| # taz.de -- Blogger über digitalen Kontrollverlust: „Es gibt noch Freiheit i… | |
| > Seit Snowden ist klar: Niemand ist mehr Herr seiner Daten. Welche | |
| > Möglichkeiten es gibt damit umzugehen, fasst Michael Seemann in einem | |
| > Buch zusammen. | |
| Bild: Michael Seemann: „Das Spiel ist noch nicht vorbei, wir müssen es nur e… | |
| taz: Herr Seemann, mit „Neues Spiel - Nach dem Kontrollverlust“ planen Sie | |
| ein Buch über den Informations-Kontrollverlust im Internet – | |
| [1][http://www.startnext.de/ctrlverlust][2][ein Crowdfunding Projekt.] Wird | |
| das ein Handbuch dazu, wie man in Zukunft mit Daten im Netz umzugehen hat? | |
| Michael Seemann: Es ist in der Tat ein Buch, das auch konkrete Ratschläge | |
| geben möchte. Aber nicht nur. Es wird zur Hälfte ein theoretisches Buch, in | |
| dem es darum geht, den Grundlagen des Kontrollverlusts nachzuspüren. | |
| [3][Ein Thema, dass mich seit drei Jahren beschäftigt]. Wir müssen den | |
| Kontrollverlust erst verstehen lernen. Denn er ist es, der die Regeln so | |
| radikal umgestellt hat, dass ich von einem „neuen Spiel“ spreche. | |
| Es ist etwa so, als ob jemand mitten beim Damespielen den Schalter auf | |
| Schach gestellt hat, aber wir alle gar nicht wissen, wie man das spielt. | |
| Unsere Probleme beruhen weniger auf dem Kontrollverlust an sich, als | |
| vielmehr darauf, diese neuen Regeln noch nicht genügend verstanden zu | |
| haben. Wir spielen das neue Spiel nach den alten Regeln und verlieren | |
| natürlich ständig. | |
| Was sind Ihre grundlegenden Thesen? | |
| Die grundlegende These ist der Kontrollverlust selbst: also dass mit der | |
| zunehmenden Digitalisierung der Alltagswelt, Informationen nicht mehr | |
| kontrollierbar sind. Wir merken das täglich in Sachen Datenschutz oder | |
| Urheberrechte. Aber auch Wikileaks und Snowden sind Agenten des | |
| Kontrollverlusts. Man sieht, der Kontrollverlust ist ambivalent und enorm | |
| erfolgreich, die Welt nach seinen Regeln umzugestalten. Man kann sich jetzt | |
| natürlich zurückziehen und die Welt und den Kontrollverlust verfluchen. | |
| Oder man kann versuchen ihn zu verstehen und seine Strategien anpassen. | |
| Wie das? | |
| Solche Strategien sehen wir bereits überall. Wie man zum Beispiel die | |
| Social-Media-Kanäle nutzen kann, um politische Missstände aufzuzeigen, hat | |
| der #Aufschrei gezeigt. Wie man spontan Proteste oder gar Revolutionen | |
| mithilfe der neuen Kommunikationsmedien organisieren kann, zeigten die | |
| Ereignisse von Tahrir bis Taksim. In Berlin zeigt die | |
| Datenjournalismusagentur [4][OpenDataCity] wie man mithilfe von Daten den | |
| politischen Journalismus auf eine neue Stufe heben kann. Und natürlich ist | |
| Whistleblowing die derzeit wichtigste Strategie im neuen Spiel. Ein | |
| Einzelner kann heute eine Weltmacht herausfordern. | |
| Bislang haben wir diese Dinge immer jedes für sich betrachtet und bestaunt. | |
| Dass sie aber Symptome einer einzigen Bewegung sind, wurde immer noch nicht | |
| hinreichend verstanden. | |
| Markieren die Snowden-Enthüllungen eine neue Chance oder den Moment, in dem | |
| die Freiheit im Netz endete? | |
| Es ist der Moment, in dem eine naive und selbstgerechte Vorstellung von der | |
| Freiheit des Netzes endete. Was natürlich eine Chance ist. Bei Wikileaks | |
| oder beim durchs Netz zu Fall gebrachten Bundesminister zu Guttenberg war | |
| die Schadenfreunde groß – gerade im Netz. Ich habe schon damals darauf | |
| aufmerksam machen wollen, dass der Kontrollverlust uns alle ereilen wird. | |
| „Kontrollverlust ja, aber nur für die anderen“, funktioniert nicht. Das ist | |
