| # taz.de -- Kolumne „Deutschland, was geht?“: Kirschkuchen reicht nicht | |
| > „Gehören Sie zur al-Qaida?“: Wer oder was deutsch ist, ist immer noch | |
| > sehr eng definiert – und wehe, man entspricht dem nicht. | |
| Bild: Dresdner Christstollen zum Beispiel: unstrittig deutsch. Aber wie wäre e… | |
| Wer in Deutschland nicht weiß, blond und blauäugig ist und Anna oder Max | |
| heisst, kann sich eine Menge darüber anhören, warum viele Menschen meinen, | |
| dass er oder sie alles sei, außer deutsch. [1][Dabei scheint es völlig | |
| nebensächlich zu sein], ob man hier geboren worden ist, oder nicht. Ob die | |
| eigene Familie womöglich schon in der vierten Generation hier lebt und ob | |
| es am Sonntagnachmittag Kirschkuchen statt Baklava und Milchspeisen mit | |
| Rosenwasser gibt. | |
| Als ich für eine kleine Recherche in einem sozialen Netzwerk die Frage in | |
| den Raum stelle, was meine Freunde sich schon alles aus der Kategorie | |
| absurder Sprüche aufgrund ihrer von anderen Menschen vermuteten Herkunft | |
| anhören durften, erhalte ich eine riesige Resonanz. Offensichtlich besteht | |
| ein großer Redebedarf über genau solche Themen, völlig ungeachtet des | |
| Alters, des akademischen Grads, oder des beruflichen Erfolgs. Ressentiments | |
| treffen sie alle. | |
| Anders, als ich erwartet hätte, artet meine kleine Umfrage sehr schnell in | |
| eine Art Battle um den lustigsten Kommentar aus: | |
| „Feierst du auch Weihnachten?“ – „Nein Rainer, immer noch nicht. Das fr… | |
| du mich jetzt seit zwanzig Jahren.“ | |
| „Was passiert eigentlich, wenn ich deine Haare sehe?“ – „Dann müssen w… | |
| nächsten Tag heiraten.“ | |
| „Entschuldigung, nur aus Interesse: Gehören Sie zur al-Qaida?“ | |
| „Wo haben Sie so gut Deutsch gelernt?“ – „Oh, im Kindergarten.“ | |
| „Wann gehen sie zurück nach hause?“ – „Für gewöhnlich nach dem Feier… | |
| Ich muss zugeben, dass ich beim ersten Lesen sehr viel Spaß hatte und froh | |
| war, zuhause zu sein, weil mir vor lauter Lachen die Tränen gekommen sind. | |
| ## Feste Regeln | |
| Wenn ich jetzt darüber nachdenke, frage ich mich allerdings schon, warum so | |
| viele meiner Freunde identische Erfahrungen in ihrem Alltag machen, egal, | |
| ob sie einen südamerikanischen, osteuropäischen, arabischen, oder | |
| türkischen Hintergrund haben. Aber damit nicht genug: selbst diejenigen, | |
| die genuin deutsch sind, und zum Islam konvertierten, konnten über viele | |
| solcher Vorfälle berichten. Für das Deutschsein gelten offensichtlich noch | |
| immer feste Regeln: eine Mischung aus Aussehen, religiöser Zugehörigkeit | |
| und Herkunft. | |
| Später treffe ich eine junge Frau, die sich zum Ziel gesetzt hat, die | |
| Werbewelt vielfältiger zu machen. In Deutschland werde ein Großteil der | |
| Bevölkerung übergangen. Ich bin skeptisch, hat doch gerade die Werbewelt | |
| ganz andere Probleme: Frauen werden regelmäßig zum Objekt gemacht und auf | |
| die Funktion eines sexualisierten Wesens degradiert. Werbung verkürzt und | |
| stellt etwas dar, das nicht der Realität entspricht. Sie allerdings ist | |
| überzeugt: Werbung kann von gesellschaftlichem Wert sein. | |
| Ich denke an ein Cover des Magazins Eltern, das zu seinem Jubiläum eine | |
| Frau mit Kopftuch abgebildet hat und sie das sein ließ, was sie war: eine | |
| Mutter. Die junge Frau erzählt weiter: „Im Moment müssen wir die Menschen | |
| abbilden, die schon längst zu Deutschland gehören, aber nie gesehen werden. | |
| Bis auch das irgendwann überflüssig wird.“ | |
| 25 Apr 2016 | |
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| ## AUTOREN | |
| Nemi El-Hassan | |
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