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# taz.de -- Kolumne Gott und die Welt: Vielvölkerstaat Deutschland
> Verschwörungstheorien haben Konjunktur – auch in der Zeitschrift
> „Cicero“. Dort sinniert Gertrud Höhler über Merkels „Masterplan“.
Bild: Geflüchtete kommen in Passau an. Sind sie Teil von Merkels angeblichem �…
Zeiten der Krise sind Blütezeiten von Verschwörungstheorien – Reflexe auf
den Umstand, dass die Gesellschaft als Ganzes komplex ist, jedes Phänomen
viele Ursachen und jede Ursache unterschiedliche Auswirkungen hat.
Sich hinter undurchsichtigen, schwer zu verstehenden Umständen einzelne
Masterminds vorzustellen, die dämonisch alles steuern, und damit Politik zu
betreiben, ist spätestens seit den um die Jahrhundertwende vom zaristischen
Geheimdienst verfassten „Protokollen der Weisen von Zion“ bekannt.
Derzeit grassieren viele Verschwörungstheorien im Netz, und wie groß die
allgemeine Verunsicherung angesichts der Flüchtlingskrise ist, zeigt sich
daran, dass sogar bisher als seriös geltende Presseorgane derlei Tendenzen
vertreten oder mindestens publizieren.
So ist in der Februarausgabe der Monatszeitschrift Cicero aus der Feder der
einst als Hoffnungsträgerin der CDU geltenden, mit der NPD
sympathisierenden Rechtsintellektuellen Gertrud Höhler ein Beitrag zu
lesen, der in gewundenen Worten Angela Merkel allen Ernstes unterstellt,
einen „Masterplan“, ein „fatalistisches Kalkül“ zur Veränderung
Deutschlands zu exekutieren: „Merkels Vision einer radikalen
Spitzenpolitik“, so Höhler, ziele auf ein „Deutschland als Vielvölkerstaa…
in dem Religion und Herkunft geschliffen und nivelliert werden.“
## Sloterdijk und der Islam
Diese Äußerungen sind bei einer gescheiterten CDU-Politikerin achselzuckend
hinnehmbar. Auffällig demgegenüber sind Äußerungen des von der akademischen
Philosophie eher gemiedenen Autors Peter Sloterdijk, der in einem langen
Interview im selben Heft die politische Agenda seines ehemaligen
Assistenten Marc Jongen toppt.
Jongen, das haben vor allem FAZ und Die Zeit bekannt gemacht, ist der
Hausphilosoph der AfD in Baden-Württemberg. Auf der einschlägigen Website
liest man: „Derzeit arbeitet er an einer philosophischen Grundlegung seiner
Partei. Die soll die Dekonstruktion von Familie und Volk verhindern.“
Im selben gehobenen Stammtischtonfall agitiert sein ehemaliger
Vorgesetzter, wenn er etwa dem Islam unterstellt, „fast ohne Theologie
auszukommen“, was angesichts der reichen theologischen Literatur dieser
Religion schlicht und ergreifend falsch ist.
Wenn er zudem einen imaginären Dialog zwischen Walter Benjamin und Carl
Schmitt fantasiert, kann er messerscharf schließen, dass derzeit die
Flüchtlinge über den Ausnahmezustand entscheiden. Das – gewiss – sind noch
keine Verschwörungstheorien, doch die hat der philosophische Belletrist
auch parat.
## Stichwort: „Invasion“
Wer also war einer der Urheber der derzeitigen, schon länger anhaltenden
Völkerwanderung? Der erste grüne Außenminister, denn: „Schon unter
Außenminister Fischer hatte eine unbemerkte Invasion begonnen, man gab
damals Millionen Visa für Leute aus Osteuropa, von denen man vermutete, sie
wollten nicht zu uns, sondern in die Anglo-Welt. Damals war Deutschland ein
Durchgangsland für weiterzielende Auswanderungsträume.“
Zwar ging es ausweislich des damals tagenden Untersuchungsausschusses des
Bundestags nicht um Millionen, sondern um zehntausende Visa, aber was
tut‘s– Wahrheit und Genauigkeit sind ja Pointenkiller.
Zudem würde der Leser gerne wissen, welcher Nationalität oder Ethnizität
nach Meinung des Denkers aus Karlsruhe diese „Leute aus Osteuropa“ waren.
Meint er die Russlanddeutschen, die sich jetzt über die niemals
stattgefunden habende Vergewaltigung eines dreizehnjährigen Mädchens
erregen?
Gefragt, wie sich die derzeitigen Migrationsbewegungen erklären, rechnet
Sloterdijk die Fluchtwellen dem US-amerikanischen Präsidenten zu: „Je mehr
Flüchtlinge zu uns kommen, desto labiler wird Europa zur Freude seiner
Rivalen. Darum“, so der Denker aus Karlsruhe, „lobt Obama Frau Merkel.“
Skeptischen Nachfragen hält er ein paranoides Bekenntnis entgegen: „Eines
Tages wird man nachlesen können, wer die Flüchtlingsströme gelenkt hat.“
## Nation statt Europa
So verwundert es nicht, dass Sloterdijk sich schlussendlich als der wahre
Hausphilosoph der AfD outet: der Theoretiker der „Sphären“ ermutigt alle
Gegner der Bundeskanzlerin, jetzt ganz im Einklang mit Gertrud Höhler: „Es
gibt schließlich keine Pflicht zur Selbstzerstörung.“
Fragt man sich jedoch, wer dieses „Selbst“ sei, so fällt auf, dass hier
zwar „Europa“ gesagt, tatsächlich jedoch die ethnisch verstandene Nation
gemeint ist. Dass es also um das „deutsche Volk“ geht, das auszusprechen
überlässt Sloterdijk denn doch seinem ehemaligen Assistenten.
2 Feb 2016
## AUTOREN
Micha Brumlik
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