| # taz.de -- EU-Kommissar Moscovici über Europa: „Europa wird nicht untergehe… | |
| > Es gibt keine nationalen Antworten auf die Herausforderung, vor denen die | |
| > Europäische Union und ihre Mitgliedsländer stehen, sagt Pierre Moscovici. | |
| Bild: Ist zwar nur ein fünf-Euro-Schein, doch der tiefe Riss durch Europa ist … | |
| taz: Herr Moscovici, Europa steckt in der Krise. Nach dem Schuldenstreit | |
| mit Griechenland und den ungelösten Problemen mit den Flüchtlingen droht | |
| nun auch noch der Austritt Großbritanniens. Wie wollen Sie diesem | |
| Teufelskreis entkommen? | |
| Pierre Moscovici: Als Jean-Claude Juncker 2014 Präsident der EU-Kommission | |
| wurde, hat er gesagt, dies sei die „Kommission der letzten Chance“. Manch | |
| einer meinte damals, die Formulierung sei zu dramatisch. Nun sehen wir, | |
| dass sie noch untertrieben war: Wir sind nicht nur die Kommission der | |
| letzten Chance, sondern auch die der Krisen, Juncker spricht von einer | |
| „Polykrise“. Wenn wir uns umschauen, sehen wir zahlreiche | |
| Herausforderungen: die Flüchtlingskrise, den Kampf gegen den Terrorismus, | |
| die sozialen Verwerfungen, die die Wirtschaftskrise hinterlassen hat, den | |
| Vormarsch der Populisten, die Krise in Griechenland. Und nun auch noch die | |
| Frage, wie wir Großbritannien in der EU halten können, ohne unsere | |
| Prinzipien und Werte aufzugeben. | |
| Wie wollen Sie diese „Polykrise“ in den Griff bekommen? | |
| Was mich optimistisch stimmt: Die Krisen heizen zwar den Populismus an. | |
| Aber gleichzeitig wird den Bürgern mehr denn je bewusst, dass es nur | |
| europäische Lösungen geben kann. Ich bin davon überzeugt, dass der | |
| europäische Gedanke am Ende triumphieren wird, denn es gibt keine nationale | |
| Antwort auf diese Herausforderungen. Man kann die Flüchtlingskrise nicht | |
| auf nationaler Ebene lösen, man kann den Terrorismus nicht nur in einem | |
| Land bekämpfen, man kann den Euro per definitionem nicht im Alleingang auf | |
| eine solidere Basis stellen. All diese Herausforderungen rufen ohne Zweifel | |
| nach einer neuen Definition der EU, nach einem anderen Europa – aber | |
| bestimmt nicht nach weniger Europa und schon gar nicht nach einem Abschied | |
| von Europa. | |
| Was sind denn Ihre Vorschläge, wenn es um die Flüchtlinge geht? Sind Sie | |
| für eine Sondersteuer, wie sie Wolfgang Schäuble vorgeschlagen hat? | |
| Das habe ich nicht gesagt. Ich denke allerdings, dass die Debatte, die | |
| Schäuble angestoßen hat, wichtig und willkommen ist. Wir müssen sie | |
| öffentlich führen. Die Flüchtlingskrise zwingt uns, große finanzielle | |
| Ressourcen zu mobilisieren. Das sind massive Kosten, für lange Zeit. Selbst | |
| wenn der Flüchtlingsstrom nachlässt, so wird er doch nicht auf einen Schlag | |
| zum Stillstand kommen. Die Bundesrepublik wird darauf Milliarden Euro | |
| verwenden, vielleicht sogar Dutzende Milliarden. Wolfgang Schäuble sagt: | |
| „Wir brauchen ein Stück Solidarität.“ Ich bin einverstanden. Er hat eine | |
| Lösung vorgeschlagen: die Benzinsteuer. Es gibt auch andere Möglichkeiten. | |
| Welche denn konkret? | |
| Man könnte an Anleihen denken. Ich meine Anleihen für die Flüchtlinge, um | |
| damit eine gemeinsame Sache zu finanzieren. Das hat nichts mit den | |
