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# taz.de -- Kommentar EU-Gipfel: Brüssel, Think Big!
> Die Europäische Union braucht jetzt dringend einen Marshallplan für
> Flüchtlinge. Aber die Krisenbearbeitungsmaschine stockt.
Bild: Unter dem Schriftzug: die EU-Außengrenze, über die jetzt immer alle red…
Die Europäischen Union existiert in drei Aggregatzuständen – vor der Krise,
in der Krise und nach der Krise. Auch miese Meldungen aus Brüssel werden
daher selten als katastrophal empfunden. Irgendwie vertrauen wir darauf,
dass Technokraten in Nachtsitzungen am Ende Formelkompromisse austüfteln,
die das scheinbar Unvereinbare doch kompatibel machen. CSU-Mann und
EU-Skeptiker Alexander Dobrindt hat die Brüsseler Logik 2011 grimmig wie
zutreffend kommentiert: „Die Macht der EU ist nach jeder Krise größer
geworden.“
Diesmal kann es anders ausgehen. Die Folgen eines Scheiterns in Sachen
Brexit, dem Austritt Großbritanniens, und der Flüchtlingskrise sind
unabsehbar. Kann sein, dass es diesmal nicht reicht, die gut geölte
Krisenbearbeitungsmaschine anzuwerfen.
Der Brexit ist dabei das vergleichsweise einfachere Problem. London steht
seit Jahrzehnten auf der Bremse, wenn es um mehr Einfluss für die EU geht.
Ein Austritt Großbritanniens aus der politischen Union müsste kein Fiasko
sein. Der wirtschaftliche Schaden würde vor allem das Königreich selbst
treffen. Man kann ihn begrenzen, etwa wenn Großbritannien den Status der
Schweiz hätte. Für eine stabile, selbstbewusste EU ist eine Existenz ohne
Engländer (und vielleicht mit den Schotten) vorstellbar.
Aber so ist es nicht. Denn die EU ist so fragil wie nie. Wenn ausgerechnet
das Land, in dem der Pragmatismus erfunden wurde, dem nationalen
Ressentiment den Vorzug vor kühler Berechnung gäbe, würde dies derzeit wie
ein Brandbeschleuniger wirken. Das gravierendere Problem ist die
Unfähigkeit der Europäischen Union, auf die Flüchtlingsströme zu reagieren.
## Scheitern an hartnäckigen Nationalismen
Es ist eine bittere Pointe, dass Kanzlerin Merkel mit ihrer
Griechenlandpolitik, die deutschen Interessen folgte, Erfolg hatte, und mit
der Flüchtlingspolitik, in der sie europäisch dachte, an hartnäckigen
Nationalismen scheitert. Natürlich rächen sich da Sünden der Vergangenheit.
Als vor ein paar Jahren in Lampedusa Tausende Flüchtlinge strandeten,
erklärte Merkels Innenminister volltönend, dies sei ein Problem Italiens.
Man sieht sich immer zweimal.
Doch die kategorische Weigerung der rechten Regierungen in Budapest und
Warschau, muslimische Flüchtlinge aufzunehmen, ist mehr als eine jener
misslichen nationalen Beschränktheiten, die im Mahlstrom der Verhandlungs-
und Vertagungsdiplomatie in Brüssel aufgelöst werden. Die Kampfrhetorik von
Victor Orbán und Beata Szydło wirft eine existenzielle Frage auf: Kann die
EU als postnationales Gebilde funktionieren, wenn ein Teil ihrer Mitglieder
einen rüden nationalistischen Kurs einschlägt?
Das Phänomen Orbán zeigt, dass die EU nicht mehr in jedem Fall Freiheit
beflügelt. Früher gelang es Brüssel in den postdiktatorischen
Gesellschaften Spaniens, Portugals und Griechenlands die Entwicklung zu
Demokratie und Liberalität zu befördern. Warschau und Budapest zeigen, dass
dieses Modell verschlissen ist. Damit droht der Einstieg in eine Logik der
nationalen Regression.
Was da am Horizont aufzieht, ist eine Schreckensvision – ein zunehmend
autoritär regiertes und aggressives Russland, der von endlosen
Bürgerkriegen zerfetzte Nahe Osten. Und Europa, das sich abschottet und in
dem wieder Stacheldraht die Staaten trennt.
## Außerhalb Europas investieren
Um das zu verhindern, muss man größer denken. George Soros hat in der
Süddeutschen einen klugen Vorschlag gemacht. Weil Europa nicht ignorieren
kann, was in Flüchtlingslagern in Jordanien, dem Libanon und der Türkei
passiert, muss Brüssel handeln. Handeln heißt, in großem Stil dort Geld
investieren.
Und, über Soros hinaus: Die EU, nicht die Nationalstaaten, sollten die
Kosten für die Flüchtlinge zahlen. Damit entsteht ein Anreizsystem, das
womöglich auch ein Warschau zu einem Sinneswandel führt. Bezahlbar ist so
ein zeitlich begrenzter Marshallplan für Flüchtlinge nur über massive neue
Kredite. Schulden machen klingt nach Risiko. Aber damit es so bleibt wie es
ist, muss die EU diesmal Neues wagen.
19 Feb 2016
## AUTOREN
Stefan Reinecke
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