gewalt gegen Frauen, dafür, dass wir es doch nicht | |
schaffen? Die Debatte ist aufgeladen, und in Nordrhein-Westfalen ist | |
Wahlkampf. Was wissen wir heute darüber, was dort passiert ist? Und was | |
folgt daraus? | |
Der Urteilsspruch in den Fällen von Jennifer D. und Lena S. kann nicht | |
darüber hinwegtäuschen, dass die Beweislage zu den sexuellen Übergriffen | |
erschreckend dünn ist und wohl auch bleiben wird. Erst zwei Verfahren gab | |
es dazu vor dem Amtsgericht – angesichts von 491 Strafanzeigen, angefangen | |
von Beleidigung bis hin zu Vergewaltigung, ist das sehr wenig. | |
In einem ersten Verfahren Anfang Mai musste der Vorwurf der sexuellen | |
Nötigung wieder fallen gelassen werden, weil das Opfer den Angeklagten | |
nicht wiedererkannte. Und das ist das Hauptproblem: Die Opfer erkennen die | |
Männer, die sie bestohlen oder begrapscht haben, nicht wieder. Es war | |
dunkel, eng, chaotisch – die Frauen wollten einfach nur weg. | |
Ulrich Bremer von der Staatsanwaltschaft Köln dämpft daher seit Monaten die | |
Erwartungen an die Justiz: „In den gravierendsten Fällen, also bei | |
Vergewaltigungen, haben wir bislang keine Verdächtigen“, sagt er. Insgesamt | |
1.000 Stunden Videomaterial hat die „Soko Neujahr“ ausgewertet, stark | |
verpixelte Aufnahmen aus der dunklen Bahnhofshalle. „Super-Recognizer“ | |
unterstützten sie, besonders geschulte Fahnder, die auch auf schlechten | |
Videoaufnahmen Personen erkennen können. „Die Ermittler haben sogar den Weg | |
der Opfer durch den Hauptbahnhof nachverfolgt, und ihnen dann | |
Videosequenzen von verschiedenen Orten gezeigt“, sagt Bremer. Doch | |
vergeblich, die Frauen erkannten keine Gesichter. | |
## Wie sie sich verabredet haben, bleibt unklar | |
Anfangs arbeiteten 150 Leute bei der „Soko Neujahr“, jetzt sind es noch 17. | |
Sie werten weiterhin vor allem Handyverbindungen aus – noch immer die | |
besten Beweise: Handys lassen sich orten, ihr Verkauf durch Seriennummern | |
belegen. Damit lassen sich Diebstahl und Hehlerei nachweisen. Aber eben | |
keine sexuellen Übergriffe. | |
Insgesamt laufen gegen 215 Beschuldigte Ermittlungsverfahren, in 43 Fällen | |
auch wegen sexueller Gewalt. Nur drei Verdächtige sitzen wegen einer | |
Sexualstraftat in Untersuchungshaft. Zwei Drittel der Tatverdächtigen | |
stammen aus Nordafrika, bei der Hälfte ist der Aufenthaltsstatus ungeklärt. | |
Seit Jahren kümmert sich bei der Kölner Polizei ein speziell geschultes | |
Team um das „Maghrebmilieu“, sammelt die Daten nordafrikanischer Straftäter | |
in einer eigenen Datei namens „Nafri“. Was viele erstaunte: Es gibt keine | |
Überschneidungen mit den Tätern der Silvesternacht. Das heißt, die meisten | |
Beschuldigten stammen nicht aus der Kölner Antänzerszene, sie sind erst im | |
Herbst oder Winter 2015 nach Deutschland eingereist. An Silvester kamen sie | |
aus verschiedenen Städten Nordrhein-Westfalens nach Köln. | |
Wie sie sich verabredet haben, ist immer noch ein Rätsel. Auch im Verfahren | |
von Jennifer D. und Lena S. konnte nicht geklärt werden, ob und woher die | |
Angeklagten sich kannten und was sie auf die Domplatte geführt hatte. | |
Es gibt bis heute keine Hinweise auf ein organisiertes Verbrechen oder auf | |
einzelne Drahtzieher. Alles deutet darauf hin, dass sich die Männer spontan | |
zu Gruppen zusammenschlossen. Um mehr zu erfahren, werten die Ermittler | |
auch soziale Medien aus, lassen Chatverläufe aus dem Arabischen übersetzen. | |
Dass das, was Jennifer D. und Lena S. passiert ist – Küssen, Begrapschen | |
und Lecken übers Gesicht –, als sexuelle Nötigung eingestuft wurde, ist | |
erstaunlich. Solche Übergriffe galten bisher meist als nicht erheblich, | |
sagt Martina Lörsch vom Deutschen Juristinnenbund. Die Bonner | |
Rechtsanwältin engagiert sich seit Jahren für den Schutz von Gewaltopfern. | |
„Da alle Sexualdelikte mit recht hohem Strafmaß geahndet werden – das | |
Minimum ist ein halbes Jahr Freiheitsstrafe –, zögern die meisten Gerichte, | |
hart zu urteilen.“ | |
## Sie erkannte ihn in einem Fernsehbeitrag | |
Mit der Reform des Sexualstrafrechts dürfte sich das ändern. Dann könnte | |
etwa das neue Delikt „sexuelle Belästigung“ greifen und künftig eine | |
Geldstrafe verhängt werden. Auch der umstrittene neue Tatbestand | |
„Straftaten aus Gruppen“ wird dann gelten – danach macht sich strafbar, w… | |
mit anderen ein Opfer „bedrängt“, um Straftaten zu begehen. | |
Allerdings: All das löst keine Beweisprobleme. Auch weiterhin wird die | |
Verurteilung von Sexualdelikten häufig daran scheitern. Daher warnt | |
Rechtsanwältin Lörsch vor „populistischen Hoffnungen, die nicht erfüllt | |
werden können.“ | |
Wie lange die juristische Aufarbeitung der Silvesterübergriffe noch dauern | |
wird, kann niemand sagen. Es gibt Dutzende DNA-Proben von Tatverdächtigen. | |
Theoretisch können also auch noch Jahre später durch den Abgleich | |
genetischer Spuren Täter gefunden werden. Aber sehr wahrscheinlich ist das | |
nicht. | |
In zwei Verfahren zu sexueller Nötigung in der Silvesternacht stehen die | |
Entscheidungen des Kölner Amtsgerichts noch aus. Wann sie verhandelt | |
werden, ist ungewiss. Einer der beiden Fälle ging unter dem Namen „Mehdi“ | |
durch die Presse. Der gleichnamige Marokkaner war einige Tage nach | |
Silvester als Taschendieb festgenommen und zu Jugendarrest verurteilt | |
worden. | |
Eine Studentin erkannte den 19-Jährigen in einem Fernsehbeitrag über die | |
Kölner Antänzerszene als einen der Männer, der sie an Silvester | |
attackierte. Bleibt zu hoffen, dass sie im Gerichtssaal die Erinnerung | |
nicht im Stich lässt. | |
Sogar Jennifer D. zögerte, konnte den Angeklagten im Gericht nicht | |
„hundertprozentig“ als den Mann identifizieren, der ihre Freundin Lena S. | |
so massiv bedrängt hatte. Gäbe es die Fotos auf dem Handy ihres Verlobten | |
nicht, hätte es auch in diesem Fall heißen müssen: Im Zweifel für den | |
Angeklagten. | |
10 Jul 2016 | |
## AUTOREN | |
Claudia Hennen | |
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