| Eurobonds zu tun, die bekanntlich dazu gedacht waren, die | |
| Staatsschuldenkrise zu lösen. Kurz, ich glaube, wir müssen sorgfältig über | |
| die Finanzierung dieser zusätzlichen Ausgaben nachdenken. Dabei muss es | |
| auch einen Anteil aus europäischen Mitteln geben. | |
| Sie sagen, Sie wollen nicht weniger Europa – doch genau das vereinbart die | |
| EU doch gerade mit dem britischen Premier David Cameron. Verabschieden wir | |
| uns von der „immer engeren Union“ im EU-Vertrag? | |
| Was mit Herrn Cameron vereinbart wurde, kann ohne Vertragsänderung | |
| realisiert werden. Wir bleiben also im Rahmen unserer Union. Hinzu kommt, | |
| dass das Vereinigte Königreich schon immer eine Sonderbeziehung mit der EU | |
| gehabt hat. Wir brauchen Großbritannien, London ist politisch und | |
| wirtschaftlich wichtig. Aber wir bleiben bei der europäischen Idee. | |
| Wie sieht es mit der Eurozone aus? Kann sie weiter vertieft und gestärkt | |
| werden – trotz der Zugeständnisse an die Briten? | |
| Was wir mit den Briten ausgehandelt haben, bremst die Fortschritte in der | |
| Eurozone nicht aus. Es geht lediglich darum zu garantieren, dass die | |
| Länder, die außerhalb bleiben, ihre eigene Identität behalten können – | |
| allerdings ohne Vetorecht zu Entscheidungen der Eurozone. | |
| Wie stellen Sie sich denn Fortschritte in der Eurozone vor? Bisher bewegt | |
| sich wenig, Deutschland hat den Reformbericht der fünf EU-Präsidenten in | |
| die Schublade gelegt … | |
| Wir brauchen eine effizientere und demokratischere Regierungsführung. Der | |
| Fünfpräsidentenbericht ist eine interessante Grundlage. Natürlich ist mir | |
| klar, dass es wegen des britischen Referendums und der Wahlen in Frankreich | |
| und Deutschland schwierig wird, vor Ende 2017 ehrgeizige Reformen | |
| anzugehen. Aber wir müssen das Terrain bereiten. Ich glaube immer noch, | |
| dass wir ein europäisches Schatzamt brauchen, einen europäischen | |
| Finanzminister, demokratischere Debatten sowohl in den nationalen | |
| Parlamenten als auch im Europaparlament, eine bessere Integration der | |
| Eurozone und eine Finanzkapazität – zum Beispiel für eine komplementäre | |
| Arbeitslosenversicherung. Wir müssen diese Debatte in Ruhe führen, aber | |
| auch entschieden. | |
| Kann die Eurokrise erneut ausbrechen? Portugal hat ja wieder Probleme … | |
| Mehrere Länder – und zwar nicht die geringsten – hatten in der | |
| Vergangenheit Budgetprobleme. Italien, Frankreich und Belgien waren vor | |
| einem Jahr im Fokus, heute bereiten uns Spanien, Portugal und vielleicht | |
| erneut Italien Sorgen. Aber wir haben Werkzeuge, um damit umzugehen: das | |
| Two Pack und das Six Pack (während der Eurokrise beschlossene Regeln und | |
| Verfahren, die Red.). Ich würde nicht von business as usual sprechen – aber | |
| das sind Mechanismen, die uns zusammenschweißen. | |
| Was ist mit Griechenland, ist die Grexit-Gefahr gebannt? | |
| Der Fall ist etwas anders gelagert, denn hier wurde im vergangenen Jahr | |
| implizit – für manche auch explizit – die Frage gestellt: Soll Griechenland | |
| Mitglied der Eurozone bleiben und um welchen Preis sollen wir es halten? Da | |
| haben wir seit dem Sommer entscheidende Fortschritte gemacht. Ich glaube | |
