# taz.de -- Wem gehört der 1. Mai?: Klassenkampf mit neuen Fronten | |
> Der Tag der Arbeit gehört nicht mehr nur den Gewerkschaften: In | |
> Niedersachsen springt die katholische Kirche osteuropäischen Arbeitern | |
> bei. | |
Bild: Bekommen zum 1. Mai Unterstützung von der Kirche: Schlachthofarbeiter | |
Bremen taz | Wer nach dem Sinn von 1.-Mai-Feiern fragt, jenseits von | |
mitunter muffig anmutender Politfolklore, der muss nach Vechta. Dort gibt | |
es zwar keine große Tag-der-Arbeit-Tradition, aber doch findet genau dort | |
in diesem Jahr eine der bemerkenswertesten Demos und Kundgebungen statt. | |
Treffpunkt ist um 13 Uhr der Europaplatz in der Stadtmitte, und es geht um | |
ein dringliches Anliegen. Eines, für das sich auch die DGB-Gewerkschaften | |
in den vergangenen Jahren einsetzen – durchaus uneigennützig, denn neue | |
Mitglieder kriegen sie dadurch kaum; ein Anliegen auch, bei dem die | |
klassischen Instrumente des Arbeitskampfs letztlich wirkungslos bleiben, | |
denn die Arbeitgeberseite verfolgt mit einiger Konsequenz den zynischen | |
Ansatz der Reduktion von Menschen auf ihre Arbeitskraft – und deren völlige | |
Austauschbarkeit. | |
Worum es geht, ist der Missbrauch bei Leih- und Werkverträgen, insbesondere | |
in der Fleischindustrie: Vechta und Diepholz sind die Landkreise mit | |
Deutschlands höchster Schweinedichte. Vechta und Diepholz, das sind | |
Schweine und Schlachthöfe. | |
Zur Demo am Sonntag hat daher ein breiter Zusammenschluss aufgerufen: Zum | |
Bündnis Menschenwürde in der Arbeitswelt gehört neben gewerkschaftlichen | |
und agrarpolitischen Gruppen auch die bewundernswert energische | |
Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg. Und auch Kirchenvertreter: Einer der | |
Hauptredner wird Prälat Peter Kossen sein, immerhin Nummer zwei in der | |
Hierarchie des Offizialats; so heißt diese direkt dem Bischof von Münster | |
unterstellte kirchenrechtliche Sonderform, eine katholische Enklave im eher | |
protestantischen Oldenburger Land. | |
Kossen darf immerhin den Titel eines päpstlichen Hauskaplans führen. Und | |
auch wenn er sagt, dass der „eigentlich nix“ bedeute und eher so „ein | |
Relikt aus vergangenen Zeiten“ sei, heißt dieser Titel dann doch: Wer ihn | |
trägt, ist kein Niemand in der katholischen Nomenklatur. | |
Das ist bemerkenswert, weil ja einerseits auf dem Land die Kirche oft | |
wichtiger ist als die Gewerkschaft. Und andererseits pflegte die | |
katholische Kirche stets ein eher gespanntes Verhältnis zur | |
Arbeiterbewegung: In Konkurrenz zum internationalen Kampftag erklärte Papst | |
Pius XII. in den 1950er-Jahren den 1. Mai zum Gedenktag für Sankt Josef, | |
den Arbeiter. Pius XII., das war der Papst, der in einem wichtigen | |
Rundschreiben zwar den Klassenkampf als legitime Auseinandersetzung | |
bestimmte, aber zugleich den „Gegensatz zwischen sozialistischer und | |
christlicher Gesellschaftsauffassung“ für „unüberbrückbar“ erklärte. | |
Das ist natürlich alles lange her, und mit dem Sozialismus wollen nicht mal | |
die Gewerkschaften noch etwas am Hut haben, aber die Distanzen hat man doch | |
meist gewahrt. So kriegt auch Prälat Kossen mitunter noch zu hören, dass er | |
sich doch besser um geistliche Belange kümmerte, und diese Stimmen kommen | |
von inner- wie von außerhalb der Kirche. | |
Selbst der Bischof, der das Engagement für die Leiharbeiter inhaltlich für | |
richtig und für relevant hält, sähe es angeblich lieber, wenn sich darum | |
statt eines hochrangigen Geistlichen nur die katholischen Sozialverbände | |
kümmern würden, von Kolpingwerk bis Katholischer Arbeitnehmerbewegung. | |
„Aber ich weiß“, sagt Kossen, „dass es in Politik und Medien einfach | |
manchmal ein Name und ein Kopf sein muss, um die Sache voranzubringen.“ | |
Die Sache der Leih- und Werkvertragsarbeiter brennt, und das tut sie auf | |
dem Land: In der Saisonarbeit – jetzt ist Spargelzeit, und bald kommen auch | |
wieder die Erdbeeren –, aber mehr noch in der Fleischindustrie: „Das ist | |
teilweise moderne Sklaverei“, sagt Kossen. | |
Ein Schlaglicht darauf warf Ende März der Brand in der | |
Wiesenhof-Geflügelschlachtfabrik in Lohne, Kreis Vechta: Kaum war das Feuer | |
gelöscht, wurden schon Massenentlassungen angekündigt, von irgendwann 1.250 | |
Beschäftigten ist nur noch Arbeit für 300 da. Und Auffanggesellschaften | |
oder Sozialpläne wird es für die Leiharbeiter nicht geben. Dabei ist PHW, | |
der Wiesenhof-Dachkonzern, längst nicht der schlechteste Arbeitgeber, so | |
Kossen: „Die hatten dort sogar noch einen ungewöhnlich hohen Anteil | |
Stammbelegschaft.“ Mehr als die Hälfte der Arbeiter waren fest angestellt, | |
während in den Schlachthöfen des Schweinegürtels 80 Prozent Leiharbeit | |
üblich sind. | |
Und diese Menschen schuften unter Bedingungen, die im Kommunikationsraum | |
Stadt niemand hinnähme. Oft landen die von Subunternehmern zweiter Ordnung | |
angeheuerten Arbeitskräfte in barackenartigen Unterkünften mit | |
Zwölfbettzimmern und atemberaubenden Sanitäranlagen. Fürs Bett werden bis | |
zu zwölf Euro vom Lohn pro Nacht abgezogen, 200 bis 300 Euro im Monat, | |
überhöhte Reisekosten werden in Rechnung gestellt und sieben Tage Arbeit | |
die Woche verlangt, „ganz ohne einen freien Tag“, sagt Kossen. „Das ist | |
klar, dass solche Bedingungen die Leute körperlich und seelisch ruiniert“. | |
Krankengeld ist auch keins vorgesehen. | |
Seit 2013 hat das Land Niedersachsen mehrfach versucht, die Lage zu | |
verbessern, „das muss man anerkennen“, sagt Kossen. Aber selbst der | |
Mindestlohn hat die Ausbeutung bestenfalls erschwert: Kossen zufolge gibt | |
„offenbar viele Möglichkeiten“, die Regeln „auszuhöhlen und die Kontrol… | |
zu unterlaufen“. | |
Den ganzen Schwerpunkt zum Thema „1. Mai – Klassenkampf mit neuen Fronten“ | |
lesen Sie in der gedruckten Ausgabe der taz.Nord oder [1][hier]. | |
30 Apr 2016 | |
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## AUTOREN | |
Benno Schirrmeister | |
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