# taz.de -- Kolumne Deutschland, was geht?: Händeschütteln und andere Krisen | |
> Das Kopftuch ist hierzulande ein Vollzeitjob. Weil Frauen, die es tragen, | |
> unentwegt damit beschäftigt sind zu repräsentieren und zu reagieren. | |
Bild: Handschlag? Kein Handschlag? Fragen wir doch mal die Frau mit dem Kopftuc… | |
Ich bin Medizinstudentin. Das heißt, dass ich die meiste Zeit in der Uni | |
damit beschäftigt bin, mir Erkrankungen und ihre typischen klinischen | |
Erscheinungsbilder einzuprägen, sowie die dazugehörige Diagnostik und | |
Therapie. Das alles gelingt mir mal besser und mal schlechter, je nachdem, | |
wie viel Zeit und Interesse ich ins Pauken investiere. | |
Meistens habe ich das Gefühl, von dieser Zeit nicht genügend zu haben. | |
Zugegeben, das liegt oft an meiner mangelnden Disziplin. Manchmal aber bin | |
ich tagelang damit beschäftigt, auf Situationen und Themen zu reagieren, | |
für die ich mir die nötige Expertise erst im Selbststudium und in | |
zahlreichen Gesprächen aneignen musste. | |
Sobald sich irgendjemand irgendwo auf der Welt im Namen meiner Religion und | |
der von knapp 1,6 Milliarden Menschen in die Luft sprengt, oder wenn | |
irgendwo auf dieser Welt eine Frau unterdrückt und zu einer Eheschließung | |
gezwungen wird, telefonieren Journalistinnen und Journalisten auf der Suche | |
nach einem verwertbaren Statement bei mir Sturm. Das jüngste Beispiel | |
meiner glorreichen Geschichte als Expertin für | |
Terror-Frauenunterdrückung-Kopftücher und damit vergesellschaftete Probleme | |
ist der Fall eines Berliner Imams, der einer Lehrerin den Handschlag aus | |
religiösen Gründen verweigerte und es vorzog, seine Hand stattdessen auf | |
die Stelle über seinem Herzen zu legen. Kaum geht der Fall durch die ersten | |
Onlinemedien, flattern Anfragen in meine Mailbox. | |
Abgesehen davon, dass ich mir grundsätzlich Gedanken darüber mache, wie | |
einfach es zu sein scheint, einen Skandal herbei zu reden und zu schreiben, | |
erschließt sich mir nicht, was ich dazu Interessantes zu sagen haben | |
sollte. Sicherlich: Ich habe eine Meinung zum Händeschütteln mit dem | |
anderen Geschlecht. Nur für wen, außer mich selbst, sollte die wichtig oder | |
gar bindend sein? Ich bin keine religiöse Autorität und maße mir nicht an, | |
im Namen anderer Musliminnen und Muslime zu sprechen. Das wäre schlicht | |
eine Missinterpretation meiner Kompetenz. | |
## Wahlweise unterdrückt oder berufsgläubig | |
Weil es aber in diesem Land reicht, eine äußerlich erkennbare Muslimin zu | |
sein, um wahlweise als unterdrückt zu gelten oder zu einer Berufsgläubigen | |
gemacht zu werden, die Bitteschön nichts anderes zu tun hat, als den Islam | |
in seiner ganzen Komplexität zu erklären, und dabei die sozioökonomischen, | |
historischen und politischen Hintergründe sämtlicher muslimischer | |
Gesellschaften zu berücksichtigen, komme ich regelmäßig in Erklärungsnot. | |
Das geht aber nicht nur mir so. Und es sind auch nicht immer | |
Journalistinnen und Journalisten, die einen mit Fragen belagern. Das | |
Kopftuch ist ein Vollzeitjob. Frauen, die es tragen, sind ausnahmslos und | |
immer damit beschäftigt, zu repräsentieren, zu reagieren, zu diskutieren | |
und sich und ihre Entscheidung zu rechtfertigen. Ich finde das ermüdend. | |
Die Autorin und emeritierte Professorin Toni Morrison sagte einmal: „Die | |
Funktion von Rassismus ist Ablenkung. Er hält dich davon ab, deine Arbeit | |
zu tun.“ | |
Übrigens: Ich habe das Interview zum Handshake-Debakel stillschweigend | |
abgelehnt. | |
27 Jun 2016 | |
## AUTOREN | |
Nemi El-Hassan | |
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