# taz.de -- Peter Sloterdijks Klimaphilosophie: Vom Ich zum Wir | |
> Peter Sloterdijk nennt den Preis, den Menschen für die Freiheit zu zahlen | |
> haben. Haben wir es mit der Individualisierung übertrieben? | |
Bild: „Diese Konferenzen haben schon eine Tradition der Vergeblichkeit und de… | |
Wien taz | Ohne die Französische Revolution wäre Angela Merkel Gehilfin in | |
einem Pfarrhaus und Joachim Gauck wäre Hilfstotengräber auf einem | |
Kleinstadtfriedhof. Und er? „Ich“, sagt Peter Sloterdijk, „ich wäre im | |
günstigsten Fall ein Volksschullehrer auf dem Land.“ | |
Sloterdijk, 68, empfängt in einem repräsentativen Altbau im 1. Bezirk der | |
Stadt Wien, ein paar Schritte vom Innenring und nur ein paar hundert Meter | |
vom Stephansdom entfernt. Bücherregale, Schreibtisch und ein Holztisch, an | |
den er jetzt bittet. Er sieht aus wie der Peter Sloterdijk im Fernsehen – | |
nur dass er barfuß ist. | |
Er gehört zu den bedeutenden Philosophen der Gegenwart – seine Kritiker | |
sehen das selbstredend anders – und er hat sich, im Gegensatz zu anderen, | |
ernsthaft auf das gesellschaftliche Großproblem des Klimawandels | |
eingelassen. Er sieht den Verbrauch an Welt in ein „Beinahe-Endstadium“ | |
eintreten. Er fordert im Angesicht von „Konsumapokalyptikern“ und dem Trend | |
zur „finalen Party“ ein „Ethos der Nachhaltigkeit“. Und er geht in die | |
Tiefe, um herauszuarbeiten, was schiefgelaufen ist. | |
Die Französische Revolution hat die Vergangenheit beendet und damit den | |
Menschen – dafür steht Napoleon – von seiner Abstammungsverknüpfung | |
befreit. Gauck musste nicht Hilfstotengräber werden. Und er würde auch | |
nicht in einer feudalistischen Welt leben wollen. Die Aufklärung hat viel | |
gegeben, aber sie hat auch genommen. Etwa die Sicherheit der Herkunft, so | |
ärmlich sie gewesen sein mag. | |
## Das Lebensgefühl | |
In seinem jüngsten Buch „Die schrecklichen Kinder der Neuzeit“ (Suhrkamp | |
2015) führt er den Preis aus, den die Menschen für die Freiheit, die | |
Emanzipation und das Ich-Wachstum zu zahlen haben. Sie seien zu | |
„Niemandskindern“ geworden, dem Lebensgefühl nach „wie vom Himmel | |
gefallen“. | |
Nichts hinter ihnen, nichts vor ihnen, das ist der Kontext der | |
individuellen Freiheit und gleichzeitig der Kontext der ökologischen | |
Misere. „Nun tritt jeder Einzelne als Endverbraucher seiner selbst, als | |
Nutznießer seiner eigenen Lebenschancen aufs Gas und setzt dabei einen | |
deregulierten Stoffwechsel mit der äußeren Natur in Gang, aus welchem die | |
Letztere als Verliererin hervorgeht.“ | |
Je mehr Welt wir verbrauchen, desto besser ist unser Leben. Das ist – | |
entgegen des eigenen Über-Ich-Gebrabbels – die praktizierte Kultur. Haben | |
wir es mit der Individualisierung also übertrieben? „Wenn Sie fragen, ob | |
wir unter dem Gesichtspunkt des Stoffwechsels mit der Natur zu weit | |
gegangen sind, lautet die Antwort ganz eindeutig: ja.„ | |
Es gibt einen weiteren Missbrauch für Sloterdijk, den er bereits vor vielen | |
Jahrzehnten bei Carl Amery entdeckt hat, einem frühen und linkskatholischen | |
Denker der politischen Ökologie. Die Christen haben einen „fatalen Satz“ | |
aus dem Evangelium befolgt. „Macht euch die Erde untertan.“ (Genesis 1.28). | |
## Die Ausbeutung der Natur | |
„Diesen Schöpfungsauftrag haben Leute allzu wörtlich genommen, und das | |
