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# taz.de -- Essay zur Essenskultur: Unser Bauch weiß alles
> Die Wucht der Lebensmittelskandale: Wir können das System ändern – als
> bewusste Verbraucher und als Bürger, die sich gegen die Agrarindustrie
> einmischen.
Bild: Mmmmhh, lecker Wurst.
Es gibt kein Entkommen. Im Laufe eines Lebens isst der Mensch 105.000-mal.
Er widmet dem leiblichen Wohl sechs Jahre seiner Lebenszeit. Inklusive
Zubereitung sind es sogar zehn Jahre. 30.000 Kilo Nahrung und 50.000 Liter
Getränke passieren in 70 Jahren unseren Magenpförtner. „Essen und
Ernährung“, sagt der Kulinar-Historiker Gunter Hirschfelder, „sind
bestimmend im Leben jedes Einzelnen, sie erfordern stetig neues
Einverleiben.“
Frühstück, Mittag, Abendbrot, dazwischen Snacks, Kaffee und Kuchen,
Schokoriegel und Lutschbonbons, Apfelschnitz und Energiebällchen. Wir essen
und trinken ständig. Und erleben ebenso regelmäßig, wie mit Essen und
Trinken gepanscht und betrogen wird. Jetzt gerade besonders heftig.
Bio-Eier sind gar keine, die Lasagne wiehert, und im Futtermittel fürs
liebe Vieh lauern krebserregende Pilzgifte. Über die Deutschen schwappt
eine in dieser Wucht und Häufung seltene Welle von Lebensmittelskandalen.
Man lupft den Stein und sieht das Gewimmel. Zwei bis drei Skandale im Jahr
sind inzwischen zwar normal, aber in solch kurzen Abständen ist das
ungewöhnlich.
Übers Pferdefleisch konnte mancher noch lachen, zumal die Schlagzeilen
süffig und echte Gefahren nicht zu befürchten waren. Der Fall hat eher den
internationalen Verschiebebahnhof von Lebensmitteln und die kreativen
kriminellen Energien der Fälscher thematisiert – mit rumänischen
Ross-Schlächtern, niederländischen und zypriotischen Zwischenhändlern,
italienischen Rezepturen und deutschen, französischen und britischen Opfer.
Der Schwindel mit Bio-Eiern und vollgestopften Hühnerställen ging schon
eher unter die Haut, weil wir damit nicht unbedingt gerechnet haben. Und
weil der aufgeklärte Verbraucher als Biokunde betroffen war: sein Glaube an
das Gute. Bei der Futtermittelindustrie überrascht uns schon lange nichts
mehr. Hier gilt die leicht zu erratende Kreuzworträtsel-Aufgabe: mafiose
Vereinigung mit 21 Buchstaben, die mit „Futter“ beginnt und mit „industri…
endet.
## Hauptsache billig
In der Häufung offenbaren die Skandale ein krankes System der
Lebensmittelerzeugung mit minimalen Margen und deshalb fast
naturgesetzlichen Betrugsversuchen. Dass dabei Tiere, Natur und Umwelt
ebenso unter die Räder kommen wie Geschmack und Genuss ist längst
lexikalisches Allgemeinwissen. Mit reflexhaften Rufen nach mehr Kontrollen
und schärferen Strafen allein scheint dieses System nicht zu bändigen zu
sein.
Natürlich stimmt auch die Schnelldiagnose, dass wir Deutschen – Hauptsache:
billig – zu wenig Geld für Lebensmittel ausgeben und im Zweifel fürs
Motorenöl unseres Tiefergelegten das Dreifache bezahlen wie fürs Olivenöl
in der Küche. Das ist alles richtig, aber folgenlos. Die Deutschen kaufen
nach Preis, und die Billigerzeugung von Lebensmitteln ist nun mal
skandalträchtig.
Wie gehen wir nun aber um mit diesen ständigen Alarmmeldungen, was bewirken
sie beim Einkauf? Der Aachener Psychoanalytiker Micha Hilgers spricht von
„Gewöhnungseffekten“, die unsere Empörung dämpfen. Die Lebensmittelskand…
seien inzwischen „Teil der allgemeinen Nachrichtenfolklore“ und würden sich
zudem noch gegenseitig verdrängen. Und alle zusammen verwischen dann auch
die Gedächtnisspuren von den Ehec-Keimen und Antibiotika-Rückständen des
vergangenen Jahres.
Wirklich betroffen von den Skandalen sind für Hilgers vor allem jene
Bevölkerungsschichten, die sich mit Junkfood und Fertiggerichten ohnehin
schlecht ernähren: „Die können nicht aussteigen aus diesem System!“ Ihnen
fehlten Geld, Muße und Bewusstsein, um mit frischen Zutaten selbst zu
kochen und damit Herr über den eigenen Kochtopf zu sein, um so möglichen
Gefahren oder Fälschungen auszuweichen. Zwei Pakete Pferdelasagne für 4,98
Euro müssten im Zweifelsfall die Mäuler einer vierköpfigen Familie stopfen.
Diese ärmeren, bildungsferneren Schichten würden die Skandale fast
regungslos hinnehmen, sagt Hilgers, nur die Ohnmachtsgefühle verstärkten
sich ein wenig.
## Hardcore-Ökologen
Anders geht es den aufgeklärten Verbrauchern, die über Geld und
Problembewusstsein verfügen. Doch auch für ihrem Weg zum Supermarkt gilt:
Man kann nicht dauerhaft mit schlechten Gefühlen einkaufen und leben. Und
es ist selbst Hardcore-Ökologen unmöglich, den Teller stets korrekt zu
füllen und alle moralischen, umweltpolitischen und gesundheitlichen Aspekte
bei der Lebensmittelauswahl ständig mitzudenken, ohne zu verhungern oder
verrückt zu werden.
