| # taz.de -- Reform des Sexualstrafrechts: Eine Frage des Timings | |
| > Katja Grieger feiert die Verabschiedung des Gesetzes. Sie hat die Debatte | |
| > „Nein heißt nein“ mit angestoßen – und lange für diesen Moment gekä… | |
| Bild: Während der Abstimmung geben auch draußen vor dem Bundestag Menschen de… | |
| Berlin taz | Hoch oben auf der Zuschauertribüne im Bundestag sitzt Katja | |
| Grieger. Die Chefin des [1][Bundesverbandes der Frauenberatungsstellen und | |
| Frauennotrufe] (bff) in Berlin will live dabei sein, wenn das Parlament | |
| eine der größten Reformen des Sexualstrafrechts beschließt. Sie will | |
| erleben, wie sich eine große Mehrheit der VolksvertreterInnen zu einem | |
| kleinen Satz bekennt: „Nein heißt Nein“. | |
| Auf diesen Moment hat Katja Grieger jahrelang hin gearbeitet. In diesem | |
| Moment ist es auch egal, dass viele Menschen im Land glauben, die | |
| massenhaften [2][sexuellen Übergriffe auf Frauen in der Kölner | |
| Silvesternacht] und die [3][„Vergewaltigungsprozesse“ um das Model | |
| Gina-Lisa Lohfink] seien der Grund für das Zustandekommen der Reform. | |
| Denn nur wenige wissen, dass die Frauenbewegung schon seit den 1980er | |
| Jahren für ein schärferes Sexualstrafrecht kämpft. Zuletzt ausführlich | |
| Mitte der 1990er Jahre. Damals erreichten sie, dass 1997 die Vergewaltigung | |
| in der Ehe endlich unter Strafe gestellt wurde. Die Ereignisse von Köln und | |
| die Causa Lohfink mögen die Stimmung dafür bereitet haben, dass Menschen, | |
| die die Ablehnung eines sexuellen Angebots ignorieren, künftig leichter | |
| verurteilt werden können. Aber ausgelöst haben sie sie nicht. Dafür haben | |
| andere gesorgt, hauptsächlich Frauen. Eine von ihnen ist Katja Grieger. | |
| In der Bundestagsdebatte reden Abgeordnete der Koalition und der Opposition | |
| jetzt über sexuelle Gewalt, über Gewalt, Gruppendelikte und Angrapschen. | |
| Dass die jetzige Reform längst überfällig sei. Und dass es mehr Opferschutz | |
| brauche. Solche Sätze. Sätze, die auch Katja Grieger seit Jahren mantrahaft | |
| wiederholt. | |
| ## Jede siebte Frau Opfer von Gewalt | |
| Sie hört auch mehrfach ihren eigenen Namen: Vor allem ihr sei es zu | |
| verdanken, dass der Bundestag heute die Reform beschließt. Beim Wort | |
| „Paradigmenwechsel“ hält sie kurz die Luft an. Jetzt entfaltete der lange | |
| Atem, den etliche Frauen- und Menschenrechtsorganisationen seit Jahrzehnten | |
| entwickelt hatten, seine Wirkung. | |
| Katja Grieger kann die Zahlen und Fakten zu sexueller Gewalt in Deutschland | |
| im Schlaf runterbeten: Jede siebte Frau in Deutschland erlebt einer Studie | |
| des Familienministeriums zufolge mindestens einmal in ihrem Leben sexuelle | |
| Gewalt. Jedes Jahr werden rund 8.000 Vergewaltigungen angezeigt. Die | |
| tatsächliche Zahl liegt höher, ExpertInnen gehen von einer Dunkelziffer | |
| zwischen 85 und 95 Prozent aus. Nur etwa 5 der angezeigten Täter werden | |
| verurteilt. | |
| Wieso werden so wenig Vergewaltiger bestraft, fragte sich Grieger. Warum | |
| müssen sich die zum Teil schwer traumatisierten Opfer vor Gericht von | |
