| # taz.de -- Kolumne Gott und die Welt: Ein Gefühl namens Europa | |
| > „Unbehagen“, „Gespür“, „Stimmung“ oder eben doch „Gefühl“? … | |
| > Terror und Flüchtlingskrise fehlen Europa-Analytikern die Worte. | |
| Bild: Unscharfe Kategorien für einen unscharfen Zustand | |
| Nein, gut ist sie nicht, die politische Großwetterlage im Westen. | |
| Islamistischer Terror und Flüchtlingskrise stellen die politische Ordnung – | |
| jedenfalls in Europa – in einer Weise infrage wie noch nicht einmal 1989. | |
| Damals schloss einfach der östliche Teil Europas, durchaus revolutionär, | |
| zum Westen auf, ohne dass dessen politische Ordnung fragwürdig wurde. Heute | |
| bemühen sich Leitartikler und politische Experten darum, „Flüchtlingskrise�… | |
| und Terror zu erklären und damit beidem den beunruhigenden Charakter zu | |
| nehmen. | |
| Dabei scheint es nicht möglich, genaue Ursachen zu benennen: Das beweist | |
| die von professionellen Zeitanalytikern gewählte Begrifflichkeit: So | |
| beschwört der Sozialphilosoph Axel Honneth in seinem anregenden Langessay | |
| „Die Idee des Sozialismus“ ein „Unbehagen über den sozioökonomischen | |
| Zustand“ beziehungsweise ein Fehlen „geschichtlichen Gespürs“, während … | |
| Soziologe Heinz Bude einen inspirierenden Band zum Thema „Das Gefühl der | |
| Welt. Über die Macht der Stimmungen“ vorgelegt hat. | |
| Der Soziologe Hartmut Rosa wiederum, bisher als Kritiker einer universellen | |
| Beschleunigung bekannt, hat soeben eine voluminöse Studie zu einer | |
| „Soziologie der Weltbeziehung“ unter dem Titel „Resonanz“ publiziert. | |
| „Unbehagen“, „Gespür“, „Stimmung“, „Gefühl“ und „Resonanz�… | |
| zunächst diffus wirkende Begriffe; Begriffe, die man so in einer auf harten | |
| und klaren Begriffen aufbauenden Gesellschaftstheorie nicht kannte, das | |
| sind Kategorien, die ebenso unscharf wirken wie das, was sie mindestens | |
| beschreiben, wenn nicht gar erklären sollen: den gegenwärtigen | |
| gesellschaftlichen Zustand, jedenfalls im „westlichen“ Teil der Welt. | |
| ## Weiß Thomas Mann weiter? | |
| Eine weitere Assoziation: Im Literaturhaus der Stadt München wird | |
| gegenwärtig eine umfangreiche Ausstellung zu Thomas Manns epochalem Roman | |
| „Der Zauberberg“ gezeigt. Die Schau dokumentiert den sozialen und | |
| geografischen Ort des „Zauberbergs“, eines Lungensanatoriums in den | |
| Schweizer Alpen – einschließlich seiner Liegestühle, seiner Röntgenapparate | |
| und chirurgischen Folterwerkzeuge. | |
| Anlässlich eines Aufenthalts seiner Frau in Davos im Jahre 1913 begonnen, | |
| musste Thomas Mann die Arbeit am Text zunächst unterbrechen, um ihn | |
| schließlich nach dem Ersten Weltkrieg fertigzustellen. Das vorletzte | |
| Kapitel des 1924 publizierten Romans trägt die Überschrift „Die große | |
| Gereiztheit“ und gibt ihr Ausdruck: „Was gab es denn? Was lag in der Luft? | |
| Zanksucht. Kriselnde Gereiztheit. Namenlose Ungeduld. Eine allgemeine | |
| Neigung zu giftigem Wortwechsel, zum Wutausbruch, ja zum Handgemenge. | |
| Erbitterter Streit, zügelloses Hin- und Hergeschrei entsprang alle Tage | |
| zwischen einzelnen und Gruppen ...“ | |
| Das war zwar im Rückblick, aus der Situation der frühen Jahre der Weimarer | |
| Republik heraus geschrieben, traf aber das Lebensgefühl der letzten Jahre | |
| des alten Europas präzise. Stefan Zweig hat in seinem zu Beginn des Zweiten | |
| Weltkriegs verfassten autobiografischen Rückblick „Die Welt von gestern. | |
| Erinnerungen eines Europäers“ dasselbe geschildert: „Es war noch keine | |
| Panik, aber doch eine ständige Unruhe; immer fühlten wir ein leises | |
| Unbehagen, wenn vom Balkan her die Schüsse knatterten ...“ Auch hier: | |
| „Unruhe“, „Unbehagen“, „Gereiztheit“ ... | |
| Man mag sich fragen, was es bedeutet, dass die gegenwärtige | |
| Sozialwissenschaft sich solcher Begriffe bedient, sie also nicht mehr in | |
| der Lage zu sein scheint, die Ursachen dessen, was sie kategorial zu | |
| erfassen versucht, begrifflich zu erklären. Von der soziologischen | |
| Systemtheorie war zu erfahren, dass die Soziologie auch nur ein Teil dessen | |
| ist, was sie zu verstehen versucht: die Gesellschaft. | |
| Womöglich drückt sich in den unscharfen Kategorien ein unscharfer | |
| gesamtgesellschaftlicher Zustand aus. Dann aber ist zu vermuten, dass sich | |
| hinter all diesen Begriffen – „Unbehagen“, „Stimmung“, „Resonanz“… | |
| gemeinsame Ahnung verbirgt, nämlich die, dass unser Europa, das Europa der | |
| zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mitsamt seinen Hoffnungen, ebenso | |
| seinem Ende entgegengeht, gerade so, wie das alte Europa des neunzehnten | |
| Jahrhunderts lange vor 1914 am Ende war, ohne das doch begreifen zu können. | |
| 4 Apr 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Micha Brumlik | |
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