# taz.de -- Post-Privacy-Experte über Daten: „Der Geist ist aus der Flasche�… | |
> Er will die digitale Sammelwut der Internetkonzerne demokratisieren: Der | |
> Soziologe Dirk Helbing plädiert für die Öffnung der digitalen | |
> Privatsphäre. | |
Bild: Was machen die da mit meinen Daten? Google-Datencenter in Taiwan. | |
taz: Herr Helbing, seit bekannt geworden ist, dass der US-Geheimdienst NSA | |
im großen Stil Daten abgreift, empören sich Bürger und Medien. Sie sagen: | |
Datensammeln ist die Zukunft. Warum? | |
Dirk Helbing: Weil es die Gesellschaft voranbringen würde. Aber die | |
Kontrolle über persönliche Daten muss wieder in die Hände der Betroffenen | |
gelegt werden. Es macht keinen Sinn, dass Unternehmen und Geheimdienste | |
detaillierte Daten über Hunderte Millionen Menschen sammeln, aber die | |
Betroffenen unter dem Vorwand des Datenschutzes keine Ahnung haben, was mit | |
den Daten angestellt wird. Die Gefahr dabei ist, dass die düstere Variante | |
der Informationsgesellschaft wahr wird. Die Informationstechnologie erlaubt | |
es uns theoretisch, eine Big Brother Society aufzubauen. | |
Und in der optimistischen Variante einer Zukunftsvision? | |
Wir nutzen die nun verfügbar werdenden Informationen, um die großen | |
Probleme des 21. Jahrhunderts zu bewältigen, also Finanzkrise, | |
Energiewende, Klimawandel, Epidemien. Genau wie irgendwann die | |
Alphabetisierung und die Gründung öffentlicher Schulen unsere moderne | |
Gesellschaft ermöglicht hat, können wir jetzt der Informationsgesellschaft | |
mit dem Schritt zu Open Data zum Durchbruch verhelfen. McKinsey | |
[US-amerikanische Unternehmensberatung; d. Red.] rechnet mit einem | |
jährlichen Wirtschaftspotenzial von drei bis fünf Billionen Dollar. | |
Wie soll das konkret aussehen? | |
Wir sind auf dem Weg zu einem Internet der Dinge. Das heißt, in Zukunft | |
werden Computerchips und Messsensoren überall verstreut sein, nicht mehr | |
nur noch in Handys, sondern überall, im Öffentlichen und zu Hause. Von dort | |
können sie in Echtzeit Informationen ins Netz übertragen. Nehmen wir mal | |
an, unser Kühlschrank ist mit einem solchen Chip ausgestattet. Registriert | |
der Chip, dass der Kühlschrank leer ist, wird automatisch im Internet der | |
nächste Einkauf bestellt. | |
Sie wünschen sich ein öffentliches Register, in dem jede Information | |
gespeichert ist? | |
So ungefähr. Eine globale, partizipative Plattform, aus der jeder, egal ob | |
Unternehmer, Politiker oder Privatperson, gegen eine Gebühr Daten ziehen | |
kann. Wir nennen das „Informationsökosystem“. Je mehr Daten drin wären, | |
desto schneller würde es wachsen. Damit könnte man den jetzigen | |
Informationswust in einen fruchtbaren „digitalen Regenwald“ verwandeln. | |
Fruchtbar wofür? | |
Für Bürgerbeteiligung, Innovation, Transparenz. Nehmen wir nur mal die | |
Wirtschaft: Gäbe es so etwas wie eine globale, frei zugängliche Plattform, | |
auf der alle möglichen Informationen gespeichert sind, finden Menschen viel | |
leichter zusammen. Mit ein paar Klicks könnte ich noch einfacher als heute | |
Menschen finden, die meine Interessen und Ziele teilen, mit denen ich | |
Projekte starten oder eine Firma aufbauen kann. Über soziale Netzwerke | |
funktioniert das ja heute zum Teil schon. Ich denke da aber an ein | |
Netzwerk, das auch Funktionalität zur Projektorganisation und vieles mehr | |
anbieten würde. Jeder könnte dann Konsument und Produzent gleichzeitig | |
sein. | |
Das klingt ja wie die öffentliche Hinrichtung der Privatsphäre. | |
Wir sind ja heute schon so weit, dass Privatsphäre im Netz nicht mehr | |
gewährleistet ist. Und die Frage ist: Kann man den Geist, jetzt, wo er | |
einmal aus der Flasche ist, wieder zurück in die Flasche bringen? Ich | |
glaube, das ist so gut wie unmöglich. | |
Sie haben den Anspruch auf Privatsphäre aufgegeben? | |
Nein, im Gegenteil: Jeder Mensch sollte so etwas wie eine persönliche | |
Datenbörse besitzen, in die alle Daten einfließen, die irgendwo über ihn | |
gesammelt werden. Unternehmen, die Daten sammeln, müssten verpflichtet | |
sein, dem Bürger regelmäßig mitzuteilen, welche Daten sie über ihn haben. | |
Und dann entscheidet der Bürger selbst, was damit gemacht werden darf, ob | |
und wofür er die Daten freigibt. | |
Wieso sollte ich meine Daten überhaupt freigeben? | |
Als Erstes, das klingt vielleicht paradox, aus Sicherheitsgründen. Im | |
Moment wissen wir gar nicht, welche Daten über uns im Umlauf sind. Wer sich | |
selbst einmal googelt, wird auf viele Fehltreffer, veraltete Informationen | |
oder falsche Verbindungen stoßen. Wenn Fremde, seien es Kriminelle oder | |
Banken oder der Staat, daraus Rückschlüsse ziehen, kann das schnell | |
gefährlich werden. Dann gerät man womöglich unter falschen Verdacht, | |
bekommt keinen Kredit für das Haus oder wird an der Grenze aus dem Verkehr | |