Wie hat man dieses Hähnchen gehalten? Wie viele Flugstunden hat die Ananas
hinter sich? Wo wurde der Thunfisch gefangen? Stammt der Blumenkohl aus
Hybridzucht? Schmeckt der Spargel, wenn die ukrainischen Stecherbrigaden
sich für 4,20 Euro den Buckel krumm schuften? Stammt das Schnitzel von der
berüchtigten Pietrain-Rasse? Selbst das arglose Hühnerei wird zur Falle.
So entwickelt jeder beim Einkauf seine ganz private Moral – je nach Laune,
Wissensstand und Verdrängungsgrad. „Wir alle ziehen unsere eigenen
Bilanzen, mit denen wir einverstanden sind“, sagt Analytiker Hilgers. Trotz
Klima-GAU und Fischereikrise gestatten wir uns also ein gewisses Quantum an
Wolfsbarsch oder Rumpsteak. Im Zweifelsfall gilt: Heute gönne ich mir mal
was, die Welt ist schlecht genug.
Diese Nonchalance bedeutet aber nicht, dass uns alles wurscht wäre. Im
Gegenteil: Wir alle haben – schon seit vielen Jahren – ein sicheres
Bauchgefühl dafür entwickelt, dass unser Agrar- und Ernährungssystem längst
aus dem Ruder gelaufen ist. Jeder Kameraschwenk durch eine voll
automatisierte Hähnchen-Schlachterei mit ihren Blitzmessern, jeder
heimliche Blick in Puten- und Kaninchenställe, Lachsfarmen und
Garnelentümpel bestätigen das Elend und unseren Abscheu.
Was bisher fehlte, war der Transmissionsriemen, um aus unserem Bauchgefühl
politisches Kapital zu schlagen, ein Ventil für Protest und Wut. Das
scheint sich nun zu ändern, und jeder neue Lebensmittelskandal beschleunigt
diese Entwicklung ein wenig. Was sich vor allem geändert hat: Die Akzeptanz
für die ländlichen Standorte der Massentierhaltung ist dahin. Mäster und
Fleischkonzerne finden kaum noch Plätze für ihre monströsen Anlagen.
Überall werden sie sofort von Bürgerinitiativen attackiert. Allein in den
letzten drei Jahren wurden 40 Tierfabriken gestoppt. Das macht Mut und
steckt an. Selbst konservative Landräte wettern dagegen und fordern
Bestandsobergrenzen für Schweine- und Hühnerställe.
## Die große Bedrohung
Die Massentierhaltung bedroht nämlich auch den Tourismus und grüne
Energieprojekte, sie fördert die Landflucht und bringt betroffenen Regionen
einen Imageschaden. Inzwischen lassen sich, wie Niedersachsen zeigt, mit
einer Kampagne gegen Massentierhaltung sogar Wahlen gewinnen. Auch bei der
Bundestagswahl werden die Grünen das Thema spielen. Der neue
niedersächsische Agrarminister Christian Meyer muss jetzt mit seinem
Versprechen einer sanften Agrarwende „liefern“. Man wird genau beobachten,
ob er dem Agromoloch wirklich ans Leder geht.
Auch an der vegetarischen Front ist einiges in Bewegung geraten. Früher
spritzen die Vegetarier mit Blut und wetterten gegen Leichenteile auf dem
Teller. Heute verordnen sie fleischlose Schnupperkurse, propagieren den
Halbzeitvegetarier („zwei halbe Vegetarier ergeben einen ganzen“) und
stellen für den Ausstieg aus der Fleischpfanne einen Veggie-Buddie ab, der
uns täglich per Mail mit Rezepten, Infos und Trost versorgt.
Die Zahl der Teil- und Vollvegetarier steigt vor allem bei jungen Leuten.
Und 52 Prozent der Deutschen erklären laut Selbstauskunft bei Forsa, dass
sie ihren Fleisch- und Wurstverzehr drosseln wollen. Nicht dass sie dabei
sonderlich erfolgreich wären. Und natürlich erfüllen sie mit dieser Aussage
vor allem die „soziale Erwünschtheit“, wie die Sozialwissenschaftler sagen.
Aber sie haben zumindest die Botschaft verstanden.
Die gesellschaftliche Stimmung für Veränderungen war im nachdenklichen Teil
der Bevölkerung lange nicht so gut. „Wir haben es satt!“, heißt das Motto
der neuen, selbstbewusster agierenden Agrarbewegung. Die vielen
Lebensmittelskandale liefern das Hintergrundrauschen dazu. Die immer neue
Bestätigung für unser kritisches Bauchgefühl.
Aber: „Können wir die Welt verändern, wenn wir zu ändern versuchen, was wir
Menschen essen?“, fragt der US-Historiker Aaron Bobrow-Strains. Seine
Antwort: „Ich glaube immer noch daran, ja. Nahrung verbindet uns auf eine
sehr intime Art mit den großen Fragen von Gesellschaft und Politik. Das hat
schon Platon sehr genau erkannt.“ Bobrows Rat: Weniger moralisieren! Und:
„Nicht der Konsument, nur der Bürger kann das Ernährungssystem ändern. Auf
politischem Weg!“
13 Mar 2013
## AUTOREN
Manfred Kriener
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