| RichterInnen Fragen stellen lassen, die sich anfühlen wie ein zweiter | |
| Übergriff? | |
| Um diesen Missstand zu ändern, begann Grieger einen Kongress vorzubereiten, | |
| der im September 2010 unter dem Titel „Streitsache Sexualdelikte“ in Berlin | |
| stattfand. Der Kongress sollte das mangelhafte Sexualstrafrecht mit | |
| juristischen Sachargumenten geißeln. Grieger suchte eine | |
| Rechtswissenschaftlerin, die diese Rolle übernehmen wollte. Aber sie fand | |
| keine. Die Juristinnen erklärten unisono, dass der Vergewaltigungsparagraf | |
| derzeit nicht Gegenstand der juristischen Debatte sei. | |
| ## Zur falschen Zeit | |
| Dabei war Vergewaltigung zu jener Zeit ein großes Thema. Der | |
| Wettermoderator Jörg Kachelmann stand vor Gericht, weil er eine seiner | |
| Geliebten angeblich vergewaltigt hatte. | |
| Katja Grieger beschloss, die sogenannten Schutzlücken im Sexualstrafrecht | |
| selber anzugehen. Und sagte in ihrer Einführungsrede auf dem Kongress: „Ein | |
| Nein wird als Widerstand nicht anerkannt.“ Der Satz verhallte ungehört. | |
| Falscher Zeitpunkt. | |
| Doch das Blatt wendete sich schneller, als die bff-Chefin damals ahnte. Am | |
| 11. Mai 2011 beschloss der Europarat das „Übereinkommen zur Verhütung und | |
| Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“, die | |
| [4][sogenannte Istanbul-Konvention]. | |
| Grieger wusste, dass die Chance für die Reform gekommen war. Aus einem | |
| schlichtem Grund: Der deutsche Vergewaltigungsparagraf 177 widersprach den | |
| Europarats-Vorgaben. Die besagen, dass für sexuelle Handlungen ein | |
| „Einverständnis“ vorliegen muss. Oder anders ausgedrückt: Ja heißt Ja und | |
| Nein heißt Nein. | |
| ## Nur mit Einverständnis | |
| Deutschland hatte die Instanbul-Konvention unterzeichnet und war dadurch | |
| verpflichtet, das deutsche Sexualstrafrecht nachzubessern. Hastig | |
| durchforsteten Juristinnen das Gesetz nach den Schutzlücken. Grieger und | |
| ihre Kolleginnen sammelten Vergewaltigungsfälle, bei denen das Verfahren | |
| aufgrund der Rechtslage eingestellt oder der Täter freigesprochen wurde. | |
| Im Sommer 2014 veröffentlichten sie die Analyse mit über 100 solcher Fälle. | |
| Sie legten Justizminister Heiko Maas (SPD) die Sammlung vor und forderten | |
| ihn auf, dafür zu sorgen, dass „jede sexuelle Handlung gegen das | |
| Einverständnis der Betroffenen“ bestraft wird. | |
| Nun ging es Schlag auf Schlag. Andere Frauen- und | |
| Menschenrechtsorganisationen holten ihre Studien und politischen | |
| Forderungen aus den Schubladen, die dort schön länger auf den „richtigen | |
| Moment“ warteten. Im Mai 2014 forderte der [5][Deutsche Juristinnenbund], | |
| das Sexualstrafrecht zu modernisieren. Im Januar 2015 legte das | |
| [6][Deutsche Institut für Menschenrechte] (DIMR) in Berlin ein juristisches | |
| Gutachten für eine Reform des Sexualstrafrechts vor und lieferte einen | |
| Formulierungsvorschlag mit: „Nein heißt Nein“. | |
| Jetzt war die öffentliche Debatte vollends entfacht. Der Justizminister | |
| musste reagieren und setzte im Februar 2015 eine Kommission ein, die das | |
