Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Debatte Hass in Deutschland: Das ist nicht mein Land
> Die öffentliche Debatte dominieren die Angstbesetzten und die
> „Besorgten“. Wo ist das andere, wo ist mein Deutschland geblieben?
Bild: Deutsch ist es in Kaltland
Als die Hashtag gewordenen Nachrichten aus #Clausnitz bei mir ankamen, fiel
mir ein Satz ein, den Angela Merkel noch im September 2015 geäußert hat:
„Ich muss ganz ehrlich sagen, wenn wir jetzt anfangen, uns noch
entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches
Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.“
Ich habe seither oft nachgedacht über diesen Satz, nicht zuletzt, weil er
für eine Politikerin ihres Rangs nicht klug war, weil er Gräben reißt, weil
er dazu führen könnte, dass jeder, der nicht in Zuständen lebt, die er sich
wünscht, wie ein beleidigtes Kind auf den Boden stampfen und „Das ist nicht
mein Land“ schreien könnte. Letztlich ist es kein Satz für eine
funktionierende Demokratie, deren Politiker auch dafür da sind, die
Menschen von ihrem Tun zu überzeugen und einen Konsens zu finden.
Und doch kriege ich diesen Satz nicht aus dem Kopf. Es gibt Tage, Bilder
und Ereignisse wie die in Clausnitz, da wird klar: Wenn man jetzt nicht
Haltung zeigt, wird wieder etwas gestern noch Undenkbares zur Normalität.
Diese Republik wird mir in ihrer Sprachgewalt, Brachialgewalt und
Diskursgewalt von Tag zu Tag etwas fremder. Genauer betrachtet ist es aber
gar nicht die Republik, nicht mein Alltag, der doch um so vieles reicher
ist als das, was ich in der Diskussion über Deutschland erfahre.
Es ist das Deutschland, das sich derzeit den meisten Platz in den Medien
und dem öffentlichen Leben sichert, das mir zunehmend fremd wird. Mich
zurückkatapultiert in eine Zeit, die ich überwunden glaubte. Die einen
haben Angst vor Überfremdung. Ich habe Angst, dass diese Angst vor
Überfremdung, wie sie sich derzeit äußert, mich entfremdet, weil sie nur
die Angstbesetzten in den Mittelpunkt stellt.
## Konsequent vorbeiregiert
Ich arbeite tagtäglich mit Menschen, die sich für eine humane Politik
einsetzen. Dann komme ich nach Hause, schalte den Fernseher an und sehe,
wie sich in der Öffentlichkeit Pegidisten breitmachen, die AfD sich durch
die Republik hetzt. Talkshows sind eine Wiederbelebungsmaßnahme für in
Vergessenheit geratene Politiker wie Edmund Stoiber, die von dem Land, das
mein Land war und ist, nichts wissen wollen und auch nichts wissen mussten.
Weil sie konsequent an all denen vorbeiregiert haben, die man heute
Menschen mit Migrationsgeschichte nennt.
Es sind sechzehn Millionen Menschen und eben nicht ein paar Hansel. Eine
Julia Klöckner ist es nicht, ein Stefan Aust ist es nicht, auch ein
Augstein ist es nicht. Beide Augsteins nicht, sorry. Wo ist eigentlich mein
Land in der Darstellung von Deutschland?
Ich bin aufgewachsen in einem Stuttgarter Vorort, meine Kindheitsfreunde
hießen Giovanni, Maria, Sara, Carmine – und später, im Gymnasium, hießen
sie dann Stephanie, Sybille, Marco, Felix. Wenn ich bald meinen Wahlzettel
für die Landtagswahl abgebe, werde ich wählen können zwischen Winfried,
Theresia, Nils, Guido und so weiter. Das ist selbst für meine
urprungsdeutschen Freunde ein Problem, weil an diesen Namen auch abzulesen
ist, dass nicht einmal meine Generation Macht hat. Ganz zu schweigen von
meinen Kindheitsfreunden aus dem Mittelmeerraum und Osteuropa.
Deutschland macht von diesen Ressourcen keinen Gebrauch. Mitten in der
Europakrise sind die gebildete zweite und dritte Generation, die Brücken
bauen könnten, unsichtbar. Stattdessen reden hierzulande immer dieselben.
„Besorgte Bürger“ etwa.
## Wirklich besorgte Bürger
Seit Pegida hat das Wort „besorgt“ im Diskurs das Wort „rassistisch“
ersetzt. Es gibt jedoch einen wesentlichen Unterschied und an dem müsste
jeder, der besorgt ist, sein Besorgtsein überprüfen.
Echte „Besorgte Bürger“ sind Humanisten, sie sorgen sich nicht nur um den
eigenen Vorgarten, sondern um das Ganze. Sie machen sich um sich selbst
Sorgen, aber eben auch um die Menschen auf der Flucht. Sie verlangen von
ihren Städten, Politikern und ihrer Regierung eine humanitäre Politik für
alle.
Rassistische Bürger meinen, sie hätten aufgrund des Zufalls, der ihnen per
Geburtsort einen privilegierten Pass beschert hat, mehr Rechte auf ein
Leben in Frieden als andere. Für sie ist die Würde des Menschen nicht für
alle unantastbar. Wenn Letzteres nicht Teil des Denkens der „besorgten
Bürger“ wäre, dann wären die Umfragewerte der AfD nach dem Thema
Schießbefehl auf die der FDP der letzten Jahre gesunken.
Rassistische Bürger meinen, sie hätten mehr Rechte vor Gott und dem Gesetz
als andere. Die Menschenrechte gelten jedoch universell. Um es
vorwegzunehmen: Das heißt nicht, dass alles und jeder hier Schutz finden
kann, das heißt aber, dass verantwortlich umzugehen ist mit Menschen, die
hier Schutz suchen. Es heißt auch, dass man sich nicht aus der
globalisierten Welt, von der man wirtschaftlich profitiert, in humanitären
Fragen aus der Verantwortung stehlen kann.
