| # taz.de -- Alternativen zur Riesterrente: Angst vor der Altersarmut | |
| > Die Gewinne sind hoch, die Auszahlungen für die Versicherten dagegen | |
| > mickrig. Trotzdem schließen viele private Rentenversicherungen ab. | |
| Bild: Nach der Lohnarbeit kommt die Entspannung – oder die nackte Existenzang… | |
| Berlin taz | Als Schüler besorgte er seinen Freunden | |
| Mofa-Versicherungsschilder, sein Vater arbeitete Jahrzehnte in der | |
| Schadenabteilung der Concordia-Versicherung. Als der Vater dem damals | |
| 13-Jährigen Matthias W. Birkwald erklärte, wie private Rentenversicherer | |
| mit Hilfe von Sterbetafeln die Lebenserwartung ihrer Kunden berechnen, | |
| beschloss der, mindestens 90 Jahre alt zu werden – damit sich die Sache für | |
| ihn auch lohnt. | |
| Doch der heutige Bundestagsabgeordnete der Linkspartei hat nie eine private | |
| Rentenversicherung abgeschlossen. Nach näherer Betrachtung war ihm schnell | |
| klar, dass von diesen Verträgen vor allem der Versicherer profitiert. Statt | |
| Kunde ist der 54-Jährige einer der schärfsten Kritiker der Branche | |
| geworden. | |
| Wenn am Mittwoch das Spitzenpersonal der deutschen Versicherungswirtschaft | |
| im ehemaligen DDR-Staatsratsgebäude in Berlin-Mitte die Geschäftszahlen der | |
| Branche für 2015 präsentiert, wird der rentenpolitische Sprecher der | |
| Linksfraktion das aufmerksam verfolgen. Dort wird es um das Thema | |
| Altersvorsorge gehen, denn viele Millionen Menschen haben eine oder gar | |
| mehrere Lebens- oder private Rentenversicherungen abgeschlossen, um im | |
| Ruhestand nicht nur auf die gesetzliche Rente angewiesen zu sein. | |
| Mehr als 90 Millionen Verträge verwalten die deutschen Lebensversicherer – | |
| bei rund 80 Millionen Einwohnern. Wenige haben wie Birkwald keinen | |
| einzigen, manche haben mehrere. Der Chef der Allianz Lebensversicherung | |
| Markus Faulhaber, der die Branchenzahlen für seine Sparte präsentieren | |
| wird, hat zehn Verträge – was er, wie viele Versicherungsmanager – | |
| Journalisten immer wieder gerne erzählt. | |
| ## Die Gewinne steigen | |
| Der studierte Mathematiker Faulhaber wird am Mittwoch mit gigantischen | |
| Zahlen jonglieren: Die privaten Altersvorsorger haben im vergangenen Jahr | |
| mehr als 92 Milliarden Euro an Beiträgen von Kunden eingesammelt. Das war | |
| zwar um die 1 Prozent weniger als im Vorjahr – schließlich hat sich | |
| herumgesprochen, dass die Verträge nichts bringen. Der Gewinn der | |
| Gesellschaften ist aber deshalb nicht geschmolzen, wie das Beispiel Allianz | |
| zeigt: 31 Milliarden Euro hat die Lebensversicherungssparte des | |
| Marktführers an Beitragszahlungen von Kunden verbucht, ebenfalls weniger | |
| als im Vorjahr. | |
| Der Gewinn ist trotzdem um 4 Prozent gestiegen, auf stolze 2,7 Milliarden | |
| Euro – das Unternehmen hat die Ausgaben gedrückt. Kunden haben nichts | |
| davon, ihre Gewinnbeteiligung würde nicht angehoben. Dabei bräuchten sie | |
| dringend höhere Privatrenten, denn von der gesetzlichen haben sie nicht | |
| viel zu erwarten. | |
| In der Versicherungswirtschaft stehen nicht Kunden an erster Stelle, | |
| sondern die Interessen der jeweiligen Gesellschaft. Mehr als 200.000 | |
| Vermittler müssen ernährt, unzählige Aktionäre mit Dividenden | |
| zufriedengestellt werden. Auch wenn Verbraucherschützer vor einem Abschluss | |
| warnen, schließen viele Menschen private Rentenversicherungen ab, weil sie | |
| Angst vor Altersarmut haben und keine Alternative sehen. Das würde der | |
| Abgeordnete Birkwald gerne ändern. „Bürger sollen freiwillig viel mehr Geld | |
| in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen können, als es heute | |
| möglich ist“, sagt er. Dann würde wohl kaum noch jemand eine private | |
| Rentenversicherung abschließen. | |
| Die gesetzliche Rentenversicherung finanziert die Auszahlungen mit den | |
| Beiträgen der Beschäftigten und der Arbeitgeber. Die privaten | |
| Versicherungsgesellschaften mit Hilfe des angesammelten Kapitals. Die | |
| Lebensversicherer verwalten Kapitalanlagen in Höhe von 900 Milliarden. Das | |
| Problem: Die Zinsen, die sie bekommen, sind extrem niedrig. „Die anhaltende | |
| Niedrigzinsphase trifft diese Form der Altersvorsorge sehr hart“, sagt der | |
| Sozialwissenschaftler Stefan Sell von der Hochschule Koblenz. „Die | |
| Versicherer haben einen Anlagenotstand.“ | |
| Der Wissenschaftler zeichnet ein drastisches Bild von der privaten | |
| Altersvorsorge. „Die Lebensversicherer sind nicht dazu in der Lage, | |
| annähernd die Renditen zu erwirtschaften, die sie früher versprochen | |
| haben“, sagt er. Als die Zinsen hoch waren, haben die Versicherer Kunden | |
