# taz.de -- Debatte Merkels Flüchtlingspolitik: Yes, we can‘t | |
> Souveräne Flüchtlingspolitik statt Abwehr, gelassene Macht statt | |
> Hysterie: Mit jedem Tag habe ich mehr Angst vor einer Zukunft ohne | |
> Merkel. | |
Bild: Der Welt und ihren Problemen zu- oder abgewandt? Das macht schon einen Un… | |
Nie hätte ich gedacht, dass ich eines Tages einen Text schreiben würde, in | |
dem Merkel gut wegkommt. Aber so ist das eben heutzutage, man kann sich | |
nicht einmal mehr auf sich selbst mit Sicherheit verlassen. | |
Merkel, das war für mich immer die mächtigste Frau Europas, die es | |
schaffte, bei jeder Neujahrsrede den Eindruck zu erwecken, schon so ein | |
Dreieck aus ihren Händen zu falten sei eine größere Herausforderung für | |
sie. | |
Das erste Mal beeindruckt hat sie mich bei einer Veranstaltung im Deutschen | |
Theater. Den Anlass weiß ich nicht mehr, dieser langhaarige Pop-Geiger hat | |
gespielt und Johannes B. Kerner hat moderiert, es hätte also alles Mögliche | |
sein können. | |
Als ich ging, ging zufällig auch Merkel. Ich sah sie vor ihrem Dienstwagen | |
stehen, von Männern umringt. Obwohl sie kleiner war als die meisten, sah | |
sie auf die Herren herab. Gelassene Macht. Und weil ich damals nicht | |
wusste, wofür diese Frau wirklich steht, hatte ich einen kurzen Moment lang | |
Angst vor einer Zukunft mit ihr. | |
## Gebeugt, ratlos und klein | |
Vor bald zehn Jahren war das. Heute kriege ich mit jedem Tag mehr Angst vor | |
einer Zukunft ohne sie. Jetzt, da sie endlich tut, was man immer von ihr | |
gefordert hat, nämlich Haltung zeigen, gerät ihre mächtige Gelassenheit ins | |
Wanken. Das Gute: Merkels Leidenschaft kommt zum Vorschein. Das Schlechte: | |
Seit ihrer Standhaftigkeit in Sachen Flüchtlingspolitik sieht man Merkel | |
immer wieder gebeugt, ratlos und klein – den Gipfel dieser Bildsprache | |
erreichte Seehofer mit seiner Rede auf dem CSU-Parteitag: Da stand sie | |
neben ihm wie ein gescholtenes Kind. Demontieren sieht genau so aus. | |
Anfang Oktober letzten Jahres, als viele noch auf den Bahnhöfen klatschten, | |
stellten sich de Maizière und Schäuble zunächst gegen die Staatschefin. Ich | |
dachte gleich an diesen Moment vor dem Dienstwagen zurück; es wird nicht | |
leicht gewesen sein für diese Alphatiere, Merkel an sich vorbeiziehen zu | |
sehen. De Maizière und Schäuble hat sie wieder eingefangen. Doch das | |
Wahlvolk kippt jetzt um. Nicht die vielbeschworene Stimmung kippt, sondern | |
ein Volk verliert seine Haltung, weil es jenen glaubt, die behaupten, man | |
könne sich in einer globalisierten Welt seine Probleme aussuchen. | |
Über alles lässt sich streiten, heißt es, doch seit Silvester herrscht | |
zunehmend Einigkeit im Land: Es brauche Obergrenzen, es müsse hart | |
abgeschoben werden, Deutschland schaffe das eben nicht. Silvester war dann | |
schließlich der Vorschlaghammer, der die Decke des gepflegten Diskurses | |
zerschlagen hat. In Talkshows, Zeitungen, im Netz: Terror, Angst, sexuelle | |
Gewalt. Wer darauf hinweist, dass die meisten Menschen in diesem Land | |
abends unversehrt zurück in ihre Wohnungen kommen, würde derzeit vermutlich | |
eingesperrt wegen mangelnder Hysterie. Hysterie ist Normalität geworden. | |
## Aufrichtige Bewunderung | |
Wenn Hysteriker reden, gibt es keine Lösungen, nur mehr Aufregung, denn | |
Hysteriker fühlen sich durch Aufregung beruhigt. Wolfgang Schäuble, statt | |