führte zu der von Amery beschriebenen totalen industriellen Ausbeutung. | |
Also dahin, wo wir heute sind.“ Womit er nicht sagen will, dass | |
Nicht-Christen es anders handhaben. Ein entscheidendes – linkes – | |
Fortschrittsmotto lautete: Es ist höchste Zeit, dass die Ausbeutung des | |
Menschen durch den Menschen zu Ende geht. „An die Stelle tritt die | |
Ausbeutung der Natur durch den Menschen.“ Das sei die Epochenformel des 19. | |
Jahrhunderts. „Das reale Motto der Moderne.“ Man könne bald die | |
200-Jahr-Feier dieser Formel zelebrieren, an der inzwischen alle | |
Zivilisationen teilnähmen. | |
Zu einer Großdiagnose gehört für ihn auch, vom Ende der Geschichte her zu | |
denken. „Wir sind in einer Situation, in der man die Geschichte der Zukunft | |
schon heute schreiben kann“, sagt er. Nämlich? „Die eigentliche | |
Schicksalsschlacht wird in den Ballungsgebieten geschlagen. Der Prozess, | |
den die Europäer zwischen 1800 und 1950 vollzogen haben, ist der globale | |
Treiber der planetarischen Zukunft. Industrialisierung, Urbanisierung, | |
Konsum, Weltverbrauch. | |
Zwei Drittel der Menschheit würden bis 2080 „mehr schlecht als recht“ in | |
urbanen und suburbanen Agglomerationen leben. „Dies ist das wahre Gesicht | |
des menschlichen Schicksals in unserer Zeit.“ | |
Was tun? Sloterdijk steht auf und geht zu seinem Schreibtisch. Er muss | |
einen Anruf erledigen. Danach spricht er über Hermann Scheer, den 2010 | |
verstorbenen Weltpolitiker und Visionär einer ökosozialen Weltgesellschaft. | |
Dass er ihn vermisst und die Gespräche mit ihm. Wie die SPD 2009 „wegen | |
einer Bagatelle Frau Ypsilanti zur Abschlachtung freigegeben“ habe, statt | |
ihr zu helfen, eine Regierung zu bilden und Ministerpräsidentin von Hessen | |
zu werden. Und damit einen Praxistest des designierten Wirtschafts- und | |
Energieministers Scheer sabotierte, die Energieversorgung auf 100 Prozent | |
Erneuerbare umzustellen. „Wenn es gelungen wäre, es wäre eine | |
Weltrevolution im Kleinen gewesen.“ | |
## Das Gesetz des Irreversiblen gilt | |
Scheer habe das übliche Politikerdenken der umkehrbaren Prozesse bekämpft, | |
weil er wusste, dass es beim Klimawandel einen Point of no return gibt, | |
also Prozesse, die eben nicht mehr umkehrbar sind. Es gelte das Gesetz des | |
Irreversiblen. | |
Er schweigt. Erst wenn man insistiert, nennt er zwei Wege in die Zukunft. | |
Das eine ist eine grüne Wirtschaft, getrieben von einem Wertewandel in der | |
Gesellschaft und dem Prinzip des wohlverstandenen Eigeninteresses. Also das | |
zu verkaufen, was nachgefragt wird. | |
„Aus der Perspektive altlinker Animositäten erscheint es natürlich wie ein | |
Pakt mit dem Teufel, wenn man den Urheber eines Übels in die Rolle des | |
Retters einsetzt“, sagt er und lächelt. Vermutlich freut er sich schon | |
darauf, wenn mancher taz-Leser das schlucken muss. | |
Sloterdijk gilt den Kollegen Sozialstaats-Philosophen als zu wenig sozial | |
und zu elitär. Sie sind auch eher auf die Nachteile seines riskanten | |
Denkens fixiert. | |
## Kollektivismus ist keine Lösung | |
„Aber so funktioniert eben das, was man vorzeiten Dialektik nannte. Heute | |
würde man eher von konstruktiven Paradoxien in Lernprozessen sprechen.“ Im | |
übrigen habe die Mehrheit der heutigen Gesellschaften „keine so | |
diabolischen Auffassungen von der Wirtschaft wie die ewige Linke“. | |