| nicht, dass heute noch irgendjemand an einen Grexit denkt. Niemand. Wenn | |
| ich mit Wolfgang Schäuble spreche, dann hat er genau dieselbe Sorge wie | |
| ich: Wir müssen hinbekommen, dass Griechenland seinen wirtschaftlichen | |
| Umbau erfolgreich voranbringt und unter guten Vorzeichen im Euro bleibt. | |
| Ein anderes Problem der Eurozone sind die wirtschaftlichen | |
| Ungleichgewichte. Was kann man dagegen tun? | |
| Sie müssen in jedem unserer Länder bekämpft werden. Ich bin Franzose, aber | |
| derzeit bin ich vor allem europäischer Kommissar. Frankreich hat zugesagt, | |
| sein Budgetdefizit 2017 unter drei Prozent zu drücken. Das ist | |
| unverzichtbar, es wird keinen neuen Aufschub geben. Und es ist auch | |
| machbar. | |
| Und Deutschland? | |
| Auf der deutschen Seite muss man über Mittel und Wege nachdenken, die | |
| Überschüsse abzubauen. Jene Länder, die einen Budgetüberschuss haben und | |
| gleichzeitig Leistungsbilanz-Überschüsse, müssen ihren Bewegungsspielraum | |
| im Budget nutzen, um öffentliche Investitionen zu finanzieren. Auf gewisse | |
| Weise sind die Ausgaben, die in Deutschland für die Flüchtlinge gemacht | |
| werden, bereits eine Antwort auf dieses Problem, weil sie die Überschüsse | |
| abbauen werden. Deutschland für seine Erfolge anzuklagen, wäre nicht | |
| logisch. Das Land hat Überschüsse und es ist im Interesse aller, dass sie | |
| nach und nach in vernünftigere Dimensionen zurückkommen. | |
| Sie haben vom Populismus gesprochen, der Ihnen Sorge bereitet. Denken Sie | |
| dabei auch an die französische Nationalistenführerin Marine Le Pen? | |
| Die Gefahr des Populismus existiert in ganz Europa, sie ist sehr präsent in | |
| unseren Gedanken, und zwar in allen EU-Ländern. Natürlich ist sie auch in | |
| Frankreich sehr präsent. Die letzten Regionalwahlen haben eine doppelte | |
| Botschaft gebracht, die sowohl alarmierend als auch beruhigend ist. | |
| Alarmierend, weil die Rechtsextremen sehr viele Stimmen bekommen haben. | |
| Aber auch beruhigend, weil wir sehen, dass diese Partei nicht in der Lage | |
| zu sein scheint, eine entscheidende Wahl in Frankreich zu gewinnen. Der | |
| Front National hat nicht eine einzige Region gewonnen. Und Marine Le Pen | |
| wird 2017 nicht zur Präsidentin Frankreichs gewählt werden, davon bin ich | |
| überzeugt. | |
| Frankreichs Premier Manuel Valls hat davor gewarnt, dass Europa „aus der | |
| Geschichte fallen“ könne. Was bedeutet das für jemanden, der wie Sie im | |
| Herzen Europas tätig ist? | |
| Wenn wir sagen würden, „Europa ist bei bester Gesundheit“, würden wir | |
| lügen. Deshalb teile ich die Weitsicht von Valls. Aber natürlich habe ich | |
| als EU-Kommissar einen etwas anderen Zungenschlag. Ich glaube weiter, dass | |
| die EU die Lösung ist, und ich finde mich nicht mit dem Gedanken ab, dass | |
| sie sterben könnte. Nein, Europa wird 2016 nicht untergehen, denn das Ende | |
| der EU wäre unser aller Ende – und wir sind nicht lebensmüde! Die | |
| Proeuropäer müssen sehr klarsichtig sein bei der Diagnose. Aber wir müssen | |
| auch sehr offensiv sein und für starke Lösungen kämpfen. | |
| 17 Feb 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Eric Bonse | |
| Camille Le Tallec | |
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