# taz.de -- Die neue Verkleidung des „Urfaschismus“: Keine Ordnung, nirgends | |
> Merkel als Heilige, Žižek in Fremdenangst: Die Merkmale des Faschismus | |
> verschwimmen. Umberto Eco warnte 1995 vor seiner neuen Verkleidung. | |
Bild: Demonstration des rechtspopulistischen „Bürgerbündnis Deutschland“ … | |
Ich mag Twitter ja vor allem deshalb, weil Artikel, Gedanken und Bilder | |
völlig unsortiert reinkommen. Eine ehrliche Informationsart, die nicht so | |
tut, als könne man sich diese Welt noch zurechtsortieren, ohne sie in | |
weiten Teilen von dem, was sich da draußen abspielt, abzuschneiden. In | |
diesem Chaos schafft keiner mehr so leicht Ordnung. Und doch sehne ich mich | |
nach so jemandem. | |
In diese Twitter-Welt kommt plötzlich ein alter Artikel von Umberto Eco aus | |
dem Jahr 1995, mit dem Titel „Urfaschismus“. Wer will so etwas heute noch | |
lesen, frage ich mich, und lese es. Eco schreibt, wie das war, als junge | |
Leute noch Aufsätze geschrieben haben, die Mussolini huldigten – um nur ein | |
paar Jahre später, nach der Befreiung, an einem Zeitungskiosk zu stehen und | |
zu bemerken, wie plötzlich mehrere Parteien zur Wahl stehen, Parteien, die | |
es auch vorher gegeben haben muss, doch die der Faschismus klein gehalten | |
hat. Kurz darauf analysiert er, weil er eben auch Wissenschaftler war, wie | |
man den Faschismus erkennen kann, und ich gebe zu, die klaren Kategorien | |
von 1995 helfen 2016 nur bedingt weiter. | |
Der Urfaschismus sei immer noch um uns, aber manchmal unscheinbar | |
verkleidet. Leichter erkennbar wäre das alles, schreibt er, träte jemand | |
vor und verkündete: „Ich will ein zweites Auschwitz, ich will, dass die | |
Schwarzhemden wieder über Italiens Plätze paradieren.“ Der Urfaschismus, | |
warnt Eco, könne in der unschuldigsten Verkleidung wieder auftreten. Und | |
dann zählt er vierzehn mögliche Punkte auf, die sich zum | |
Kristallisationspunkt des Faschismus entwickeln können. | |
## Verkleideter Faschismus | |
Ich lese das und verstehe, dass sich heute nichts so einfach verstehen | |
lässt. Begriffe werden derzeit pervertiert, die Lager, zu denen man | |
Menschen zählt, wechseln ohne Vorwarnung: Da predigt Merkel trotz ihrer | |
Politik plötzlich Humanität, während der linke Philosoph Slavoj Žižek | |
krawallt, dass Europa an seinem Mitgefühl für Flüchtlinge vom afrikanischen | |
Kontinent untergehen könnte. Natürlich schiebt er hinterher, dass kein | |
afrikanischer Flüchtling so schlimm sein kann für Europa wie der Front | |
National oder Pegida. Wer, bitte, kriegt da noch Ordnung rein? | |
Nun sind viele dieser möglichen Merkmale, von denen Eco spricht, derzeit | |
nicht in der unschuldigsten Verkleidung vorzufinden. Wir haben die Sätze | |
mit dem Schießbefehl landauf, landab diskutiert, als sei noch bei den | |
letzten Auswüchsen von Inhumanität Argumentation notwendig. Statt „Merkmal | |
für Urfaschismus“ zu schreien, wie Eco das nahelegt, haben viele sich auf | |
die Diskussion eingelassen. Und zahlreiche Wähler dachten, sie müssten die | |
Partei, in der das diskutiert wird, bei den Landtagswahlen in den | |
zweistelligen Bereich hieven – als Schockstrategie für die Etablierten. Ist | |
schon lustig, Demokratie: Manche verwechseln wählen wohl mit Schiffe | |
versenken. | |
Talkshows präsentieren ehemals grüne Wähler, die aus Protest AfD gewählt | |
haben, und die Reaktion ist in weiten Teilen: „Mutig!“ Mutig, das waren für | |