Dass die Wirtschaft verkauft, was nachgefragt wird, logisch. Aber wodurch | |
entsteht ein breites „Ethos der Nachhaltigkeit“ in einer | |
individualisierten, konsumorientierten Welt, deren arme Hälfte gerade erst | |
loslegen will? | |
Kollektivismus ist keine Lösung, sagt Sloterdijk. Bei Kollektivismus denkt | |
er sofort an Nordkorea. Und doch ist er im letzten halben Jahrzehnt von der | |
Adressierung des Individuums (“Du musst dein Leben ändern“, heißt sein Bu… | |
von 2009) zu einem „Wir“ gewechselt, zur Adressierung einer Gruppe mit | |
einer gemeinsamen Sorge. Wo verbreitert und vertieft sie ein gelebtes | |
grünes Ethos? | |
„Tisch und Schule waren die Prägestöcke, in denen das bürgerlich akzeptable | |
Verhalten in Form gebracht wurde“, sagt er. Heute sei die Prägung viel | |
komplizierter, weil beide Institutionen extrem geschwächt seien. „Viele | |
Eltern der letzten Generation haben sich so kläglich eingeschätzt, dass sie | |
ihren Kindern die unmöglichste aller Fragen vorlegten: Wie würdest du denn | |
gerne erzogen werden?“ Jetzt kommt er in Fahrt. Dergleichen sei nur „nach | |
einem Jahrhundert der Verwirrungen“ möglich gewesen. Zudem sei in Ein- oder | |
Zwei-Kind-Familien ein wesentliches Element der früheren Sozialisation | |
verloren gegangen sei. Fraternité. Woher solle ohne Geschwister die | |
Übertragung von Empfindungen der Geschwisterlichkeit kommen? | |
## Das alles klingt etwas konservativ | |
Tja, woher? „Das Einzige, was funktionieren könnte, wäre eine starke | |
Ausweitung der Internatszone.“ Die Vorteile: Die verlorene | |
Geschwisterlichkeit einüben, sozialisierende Wirkung durch Leben in der | |
Gruppe, strengere Kontrolle des Mediengebrauchs, generell: Zusammenleben | |
nach Regeln. | |
Das alles klingt etwas konservativ. „Erziehung unterliegt per se einer | |
konservativen Logik“, sagt er. „Man kann nicht erziehen, wenn man selber | |
nicht von der Überzeugung durchdrungen ist, etwas zu wissen und zu können, | |
was es verdient, weitergegeben zu werden.“ | |
Sloterdijk sieht die deutsche Gesellschaft geprägt von etwas, dass er | |
Errungenschaftskonservatismus nennt. Das drückt sich für ihn nicht in der | |
Klassiker-Bibliothek oder einem gepflegten Weinkeller aus. „Man ist | |
konservativ, wenn man der Meinung ist, dass eine Krankenversicherung für | |
alle eine gute Sache ist, die man nicht aufgeben sollte.“ | |
Wo ist das Progressive? „Das Progressive lebt von Bewahrung des | |
Erreichten.“ Diesen Zeitgeist des „progressiven Konservatismus“ sieht er … | |
Baden-Württembergs grünem Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann | |
verkörpert. „Kretschmann hat das sehr zeitgemäße Kunststück fertiggebrach… | |
die Interessen an Bewahrung mit dem Zwang zur Progressivität auszugleichen. | |
Darin steckt viel Vernunft.“ | |
Was Paris angeht und ein ordentliches Ergebnis der Weltklimakonferenz, | |
setzt er weniger auf Vernunft. „Diese Konferenzen haben schon eine | |
Tradition der Vergeblichkeit und der Lächerlichkeit“, sagt Peter | |
Sloterdijk. „Irgendwann ist die eigene Lächerlichkeit für die Teilnehmer | |
dieser Konferenzen nicht mehr erträglich.“ Sie beschließen etwas | |
Substantielles, weil sie sich selbst sonst nicht mehr aushalten? Man muss | |
nehmen, was man kriegen kann. | |
5 Dec 2015 | |
## AUTOREN | |
Peter Unfried | |
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