| Sexualstrafrecht grundsätzlich überarbeiten sollte. Im Juli 2015 | |
| präsentierte er einen Gesetzentwurf, der die sexuelle Selbstbestimmung | |
| besser schützen sollte. Mit einer Überraschung: Die Formulierung [7][„Nein | |
| heißt Nein“ stand nicht drin]. | |
| ## Kampf um das Gesetz | |
| Katja Grieger war überrascht. Und fürchtete, dass die Chance auf die | |
| Strafrechtsreform für Jahrzehnte vertan wäre, wenn das Gesetz in dieser | |
| laschen Form verabschiedet würde. Dann müssten Opfer weiterhin die zum Teil | |
| erniedrigende Gerichtsverfahren über sich ergehen lassen. Dann wäre ein | |
| Nein, das nicht ausgesprochen oder durch Weinen verdeutlicht wird, kein | |
| „echtes Nein“. Dann kämen manche Täter, wie jene auf der Kölner Domplatt… | |
| nach wie vor davon. | |
| So sahen das auch andere Expertinnen, sie bildeten rasch ein Bündnis. | |
| Darunter das Deutsche Institut für Menschenrechte, der [8][Deutsche | |
| Frauenrat], [9][Terre des Femmes], Frauenhäuser und Frauenberatungsstellen. | |
| Die Frauen schrieben Briefe ans Justizministerium, sie trafen sich mit | |
| Bundestagsabgeordneten. Sie argumentierten, erklärten, forderten. Sie | |
| veröffentlichten einen [10][Offenen Brief an Bundeskanzlerin Angela | |
| Merkel]. | |
| Bundestagsabgeordnete wie Elisabeth Winkelmeier-Becker, CDU, | |
| solidarisierten sich. „Der Grundsatz ‚Nein heißt Nein‘ verträgt keine | |
| Einschränkung“, sagte die rechtspolitische Sprecherin der Unions-Fraktion. | |
| SPD-Frauen wie Eva Högl, Vizechefin ihrer Fraktion im Bundestag, standen | |
| ohnehin auf der Bündnis-Seite. Ebenso die Grünen und die Linkspartei. | |
| ## Nicht mehr „wie“ sondern „wann“ | |
| Am 28. April [11][verhandelte der Bundestag zum ersten Mal] über den | |
| Gesetzentwurf von Heiko Maas. Die Kritik daran war so massiv, dass klar | |
| war: Das Papier muss nachgebessert werden. Für Katja Grieger war das der | |
| Durchbruch. | |
| Als sich drei Tage später auch noch die Fraktionschefs von Union und SPD, | |
| Volker Kauder und Thomas Oppermann, für den „Nein heißt Nein“-Passus | |
| aussprachen, hieß es nicht mehr: Wie soll das Gesetz aussehen? Sondern nur | |
| noch: Wann wird es endlich beschlossen? | |
| Die Abgeordneten Högl und Winkelmeier-Becker erkannten die „gute Stimmung“ | |
| und steuerten die letzte Woche vor der parlamentarischen Sommerpause an. | |
| Den heutigen Donnerstag. Ein historischer Moment. | |
| Gegen Mittag, nach dem Bundestagsbeschluss, eilt Katja Grieger ins Büro. | |
| Für einen letzten Akt: Presseanfragen, Statements, O-Töne. Den Sekt, den | |
| ihre Kolleginnen morgens im Kühlschrank deponiert hatten, wird sie später | |
| trinken. | |
| 7 Jul 2016 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://www.frauen-gegen-gewalt.de/aktuelles.html | |
| [2] /!5263228/ | |
| [3] /!5313164/ | |
| [4] /!5036062/ | |
| [5] http://www.djb.de/ | |
| [6] http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/startseite/ | |
| [7] /!5214660/ | |
| [8] http://www.frauenrat.de/ | |
| [9] http://www.frauenrechte.de/online/index.php | |