mich mal Menschen, die für eine gerechtere Welt auf die Straßen gingen und | |
nicht für den Traum von der Festung Europa in die Talkshows. Die Mutlosen | |
werden nun auch noch damit belohnt, dass die grüne Katrin Göring-Eckart sie | |
alle einfangen will. Sind ja alles nur von der Einwanderung gekränkte | |
Demokraten. | |
## Elitedenken | |
Ein weiteres Beispiel: das Elitedenken. Für Eco ist Elitedenken reaktionär, | |
ein Überbleibsel aristokratischer Welten und militärischer | |
Organisationsstrukturen. Der Diskurs derzeit läuft jedoch so, dass jene, | |
die als antidemokratisch bezeichnet werden, den Anti-Eliten-Diskurs führen, | |
während die Eliten dasitzen und ihrem Volk erklären, wie gefährlich es ist, | |
gegen die Eliten zu sein, denn irgendeiner muss den unbequemen und im | |
Gegensatz zu Posten in der Wirtschaft schlecht bezahlten Job doch machen. | |
Während die AfD wettert „Die da oben gegen euch“, sitzen viele Politiker da | |
oben und behaupten weiter „Wir hier oben für euch“. Soll mir jetzt einer | |
sagen, wer hier weniger demokratisch ist. Wenig fürchtet die repräsentative | |
Demokratie so sehr wie das Plebiszit. | |
Eco kritisiert eine Politik, in der das Volk nur noch die Rolle des Volkes | |
zu spielen hat, Inszenierungen der Politik also – genau das, was die Wähler | |
heutzutage aus den großen Volksparteien treibt. Oder nicht? Eco schreibt | |
weiter und killt meinen Tag letztlich mit diesem Satz: „Für ein gutes | |
Beispiel des qualitativen Populismus bedürfen wir nicht länger der Piazza | |
Venezia in Rom oder des Nürnberger Parteitagsgeländes. In der Zukunft | |
erwartet uns ein TV- oder Internet-Populismus, in dem die emotionale | |
Reaktion einer ausgewählten Gruppe von Bürgern als Stimme des Volkes | |
dargestellt und akzeptiert werden kann.“ Bam. Man denke nur an die | |
Talkshows der letzten Monate. | |
## Sorgen, Ängste, Überdruss | |
Pegida schreit „Lügenpresse!“ – und ich empöre mich. Gleichzeitig empö… | |
ich mich über eine Presse, die Pegida und AfD so viel Öffentlichkeit bot, | |
dass sie größer und stärker wurden, als sie hätten sein müssen. Die Sorgen, | |
die Ängste – ich kann sie nicht mehr hören. Und merke an manchen Abenden, | |
wie vor meinem Haus der öffentliche Raum sich verändert. Über Nacht prallt | |
hier plötzlich eine Welt auf meine, die weniger von behütetem Zusammenleben | |
weiß als die meisten hier. Ich merke in manchen Momenten, dass auch ich | |
mich sorge. Und weigere mich, weiter zu denken. | |
Das Eingeständnis, dass auch ich mich sorge, könnte den Falschen in die | |
Hände spielen. Weil die Falschen nicht von vornherein durch einen Blick wie | |
den Ecos demaskiert wurden als die, die sie wirklich sind: mögliche | |
Kristallisationspunkte für faschistisches Denken. Im Moment dreht jeder | |
jedem das Argument im Mund herum, ein Ende ist nicht in Sicht. Wie sind wir | |
hier hingekommen? Ich bräuchte jetzt so einen 14-Punkte-Plan wie den von | |
Umberto Eco, allerdings einen für Europa im Jahr 2016. Einen Plan, der klar | |
sagt, was die möglichen Punkte für den Faschismus von heute sind, damit | |
auch ich meine Ängste unbedarft äußern, meine Fragen an die Zustände von | |
heute stellen kann. Ohne gleich Ideologen zuzuspielen, die genau auf diesen | |
14-Punkte-Plan gehören. | |
7 Apr 2016 | |
## AUTOREN | |
Jagoda Marinić | |
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