## Was Dunja Hayali sagt
Clausnitz ist auch eine Warnung davor, es Bürgern einfach zu machen, sich
als besorgt darzustellen. Es Politikern einfach zu machen, ihre Wähler als
besorgt darzustellen. Der Besorgte muss an seinen Wertmaßstäben, die er für
alle ansetzt, gemessen werden. Alles anderen muss man endlich beim Namen
nennen.
Seit Jahren beobachte ich, wie auf Podien das Wort „Rassismus“ sorgsam
vermieden wird, weil es ja in Deutschland so aufgeladen sei. Gerade dann
aber kann man nicht zulassen, dass rassistisches Denken zur Sorge
umgedeutet wird. Es gibt Sorgen und es gibt Rassismus. Beides voneinander
zu unterscheiden, würde Menschen wie die, die sich in Clausnitz grölend vor
einen Bus mit Flüchtlingen gestellt haben, klarmachen, dass sie nicht die
besseren Bürger sind, die für Ordnung sorgen. Oder um es mit der
ZDF-Moderatorin Dunja Hayali zu sagen: „Wenn Sie sich rassistisch äußern,
dann sind Sie verdammt noch mal ein Rassist“.
23 Feb 2016
## AUTOREN
Jagoda Marinić
## TAGS
Clausnitz
Schwerpunkt Rassismus
Schwerpunkt Angela Merkel
Zivilgesellschaft
Schwerpunkt Flucht
Schwerpunkt Flucht
Integration
Faschismus
Frauke Petry
Vielfalt
Clausnitz
Schwerpunkt Rassismus
Clausnitz
Schwerpunkt Pegida
Clausnitz
Clausnitz
Clausnitz
Sachsen
Clausnitz
## ARTIKEL ZUM THEMA
EU-Pläne zur „Flüchtlingsabwehr“: Mehr als hundert NGOs fordern Stopp
Am Dienstag beginnt der EU-Gipfel. 104 Nichtregierungsorganisationen warnen
vor Abkommen mit Drittländern, die Menschenrechte verletzen.
Debatte Einwanderungsland Deutschland: Wir sind made in Germany
Egal ob erste oder dritte Generation: Wir „Bindestrichdeutschen“ heißen uns
willkommen. Denn wir sind so deutsch, wie es uns gefällt.
Die neue Verkleidung des „Urfaschismus“: Keine Ordnung, nirgends
Merkel als Heilige, Žižek in Fremdenangst: Die Merkmale des Faschismus
verschwimmen. Umberto Eco warnte 1995 vor seiner neuen Verkleidung.
Gescheiterte Interviews mit AfD-Chefin: Frauke Petry attackiert Dunja Hayali
Zweimal klappte das Interview im ZDF-Morgenmagazin nicht. Nun sagte Petry,
sie habe eh kein Interesse mehr, Moderatorin Hayali sei mehr Aktivistin als
Journalistin.
NGO-Gründer über Vielfalt: „Der Gegenentwurf zu Pegida“
Wie lassen sich Vielfalt, gleichberechtigte Teilhabe und Integration
fördern? Die Initiative DeutschPlus schlägt vor, all das als Staatsziel im
Grundgesetz zu verankern.
Nach Übergriff in Clausnitz: Keine Ermittlungen gegen Flüchtlinge
Zunächst hieß es, es werde auch gegen Asylsuchende aus dem angegriffenen
Bus ermittelt. Davon ist jetzt keine Rede mehr.
Nach Ereignissen in Clausnitz: Sachsen, wir haben ein Problem
Der Bundestag geht mit dem Bundesland im Osten ins Gericht: Es ist von
institutionellem Rassismus und Dunkeldeutschland die Rede.
Blogger über Flüchtlings-Crowdfunding: „Nicht als Provokation gedacht“
Als Reaktion auf die Ereignisse in Clausnitz will ein Blogger den
betroffenen Flüchtlingen als Entschädigung zwei Tage Luxushotel
ermöglichen.
Sinkende Besuchszahlen in Dresden: Pegida schreckt Touristen ab
Wegen des „Pegida-Effekts“ kommen weniger Touristen nach Dresden. 2015
gingen die Übernachtungszahlen um drei Prozent zurück – erstmals nach sechs
Jahren.
Kolumne Lügenleser: Deutschland, deine Kommentare
In Bautzen applaudieren sie wieder vor brennenden Heimen – wie damals. Und
was macht „das Volk“? Braust höchstens bei Facebook auf.
Kommentar Sächsische Verhältnisse: Arbeit am Gewissen der Mitte
Unsere Gesellschaft zeigt ihre Erbärmlichkeit in ethischer
Orientierungslosigkeit. Das zu ändern, ist nicht allein Aufgabe der
Politik.
Kolumne „Deutschland, was geht?“: Wir haben in 20 Jahren nichts gelernt
Ich bin wütend. Weil Polizisten ihrer Pflicht nicht nachkommen. Und weil
ich meine Eltern in dem Bus von Clausnitz sitzen sehe.
Kommentar Rechter Mob in Clausnitz: Schlimmer als jeder Albtraum
In Clausnitz hat sich der Staat für außerstande erklärt, gegen 100 Pöbler
vorzugehen. Das ist Staatsversagen – und eine Gefahr für die Gesellschaft.
Kommentar Krawalle von Clausnitz: Ein Ozean der niederen Instinkte
Es ist alles wie immer in Sachsen. Hass, Rassismus und eine „überforderte“
Polizei. Das kann doch nicht ewig so weitergehen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.