| # taz.de -- Kolumne Gott und die Welt: In der „Flüchtlingskrise“ | |
| > Der deutsche Rechtsstaat ist für alle da: Das Grundgesetz erklärt die | |
| > „Würde des Menschen“, nicht die „Würde der Deutschen“ für unantast… | |
| Bild: Am Ende zählen weder Religion noch Blut, sondern die Staatsbürgerschaft. | |
| In einem Punkt ist der gegen Kanzlerin Merkel aufbegehrenden Opposition | |
| Recht zu geben: Bei der Bewältigung der sogenannten Flüchtlingskrise geht | |
| es nicht nur um pragmatische Fragen, die durch angemessenes | |
| Verwaltungshandeln und europäische Kooperation zu lösen wären. Tatsächlich | |
| geht es um sehr viel weitergehende normative Fragen; am Ende um nicht mehr | |
| und nicht weniger als darum, wie sehr ein Staat, der sich den von ihm | |
| kodifizierten und in seine Verfassung aufgenommenen Menschenrechten | |
| verpflichtet sieht, noch klassischer Nationalstaat sein kann. | |
| In Frage steht tatsächlich, ob und wie weit die Bundesrepublik noch der | |
| Staat der (ethnischen) Deutschen ist oder ob sie nicht seit ihrer | |
| postnationalsozialistischen Gründung ein Staat ist, der in gewisser Weise | |
| einen weltbürgerlichen (I. Kant) Zustand teilweise vorweggenommen hat. Das | |
| jedenfalls sind die Fragen, die ein von dem konservativen Kölner | |
| Staatsrechtler Otto Depenheuer herausgegebener Sammelband kontrovers | |
| erörtert, der gerade erschienen ist. | |
| In diesem – „Der Staat in der Flüchtlingskrise. Zwischen gutem Willen und | |
| geltendem Recht“ betitelten – Band wird gefragt, ob es eine rechtliche | |
| Grenze für die Veränderung der ethnischen Zusammensetzung der Bevölkerung | |
| der Bundesrepublik gibt oder ob diese möglichen rechtlichen Grenzen nicht | |
| allemal durch den ersten Artikel der deutschen Verfassung, des | |
| Grundgesetzes, je schon überwunden sind. Zur Erinnerung dieser erste | |
| Artikel: | |
| „(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen | |
| ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. (2) Das Deutsche Volk bekennt | |
| sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als | |
| Grundlage jeder in der Welt. (3) Die nachfolgenden Grundrechte binden | |
| Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar | |
| geltendes Recht.“ | |
| ## Die Bürgerrechte zählen, nicht die Herkunft | |
| Schon in der Asyldebatte im Jahr 1993 ist darauf hingewiesen worden, dass | |
| Artikel 1 von der „Würde des Menschen“, nicht aber von der „Würde des | |
| Deutschen“ handelt. Kann das aber, so nun die staatsrechtlichen Gegner | |
| Merkels, bedeuten, dass der ursprüngliche Verfassungsgeber, nämlich das | |
| deutsche Volk, aufgelöst wird? Heiße es doch in der Präambel des | |
| Grundgesetzes: “Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den | |
| Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem | |
| vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk | |
| kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.“ | |
| Merkels staatsrechtliche Gegner argumentieren, dass eine weit gefasste | |
| Aufnahme und Integration von Asylbewerbern, Kriegs- und | |
| Wirtschaftsflüchtlingen den Charakter der Bevölkerung des Landes so weit | |
| verändern könne, dass damit auch der Verfassungsgeber selbst, das „Deutsche | |
| Volk“, verändert werde. Zwar räumen sie ein, dass dies grundsätzlich | |
| zulässig sei, beharren aber darauf, dass dies nur durch eine | |
| Verfassungsänderung, nicht aber durch einfache Gesetze oder durch | |
| demokratisch nicht wirklich legitimiertes Verwaltungshandeln möglich sei. | |
| Kann es also sein, so wird gefragt, dass die Deutschen durch ihre | |
| Verfassung mitsamt ihrem ersten Artikel von Anfang an ihre ethnische | |
| Homogenität preisgegeben haben – ohne dies jedoch schon 1949 gewusst oder | |
| doch wenigstens geahnt zu haben? | |
| Der Autor dieser Zeilen vertritt seit Langem die Meinung, dass jede Person | |
| „Deutsche®“ ist, die staatsrechtlich gesehen BürgerIn der Bundesrepublik | |
| ist – gleichviel welcher Herkunft. Daher bin ich davon überzeugt, dass die | |
| sogenannte „ethnische“ Zusammensetzung des Staatsvolks rechtlich und | |
| moralisch gesehen durchaus auch ohne Verfassungsänderung veränderbar ist. | |
| Das zu entfalten ist in einem Kommentar gleichwohl nicht der Ort. | |
| Worauf lediglich hingewiesen werden sollte, war, dass weder der wohlfeile, | |
| weil kurzfristig nicht umzusetzende Wunsch nach „Bekämpfung der | |
| Fluchtursachen“, noch karitatives Handeln allein der gegenwärtigen Krise | |
| gerecht werden: In der Tat geht es derzeit um nicht mehr und nicht weniger | |
| als um eine Neubestimmung dessen, was der demokratische Rechtsstaat | |
| Bundesrepublik Deutschland nicht nur in Europa, sondern auch in der | |
| globalisierten Welt sein wird. | |
| 1 Mar 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Micha Brumlik | |
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