# taz.de -- Kolumne „Deutschland, was geht?“: Ein Smartphone kann Leben ret… | |
> Mein Handy ist langsam, das ärgert mich, ist aber nicht weiter wichtig. | |
> Für Geflüchtete schon – das Telefon ist ihr bester Fluchthelfer. | |
Bild: Ein Geflüchteter vor dem Berliner LaGeSo | |
Ich starre auf den kleinen Display in meiner Hand, den ich halbherzig mit | |
einer Glashülle darüber zu schützen versuche. An den Ecken meines | |
Smartphones sind etliche Schrammen und Dellen zu sehen. Manchmal renne ich | |
zur Bahn, die alle paar Minuten fährt, auf die Gefahr hin, dass ich, wie in | |
der Vergangenheit geschehen, stürze und es in meiner Hand zerschellt. | |
Die Website lädt nur langsam und mit jeder Sekunde, die verstreicht, lädt | |
sich auch mein Frust auf: mein Datenvolumen ist aufgebraucht. Dabei ist | |
das, was ich durch mein Smartphone in Erfahrung bringen will, selten | |
wirklich wichtig. Statt Google Maps zu benutzen, kann ich nach dem Weg | |
fragen, statt Onlinemagazinen ein Buch lesen. | |
Für Geflüchtete hingegen ist das Smartphone im wahrsten Sinne | |
überlebenswichtig. Ich denke an Hala, eine syrische Frau und Mutter von | |
vier Kindern, [1][die von einem britischen Kamerateam in Istanbul | |
interviewt wird]. | |
Sie erzählt von ihrem Mann, der vom IS verschleppt worden ist und von dem | |
nun jede Spur fehlt. Früher in Aleppo tranken sie jeden Morgen gemeinsam | |
Kaffee, bevor ihr Mann Ali zur Arbeit ging. Vergaß er das, rief Hala ihn an | |
und sagte ihm, dass er zurück müsse. Der Kaffee am Morgen war ihnen heilig. | |
Jetzt rührt Hala allein in ihrer kleinen Tasse mit arabischem Mokka, | |
daneben stellt sie eine zweite Tasse für Ali, der nicht da ist und dessen | |
Kaffee sie deshalb jeden Morgen für ihn mit trinkt. | |
## „Alles, was ich habe“ | |
Während sie spricht, blickt sie immer wieder auf ihr Smartphone, das vor | |
ihr liegt. Sie hält es in die Kamera und sagt: „Alles, was ich habe, steckt | |
hier drin. All meine Verwandten. Ich halte es fest, als hielte ich meine | |
Adresse in der Hand. Dieses Metallgehäuse ist meine Welt geworden. | |
Verstehst du jetzt, warum es so viel wert ist?“. | |
Als meine Eltern Anfang der Neunziger aus dem Libanon nach Deutschland | |
flüchteten, gab es keine Smartphones. Sie riefen meinen Onkel an, der in | |
Berlin auf sie wartete und teilten ihm mit, wann sie ankommen würden. Er | |
konnte sie nicht finden. Niemand wusste, was geschehen war, nur, dass etwas | |
schief gelaufen sein musste. Und das war es. | |
Meine Eltern liefen nachts durch dunkle Wälder, meine hochschwangere Mutter | |
fiel in ein Erdloch, aus dem sie ohne die Hilfe meines Vaters und anderer | |
Männer nicht mehr herauskam. Osteuropäische Grenzpolizisten schlugen sie. | |
An der deutschen Grenze angekommen, wurden sie bereits von der | |
Bundespolizei erwartet. Die Wehen setzten ein. Meine Mutter, damals Anfang | |
zwanzig, ging zur Geburt ihres ersten Kindes allein in ein Krankenhaus, | |
ohne auch nur ein Wort Deutsch zu sprechen. Mein Vater kam in polizeilichen | |
Gewahrsam. | |
Jetzt lese ich, dass an der slowakisch-ukrainischen Grenze [2][mit scharfer | |
Munition auf Geflüchtete geschossen wurde], eine Frau musste notoperiert | |
werden. | |
So absurd es klingen mag: [3][ein Smartphone kann Leben retten]. Sei es nur | |
durch eine hastig getippte SMS, in der vor Söldnern gewarnt wird, die die | |
Menschenrechte innerhalb der mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneten EU | |
ins Fadenkreuz nehmen. | |
13 May 2016 | |
## LINKS | |
[1] https://www.facebook.com/Channel4News/videos/10153741960781939/?pnref=story | |
[2] http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2016-05/slowakei-polizei-schu… | |
[3] /Dokufilm-von-Gefluechteten/!5272613 | |
## AUTOREN | |
Nemi El-Hassan | |
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