| seit Snowden klar geworden. Nun müssen wir anfangen, darüber zu reden, wie | |
| es weitergehen kann. | |
| Ich glaube nämlich nicht, dass die Freiheit im Netz jetzt zu Ende ist. Ich | |
| fühle mich frei, obwohl ich mir über den Kontrollverlust seit Jahren sehr | |
| bewusst bin. Der Trick ist, seine Tätigkeiten und Prozesse so zu | |
| organisieren, dass sie auch dann noch funktionieren, wenn die Informationen | |
| unvorhergesehene Wege gehen. | |
| Wie geht das? | |
| Ein Beispiel: Ich weiß, dass ich es sowieso nicht verhindern kann, dass | |
| mein Buch im Internet unkontrolliert kursieren wird und jeder damit machen | |
| kann, was er will. Deswegen gebe ich dem Buch gleich eine freie Lizenz („do | |
| what the fuck you want“ Anm. d. Redaktion) mit und verzichte auf die | |
| Kontrolle, die ich sowieso nicht haben werde. Gleichzeitig sorge ich aber | |
| mittels Crowdfunding dafür, dass ich auch nicht von dieser Kontrolle | |
| abhängig bin. Wenn mein Buch im Netz kursiert, bin ich bereits bezahlt. | |
| Sie nennen es ein „neues Spiel“. Aber ist die Erfahrung des digitalen | |
| Kontrollverlusts nicht etwas sehr ernstes? | |
| Ich glaube, die Gefahren des Kontrollverlusts für den Einzelnen sind | |
| durchaus gegeben. Aber sie werden auch maßlos überschätzt. Die Privatsphäre | |
| wird hierzulande vor sich hergetragen wie früher die unsterbliche Seele. | |
| Und auch die Kulturschaffenden weinen um ihr Urheberrecht, als sei es | |
| jemals eine funktionierende Einnahmequelle für Kreative gewesen. Das war es | |
| aber immer nur für eine einstellige Prozentzahl. Das meiste davon ist reine | |
| Rhetorik. Studien zeigen z.B. eine massive Diskrepanz von dem, was die | |
| Leute von Privatsphäre erwarten und was sie tatsächlich bereit sind dafür | |
| zu tun. | |
| Nichtsdestotrotz gibt es auch enorme Gefahren. Unsere Demokratie, die uns | |
| die letzen Jahre einigermaßen zuverlässig vor Willkürherrschaft und | |
| Tyrannei bewahrte, wird extrem herausgefordert, wenn unsere Geheimdienste | |
| so außer Kontrolle geraten, wie wir es gerade erfahren. Dem muss dringend | |
| etwas entgegengesetzt werden. Ein pochen auf Privatsphäre aber ist keine | |
| funktionierende Strategie. Whistleblowing und Transparenzforderungen | |
| dagegen sehr wohl. | |
| Sie sprechen davon, dass Macht sich im Netz in Form von Plattformen | |
| entwickelt. Was bedeutet das? | |
| In der Welt des alten Spiels hatten Institutionen die Aufgabe, Leute | |
| miteinander zusammenzubringen, die komplementäre Interessen haben. Die | |
| Arbeitsagentur den Arbeitnehmer mit dem Arbeitgeber, die Unternehmen den | |
| Kunden mit dem Produkt, die Zeitungen die Information mit den | |
| Uninformierten. Aus dieser Aufgabe heraus ergab sich eine gewisse Macht. Im | |
| neuen Spiel aber können sich die Menschen frei vernetzen, weil jeder | |
| potenziellen Zugang zu den Interessen und Bedürfnissen des Anderen hat. Die | |
| Verknüpfung dieser Interessen übernehmen aber heute Plattformen wie | |
| Facebook, Google und viele andere. Das geht bis ins Alltagsleben. Mit | |
| Mytaxi braucht es keine Taxizentralen mehr, mit dem Carsharing wird auch | |
| das Autofahren zur Plattform-Service und AirBnB macht die ganze Welt zum | |
| Hotel. Alles entwickelt sich zur Plattform, was den Plattformbetreibern | |
| eine ungekannte Macht in die Hände spielt. | |
| Unser alltägliches Leben funktioniert oft nicht mehr, wenn wir keinen | |
| Zugang zu ihm haben. Das kann für Einzelne schlimme Folgen haben. Ich | |
| glaube, wir müssen die Plattformneutralität als politisches Problem | |