gezogen. Transparenz ermöglicht mehr Kontrolle für den Einzelnen. | |
Genauso gut könnte man aber auch sagen: völlige Transparenz lädt zum | |
Datenmissbrauch ein. | |
Das stimmt nur so lange, wie man Datenmissbrauch nicht ordentlich ahndet | |
und bestraft. Man muss die Bürger schützen, nicht die Daten. | |
Wer soll dafür verantwortlich sein? Staatliche Behörden, oder reicht die | |
Partizipation der Bürger bis in die Justiz hinein? | |
Ergänzend zum Arm des Gesetzes könnten neue Formen der Selbstkontrolle | |
entstehen, wir nennen das „crowd security“: Es müssen Normen und Sanktionen | |
für die virtuelle Welt entstehen, wie wir sie in der realen Welt haben. | |
Sie sprachen vom „Informationsökosystem“. Welchen Nutzen hätte die | |
Gesellschaft von dieser Flut frei zugänglicher Daten? | |
Informationsgesellschaft bedeutet, dass jeder von der Datenflut profitieren | |
kann. Als vor zwei Jahren der Ehec-Virus herumging, hat man lange nach den | |
Erregern gesucht. Wir wollten damals die Daten der Krankheitsfälle mit | |
Daten über die Lieferketten von Nahrungsmitteln zusammenbringen, das hätte | |
Menschenleben retten können. Leider hatten wir keinen Zugang zu den | |
Lieferdaten. Nun möchte die personalisierte Medizin ja sogar die Gene und | |
Krankheiten von allen analysieren. Wer das nicht möchte, sollte das Recht | |
haben, seine Daten zu verweigern. Aber wenn man sie verantwortungsvoll | |
verarbeitet, können daraus neue Behandlungsmethoden resultieren. | |
Wie wollen Sie Google, Facebook und Amazon dazu bringen, ihre Datenschätze | |
offenzulegen? | |
Wer weiß denn, ob die Daten, die Google heute sammelt, die sind, die uns | |
morgen interessieren? Europa könnte eine Vorreiterrolle spielen, wenn es | |
darum geht, Daten offen und transparent zu sammeln. Partizipation meint | |
auch, dass die Bürger das Internet der Dinge selbst mit gestalten – als | |
Bürgernetzwerk, in dem sie selbst in ihrem Umfeld entscheiden, wo welche | |
Sensoren verteilt werden. | |
Also doch ein totaler Überwachungsstaat. Nur dass es nicht mehr die | |
Geheimdienste sind, die die Bürger kontrollieren, sondern die Bürger sich | |
selbst? | |
Nein, keine Überwachung, sondern Empowerment und eine Wiederherstellung des | |
Gleichgewichts zwischen Staat, Wirtschaft und Bürger. Jeder kann ja mit | |
seiner Datenbörse selbst bestimmen, welche Daten er freigibt. Es wird wohl | |
die Geheimdienste nicht ganz überflüssig machen, aber es gäbe mehr | |
Transparenz, auch hinsichtlich der Qualität der eingesetzten | |
Datenanalysemethoden. | |
Damit muten Sie dem Bürger ganz schön viel zu: Er soll sich politisch | |
beteiligen, soll aufpassen, dass niemand Böses tut, seine eigenen Daten im | |
Blick haben und die Gesellschaft voranbringen. Woher wissen Sie, dass der | |
Bürger überhaupt so viel Verantwortung übernehmen will? | |
Es ist ja gar nicht notwendig, dass jeder bei allem mitmacht. Man kann ja | |
seinen Datenaccount einfach auf „nicht teilen“ einstellen. Man könnte aber | |
auch einstellen: Meine Kreditkartendaten teile ich anonym mit Firmen, damit | |
ich bessere Produktangebote bekomme. Meine Mobilitätsdaten teile ich anonym | |
mit Unternehmen, damit ich kostenlos Verkehrsinformationen erhalte, und | |
meine Gesundheitsdaten stelle ich anonym der Forschung zur Verfügung, aber | |
nicht den Pharma- und Versicherungsunternehmen. | |
Und persönliche Daten? | |
Angaben zu Religion und sexueller Orientierung möchte ich mit niemandem | |
digital teilen. Aber der Rest: Netzwerken, Crowd Security, dazu braucht es | |
nicht jeden Einzelnen. Wikipedia ist der Beweis – es hat unglaublich viel | |
erreicht, und das, obwohl nur ein Bruchteil der Nutzer selbst Autoren sind. | |
Entsteht so nicht eine neue Klasse von Ausgeschlossenen? Wer kein | |
Smartphone will, nicht auf Facebook ist und seine Datenbörse verschlossen | |
hält, der existiert nicht im System. | |
Das glaube ich nicht. Ich denke vielmehr, dass dezentrale soziale Netzwerke | |
entstehen werden, in denen die Daten viel stärker geschützt und vom Nutzer | |
kontrolliert sind, mit limitiertem Zugang. | |
Ihre Idee von der Informationsgesellschaft: Ist das eine Utopie oder reden | |
Sie sich damit eine unausweichliche Entwicklung schön? | |
Ich glaube, ich passe mich damit der Realität an. Wenn es nach mir ginge, | |
bräuchten wir kein Internet der Dinge und keine hochleistungsfähigen | |
Computer. Aber die Entwicklung schreitet voran, es wird so weit kommen, und | |
dann ist die Frage: Wie machen wir das Beste daraus? Wie kann man die | |
Systeme so nutzen und gestalten, dass sie uns allen helfen? So, wie es | |
jetzt läuft, ist es gefährlich und kontraproduktiv. Das können wir ändern. | |
31 Jan 2014 | |
## AUTOREN | |
Anne Fromm | |
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