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# taz.de -- Kolumne „Deutschland, was geht?“: Wir haben in 20 Jahren nichts…
> Ich bin wütend. Weil Polizisten ihrer Pflicht nicht nachkommen. Und weil
> ich meine Eltern in dem Bus von Clausnitz sitzen sehe.
Bild: Bestürzung danach: eine Solidaritätskundgebung nahe der Flüchtlingsunt…
Eine tobende Menge von etwa hundert Mann umkreist einen Bus, grölt und
wütet und beansprucht für sich, die Stimme des Volkes zu sein, das sich da
gegen Neuankömmlinge zur Wehr setzt.
In dem Fahrzeug befinden sich verängstigte Kinder, weinende Frauen,
überforderte Männer. Polizisten verweisen den Mob nicht des Platzes, nein,
stattdessen schleifen sie Kinder, die sich offenbar aus Angst weigern
auszusteigen, unsanft in das wenige Schritte entfernte Gebäude.
Auf der Anzeige des Busses prangt in leuchtenden Buchstaben das Wort
„Reisegenuss“, was im besten Falle wie ein schlechter Scherz erscheint
angesichts dieser Szenen, die sich Donnerstagabend im mittelsächsischen
Clausnitz zugetragen haben. Die Menschen, die im Bus sitzen, sind
Geflüchtete, deren Zuhause von nun an ein Dorf sein soll, in dem Hass und
Ablehnung auf sie warten. Sie sollen in Zukunft ihr Leben in dieser derart
feindlich gesinnten Umgebung fristen.
Als ich die Szenen auf verwackelten Handyaufnahmen sehe, merke ich, wie die
schiere Wut in mir hochsteigt. Ich frage mich, ob es nicht grob fahrlässig
ist, geflüchtete Menschen auf Ortschaften zu verteilen, in denen sich
derartiger Widerstand gegen ihre bloße Existenz aufbäumt, in denen sie nach
über zwei Stunden Ausharren und nur unter Polizeischutz einen Bus verlassen
können. Ich bin wütend, weil die Polizisten ihrer Pflicht nicht nachkommen
und die Kinder derart unsanft packen, dass ich sie als Mutter dafür
belangen lassen würde.
## Rostock-Lichtenhagen
Ich bin wütend, weil die Mütter dieser Kinder das eben nicht können. Ich
bin wütend, weil mich die Szenen unweigerlich an die von
Rostock-Lichtenhagen erinnern, als die Staatsgewalt vor den Rechten
eingeknickt ist und vietnamesische Arbeiter mit einem Bus aus dem
brennenden Heim fuhr, der auf dem Weg durch die Menge hin und her gestoßen,
dem die Scheiben eingeschlagen wurden.
Als Rostock passierte, lebten meine Eltern bereits in Ostdeutschland,
nachdem sie den von Kriegen zerrütteten Libanon hinter sich gelassen
hatten.
Ich bin mit Erzählungen von missbrauchter Staatsgewalt, Flucht und dem
absoluten Willen zum Überleben aufgewachsen. In meiner Heimatstadt gab es
Anfang der neunziger Jahre eine starke rechte Szene. Es zerreißt mir bis
heute das Herz, wenn ich höre, wie wenig meine Mutter verstehen konnte,
dass fremde Menschen sie hassten.
## Kopftuch herunter gerissen
Sie und andere Frauen wurden verfolgt, das Kopftuch wurde ihnen
heruntergerissen. Auch meine Mutter konnte sich nicht wehren, und so
fristete sie ihr Dasein, versuchte das Beste daraus zu machen. Immerhin
fielen hier keine Bomben und es explodierten auch keine Granaten. Sie wurde
genügsam und konzentrierte sich darauf, ihre Kinder zu erziehen. Das war
vor zwanzig Jahren.
Ich bin auch so wütend, weil ich meine Eltern in dem Bus von Clausnitz
sehe. Wenn ich eines weiß, dann, dass wir alle kollektiv dafür
verantwortlich sind, dass Ausschreitungen wie die von Clausnitz ein für
alle Mal der Vergangenheit angehören müssen. Sonst haben wir in zwanzig
Jahren nichts gelernt.
22 Feb 2016
## AUTOREN
Nemi El-Hassan
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Clausnitz
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