| betrachten, das weit über die Netzpolitik hinausgeht. Sie ist eine der | |
| zentralen Herausforderungen im neuen Spiel. | |
| Was sollte man auf folgenden Satz erwidern: „Mir egal, ich hab ja nichts zu | |
| verbergen“? | |
| Als jemand der sich seit Jahren aktiv mit Post-Privacy auseinandersetzt, | |
| wäre ich zunächst einmal skeptisch. Ich würde also fragen, ob die Person | |
| sich das reiflich überlegt hat. Wenn man genau darüber nachdenkt, hat man | |
| meist mehr zu verbergen, als einem lieb ist. Wenn die Person aber auch nach | |
| reiflicher Überlegung zu diesem Schluss kommt, kann man sie nur | |
| beglückwünschen. Ich halte das jedenfalls keinesfalls für unmöglich und für | |
| einen durchaus erstrebenswerten Zustand. | |
| Gibt es überhaupt einen Zeitpunkt „nach dem Kontrollverlust“? | |
| Nach dem Kontrollverlust ist der Zeitpunkt, an dem wir aufgegeben haben, | |
| die Kontrolle wiederzuerlangen. Der Kontrollverlust ist das Scheitern an | |
| unrealistischen Erwartungen. Wo es keine Erwartung einer Kontrolle gibt, | |
| kann es auch keinen Kontrollverlust geben. Insofern ist der Kontrollverlust | |
| ein Übergangsphänomen. | |
| Die Zeit nach dem Kontrollverlust wird so oder so kommen. Je schneller sie | |
| kommt, desto weniger Schaden kann der Kontrollverlust anrichten. Am Ende | |
| der Entwicklung wird aber eine von Kopf bis Fuß transformierte Gesellschaft | |
| stehen. Ich bin zu sehr Realist um zu glauben, dass sie unbedingt besser | |
| sein wird als die jetzige. Sie wird – allem Kulturpessimismus zum Trotz – | |
| aber auch nicht schlechter sein, da bin ich sicher. | |
| Könnte die Nutzung eines alternativen Netzes, etwa Free- oder Darknets, den | |
| Kontrollverlust eindämmen? | |
| Das sind Lösungen, die diskutierenswert sind. Ich bin allerdings skeptisch, | |
| dass sie alleine es schaffen, den großen Plattformbetreibern wirklich | |
| gefährlich zu werden. Sie sind aber wichtig – als immanente Drohung gegen | |
| den Mainstream und als Möglichkeit für Aktivisten sich nach wie vor | |
| partiell den Augen der Autoritäten entziehen zu können. Sie sind nicht die | |
| Lösung, aber sicher ein wichtiges Puzzleteil, um die Freiheit im Netz zu | |
| erhalten. | |
| Sie bloggen seit Jahren zum Thema Kontrollverlust im Internet. Warum war es | |
| jetzt an der Zeit, die Thesen in Buchform zu veröffentlichen? | |
| Wenn es nach meinen Freunden und Bekannten geht, ist es seit zwei Jahren an | |
| der Zeit. Ich bin bei großen Entscheidungen aber nicht der schnellste. | |
| Außerdem musste ein Weg gefunden werden, mir selbst und dem Thema | |
| publizistisch gerecht zu werden. Ich kann nicht einfach zum Verlag gehen | |
| und unter normalen Bedingungen ein Buch über den Kontrollverlust schreiben. | |
| Das Crowdfunding und die freie Lizenz sind aber genau der richtige Ansatz. | |
| Sich das auszudenken und vorzubereiten hat viel Zeit gekostet. | |
| Der Zeitpunkt ist jetzt genau richtig, da sich in meinem Umfeld eine | |
| gewisse Resignation breit macht. So lange es die anderen getroffen hat, | |
| fanden sie den Kontrollverlust super und schworen ansonsten auf die | |
| Allheiligkeit des Datenschutzes. Diesen Vorstellungen hat Snowden nun einen | |
| Riegel vorgeschoben. Es gibt jetzt nur noch zwei Alternativen: Rückzug oder | |
| strategische Neuausrichtung. Ich biete zweiteres an. Gut, Verleugnung ist | |
| die dritte Option und ja, sie wird gerne gepflegt, aber das lass ich hier | |
| mal nicht gelten. | |
| 25 Dec 2013 | |
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| ## AUTOREN | |
| Silvia Follmann | |
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