| mit Zinsen von 5, 6 Prozent gelockt – das waren unverbindliche Versprechen, | |
| aber Vertreter haben sie den Kunden als verbindlich verkauft. Deshalb | |
| werden Millionen Menschen eine geringere Zusatzrente bekommen als | |
| ursprünglich gedacht. | |
| ## Drastisch gesunkene Ansprüche | |
| Sell ist kein grundsätzlicher Kritiker der privaten Altersvorsorge. Er ist | |
| Anhänger des Cappuccino-Modells: Die gesetzliche Rente ist die Grundlage. | |
| „Die zusätzliche Altersvorsorge sollte nur ein Sahnehäubchen obendrauf | |
| sein“, sagt er. Doch genau das ist sie nach der rot-grünen Rentenreform um | |
| die Jahrtausendwende nicht mehr. Die damalige Bundesregierung hat die | |
| Rentenansprüche drastisch gesenkt und mit der Riester-Rente die | |
| Teilprivatisierung der Altersvorsorge vollzogen. | |
| Bis zum Jahr 2030 sinkt das Rentenniveau schrittweise. Die Lücken sollten | |
| durch die staatlich geförderten Verträge gefüllt werden – das war zumindest | |
| die Idee. Die Privatrente mit Staatsbonus ist nach dem damaligen | |
| Arbeitsminister Walter Riester (SPD) benannt, der vor seiner Berufung | |
| Funktionär der mächtigen IG Metall war. Gerhard Schröder hatte ihn eigens | |
| für dieses Projekt ins Kabinett geholt. | |
| Die Riester-Rente ist komplett gescheitert, sagen Sell und viele andere | |
| Kritiker. Das sehen die Versicherer – und die Bundesregierung – naturgemäß | |
| anders. „Die Riester-Rente war und ist eine richtige Entscheidung“, sagt | |
| eine Sprecherin der Allianz. Bis 2019 wird der Staat 44 Milliarden Euro an | |
| Förderung in die Riester-Rente gesteckt haben. „Das meiste davon schöpfen | |
| die Versicherer ab“, sagt Birkwald. Denn die Kunden bekommen nur mickrige | |
| Auszahlungen. | |
| ## Gewerkschaften jetzt auch dagegen | |
| Für die heutigen Arbeitnehmer hat die Reform fatale Folgen. Das ist | |
| inzwischen auch den Gewerkschaften aufgefallen. Sie haben die Rentenreform | |
| 2002 fast ohne Widerstand passieren lassen. Jetzt sehen sie, was der | |
| Kollege Riester angerichtet hat. „Altersarmut droht in Zukunft jene zu | |
| treffen, die heute in prekärer und schlecht bezahlter Beschäftigung | |
| festhängen“, sagt DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach „Aber auch | |
| denjenigen mit Durchschnittseinkommen steht der soziale Abstieg im Alter in | |
| Haus, wenn die Politik nicht endlich umsteuert und aufhört, die Renten | |
| weiter abzusenken.“ | |
| Wer heute ein Durchschnittseinkommen von 2.500 Euro brutto im Monat hat, | |
| bekommt später eine Rente auf Sozialhilfeniveau. Die | |
| Mitgliedsgewerkschaften des DGB bringen dazu in den nächsten Monaten eine | |
| gemeinsame Kampagne auf den Weg. Die Forderung: Das derzeitige Rentenniveau | |
| soll wenigstens nicht noch weiter sinken. „Wer jahrzehntelang in die | |
| Rentenversicherung eingezahlt hat, muss im Alter auch mit Brüchen in der | |
| Erwerbsbiografie eine Rente bekommen, von der man in Würde leben kann“, | |
| fordert Buntenbach. Die Kampagne geht einigen Gewerkschaften nicht weit | |
| genug. Die IG Metall fordert, dass die Rentenkürzungen von 2002 rückgängig | |
| gemacht werden. | |
| ## Mindestrente bekommen | |
| An Ideen, etwas gegen die drohende Massenaltersarmut zu tun, mangelt es | |
| nicht. Linkspartei-Mann Birkwald ist für eine Mindestrente von 1.050 Euro | |
| netto, die aber nur unter bestimmten Voraussetzungen gezahlt werden soll. | |
| Hat das eigene Haus mehr als 130 Quadratmeter Wohnfläche oder beträgt das | |
| Vermögen mehr als 70.000 Euro, sieht es schlecht aus. Wissenschaftler Sell | |
| plädiert für das Schweizer Modell, bei dem anders als in Deutschland auch | |
| Beamte und Selbstständige in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen | |
| und das eine Mindest- und Maximalrente vorsieht. | |
| Auch Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) weiß, dass etwas geschehen | |
| muss. Sie will noch in diesem Jahr einen Gesetzentwurf für die sogenannte | |
| Lebensleistungsrente vorlegen. Wer 40 Jahre Beiträge zahlt, soll eine Rente | |
| von rund 900 Euro bekommen, von der aber Kranken- und | |
| Pflegeversicherungsbeiträge abgezogen werden. Aber die Rente erhält nur, | |
| wer 35 Jahre in eine private Altersvorsorge eingezahlt hat. Der | |
| Branchenverband der Versicherer findet das erwartungsgemäß gut. | |
| Wissenschaftler Sell hält nichts von diesem Modell. „Das ist nur eine | |
| scheinbare Lösung“, sagt er. Dass die Bezieher privat vorgesorgt haben | |
| sollen, hält Sell für „hanebüchen“: „Das wäre ein Konjunkturprogramm … | |
| die Versicherungswirtschaft.“ | |
| 6 Apr 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Anja Krüger | |
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