| [10] http://www.frauenrechte.de/online/index.php/themen-und-aktionen/haeusliche… | |
| [11] /!5297002/ | |
| ## AUTOREN | |
| Simone Schmollack | |
| ## TAGS | |
| Vergewaltigung | |
| Gina-Lisa Lohfink | |
| Köln | |
| Sexualstrafrecht | |
| Nein heißt Nein | |
| Bundestag | |
| Gewalt gegen Frauen | |
| Vergewaltigung | |
| Gina-Lisa Lohfink | |
| Gina-Lisa Lohfink | |
| Schwerpunkt Rassismus | |
| Asylrecht | |
| Köln | |
| Gina-Lisa Lohfink | |
| Sexualstrafrecht | |
| Sexualstrafrecht | |
| Vergewaltigung | |
| Luft und Liebe | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Kommentar Gewalt gegen Frauen: Wegsehen und Verharmlosen | |
| Es fehlt nicht an den Gesetzen, um körperliche und sexuelle Gewalt gegen | |
| Frauen zu stoppen. Doch mangelt es an einer konsequenten Anwendung. | |
| Autorin Sanyal über Vergewaltigung: „Opfer müssen gut und rein sein“ | |
| Mithu Sanyal forscht zur Vulva und zur Kulturgeschichte der Vergewaltigung. | |
| Sie hat Gina-Lisa Lohfink unterstützt, beklagt aber fehlende Empathie für | |
| Männer. | |
| Prozess gegen Gina-Lisa Lohfink: Offenbar keine K.-o.-Tropfen im Spiel | |
| Das Model sei in der umstrittenen Nacht wach und orientiert gewesen, sagt | |
| ein Medikamentenexperte. Er schließt den Einsatz von K.-o.-Tropfen aus. | |
| Fortsetzung im Lohfink-Prozess: Tränen vor Gericht | |
| Nach dem Vergewaltigungsvorwurf wird dem früheren Model falsche | |
| Verdächtigung vorgeworfen. Das Gericht sieht emotionale Überforderung. | |
| „Nein heißt nein“: Es ging nie um die Frauen | |
| Die Reform des Sexualstrafrechts war unerlässlich. Doch die Party fällt aus | |
| – denn das Gesetz steht in kolonialistischer Tradition. | |
| Anti-Flüchtlingsnachrichten in Schweden: Brexit auf Schwedisch | |
| Eine Aktivistin wehrt sich gegen die „Daily Mail“. Das Blatt habe Zitate | |
| von ihr verfälscht, um ein negatives Bild von Flüchtlingen zu zeichnen. | |
| Sexuelle Übergriffe von Köln: Ein halbes Jahr nach Silvester | |
| Köln wurde zum Symbol für Ängste und eine gescheiterte Willkommenskultur. | |
| Was wissen wir heute darüber, was dort passiert ist? | |
| Kommentar Gina-Lisa Lohfink vor Gericht: Nur eine von vielen | |
| Der Fall Gina-Lisa Lohfink zeigt, wie überfällig eine Verschärfung des | |
| Sexualstrafrechts ist. Aber das macht sie nicht zu einer Vorkämpferin. | |
| Kommentar Reform des Sexualstrafrechts: Selbstbestimmung ja, Rassismus nein | |
| „Nach Köln“ wird das Sexualstrafrecht verschärft – das ist gut. Doch da… | |
| es nicht dazu führen, dass nicht weiße Täter eher verurteilt werden. | |
| Kommentar Sexualstrafrecht: Maas bleibt mäßig | |
| Das Sexualstrafrecht bleibt weitgehend reaktionär. „Nein heißt Nein“ gilt | |
| weiter nicht, Frauen müssen meist Widerstand leisten. | |
| Debatte Reform Sexualstrafrecht: Das bisschen Grabschen | |
| Frauen müssen besser geschützt werden, hieß es nach Köln. Justizminister | |
| Maas versäumt es, das antiquierte Sexualrecht zu reformieren. | |
| Kolumne Luft und Liebe: Ein Paragraf, der wehtut | |
| Nein heißt Nein, aber ein Nein reicht in Deutschland nicht aus. Die meisten | |
| Vergewaltigungen bleiben straffrei. |