zu beruhigen, will nach Köln über die Möglichkeit von Bundeswehreinsätzen | |
im Innern reden. Eine Nummer kleiner wäre wohl nicht hysterisch genug. Erst | |
wenn alle durchs Land eiern wie aufgeschreckte Hühner, findet der | |
Hysteriker Genugtuung. Er fragt gern: „Wie soll einer, der kein Deutsch | |
kann, hier arbeiten?“ | |
Als gäbe es keine Antwort darauf. Das ganze Hysterisieren nennt sich heute | |
leider „Reden über Integration“. Wenn einer bei diesem Thema nicht | |
hysterisiert, dann hat er es aus Sicht vieler einfach noch nicht | |
verstanden. | |
Der naive Deutsche, so heißt es angeblich längst im Ausland. Ich war diesen | |
Herbst in den USA, eingeladen vom Davidson College und der deutschen | |
Botschaft Washington. Als Kulturbotschafterin, Autorin und Leiterin des | |
Interkulturellen Zentrums Heidelberg kam ich mit den unterschiedlichsten | |
Menschen ins Gespräch. Die wenigsten hielten Merkel für die | |
Kamikaze-Kanzlerin Europas. Im Gegenteil. Zum ersten Mal kam mir im Ausland | |
aufrichtige Bewunderung entgegen. Junge Menschen, vor allem in New York, | |
hatten die Schnauze voll von Donald Trump, sie planten ein Jahr in | |
Deutschland. | |
## Das neue Can-do-Germany | |
Es wirkte fast so, als sei Deutschland allen davongelaufen, als sei | |
Deutschland plötzlich das mutigste, vitalste, interessanteste Land dieser | |
Welt; ein Land, das Diskurs kann, das Sicherheit kann – und vor allem | |
Demokratie. Deutschland schien mit einem Schlag das zu können, was die USA | |
früher konnten und was Teil ihrer Anziehungskraft war: sich selbst | |
erneuern. Roger Cohen hat diese Stimmung in der New York Timeszum Ausdruck | |
gebracht. Er schrieb, Deutschland sei „Can-do-Germany!“. Doch die deutsche | |
Gesellschaft kommt inzwischen selbst zu „Yes, we can’t“. Merkel sagt „J… | |
und der Rest sagt „Nein.“ Wenn sie Deutschland nicht hinter sich hat, wird | |
sie auch in Europa nicht führen können. | |
Es ist das traurigste Europa, seit es Europa gibt. Die Flüchtlinge, die | |
gekommen sind, bilden nicht einmal die Spitze des Eisbergs. Die Menschen in | |
Not werden sich aus dem Elend zu einem neuen Leben aufmachen, ganz gleich | |
welche Grenzen Europa zieht, innen oder außen. Wer jetzt Obergrenzen | |
fordert, der muss noch im selben Atemzug beantworten, ob er bereit wäre, | |
Menschen vor seinen Grenzen sterben zu lassen, sie mit Gewalt fernzuhalten. | |
Oder die alten Zustände vor Lampedusa hinzunehmen. | |
Die Reife einer Demokratie zeigt sich an ihrem Vertrauen in die eigene | |
Fähigkeit, noch im größten Stimmengewirr eine Richtung herausarbeiten zu | |
können, der viele trotz unterschiedlicher Positionen folgen können. Kurz: | |
Die Reife zeigt sich an der Zuversicht. Nicht mehr und nicht weniger | |
bedeutet Merkels „Wir schaffen das“. In ihrem Vertrauen auf Vernunft wirkt | |
Merkel fast würdevoll, etwas, das ihr in all den faden Neujahrsansprachen | |
nie gelungen ist. Der Rückhalt schwindet trotzdem. Gleichzeitig finden sich | |
aber immer noch Menschen wie ich, die sie immer kritisiert haben, plötzlich | |
auf ihrer Seite wieder. Vielleicht macht sie auch irgendetwas richtig, was | |
die anderen noch nicht raushaben. | |
Vielleicht muss sie jetzt nur wieder gelassen werden. | |
21 Jan 2016 | |
## AUTOREN | |
Jagoda Marinić | |
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