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# taz.de -- Essay zur digitalen Revolution: Man nannte es mal kreativ
> Geistige Arbeit war ein Weg zur Selbstverwirklichung. Nun sind aus
> Künstlern und Intellektuellen Content-Produzenten geworden.
Bild: Moderne Zeiten? Kreative wollen wieder etwas mit den Händen machen.
Das Fließband liefert ein gleichartiges Werkstück nach dem anderen an. Der
kleine Mann in der Latzhose steht mit je einem riesigen Sechskant-Schlüssel
in jeder Hand dahinter. Im Sekundentakt zieht er bei jedem vorbeifahrenden
Teil synchron zwei Schrauben fest. Als er sich von seinem Arbeitsplatz
entfernt, verfällt er in mechanische Zuckungen, er wiederholt die
Bewegungen, die er am Fließband ausgeführt hat.
Der kleine Mann ist Charlie Chaplin. In seinem Film „Moderne Zeiten“ aus
dem Jahr 1936 schickt er seine Figur, den Tramp, in die Fabrik. Technik
wird dort zu einem Instrument der Kontrolle und Disziplinierung durch den
Arbeitgeber – und Maschinen sind die Werkzeuge, mittels deren er seine
Macht ausübt.
In der Arbeitswelt reicher Staaten spielt Fließbandarbeit heute natürlich
kaum noch eine Rolle. Die Fabrik wurde durch das Büro ersetzt, das
Fließband durch das E-Mail-Postfach. Das Internet hat sich in alle
wichtigen Lebensbereiche eingeklinkt. Es ist zu wichtig geworden, um ein
Desinteresse an Netzpolitik mit Desinteresse an Technik begründen zu
können.
Es gibt ein Wort für diesen Prozess: Digitalisierung. Wissenschaftliche
Schätzungen gehen davon aus, dass 2007 bereits über 90 Prozent der weltweit
verfügbaren Information in digitaler Form vorlag. Im Jahr 1993 waren es nur
etwa drei Prozent. Information in digitaler Form heißt auch: in maschinell
bearbeitbarer Form.
## Wucht der Digitalisierung
Die Wucht, die die Digitalisierung entfaltet, legt nahe, einen anderen
Begriff dafür zu verwenden: digitale Revolution, analog zur industriellen
Revolution des 18. und 19. Jahrhunderts. Man darf sich die digitale
Revolution als industrielle Revolution des Geistes vorstellen. In der
industriellen Revolution waren es physische Güter, die zunehmend von
Maschinen gefertigt wurden.
Heute haben wir Technologien entwickelt, um geistige Güter maschinell zu
bearbeiten. Texte können durchsucht, Zeichen und Sätze gezählt werden. Man
kann sie um die ganze Welt schicken in wenigen Sekunden. Statistiken werden
aufgestellt, Evaluationen durchgeführt, dem Verstand wird misstraut und
Daten übernehmen.
Die Industrialisierung führte dazu, dass der Einzelne eine Art Handel
einging: Er nahm mangelnde Selbstbestimmung in der Arbeit in Kauf, bekam
dafür ein sicheres Einkommen und konnte in seiner Freizeit machen, was er
wollte. Das Geld, das er dabei verdiente, konnte er für Produkte ausgeben,
die durch die massenhafte Fertigung erschwinglich geworden waren. Es war
eine Demokratisierung des Wohlstands.
Es war auch eine Entwicklung, die das Individuum zugleich auf- und
abwertete. Aufwertung durch die Herauslösung des Einzelnen aus seinem
traditionellen Umfeld. Und Abwertung? Durch die Kehrseite der Freiheit, die
Beliebigkeit. Ohne die Einbettung in das traditionelle Umfeld entwickelten
die persönlichen Beziehungen eine gewisse Flüchtigkeit, das Individuum
wurde zum austauschbaren Teil einer anonymen Masse.
Der Mensch der digitalen Revolution hat das traditionelle Sozialgefüge
nicht mehr nur gegen die Fabrik, sondern gegen die ganze Welt ausgetauscht.
Er ist überall zu Hause, das heißt: nirgends.
So wie alle anderen. Jeder könnte ihm seinen Platz wegnehmen. Der Mensch
der industriellen Revolution seufzte vielleicht innerlich auf dem Weg zur
Arbeit, er hätte sich auch einen schönen Tag machen können. Aber sobald er
die Fabrik betrat, war der Ablauf klar, er musste nicht mehr entscheiden.
Der Mensch der digitalen Revolution seufzt ständig innerlich. Er könnte in
jedem Moment etwas anderes tun, er muss sich ständig entscheiden und ist
dabei nie frei, denn er ist immer dazu gezwungen, seine Ressourcen optimal
zu nutzen.
Technik folgt den Interessen ihrer Erschaffer. Im Internet wird
Infrastruktur verkauft, die irgendetwas transportieren muss, damit sie
verwendet wird. Seiten wie Google oder Facebook verhalten sich zu Inhalten
wie Supermärkte, nicht Bauernmärkte. Was man dort findet, haben sie nicht
selbst gemacht. Sie könnten genauso gut etwas anderes anbieten.
## Rohstoff ist der Inhalt
Wenn große Supermarktketten Druck auf Hersteller ausüben können, können es
große Internetdienstleister erst recht. Natürlich könnte man auf Facebook
auch philosophische Artikel teilen. Aber Algorithmen bestimmen, was
gefunden wird und was nicht. Inhalt wird zu einem Rohstoff, mit dem
Seitenaufrufe generiert werden. Maschinell kann man nach Stichworten in
einem Text suchen, ihre Häufigkeit und Verteilung auswerten.
Aber um zu beurteilen, ob es sich um einen brillanten Gedanken oder leeres
Geschwafel handelt, muss man ihn lesen. Die Werkzeuge, die uns die
Digitalisierung in die Hand gibt, führen allerdings dazu, Erzeugnisse nicht
mehr nach ihrer Qualität zu bewerten, sondern nach Größe und Frequenz, oder
nach der Aufmerksamkeit, die sie zu erzeugen vermögen. Der geistige
Austausch formiert sich anhand marktwirtschaftlicher Kriterien neu.
Charlie Chaplin würde heute nicht mehr seltsam zuckende Bewegungen
durchführen, wenn er das Fließband verlässt, sondern wirres Zeug reden,
wenn er vom Computer aufsteht. Doch selbst dann hätte er den Bildschirm
seines Smartphones schon griffbereit. Es geht nicht mehr um
Disziplinierung, sondern um Konditionierung.
Den Sound dazu liefert nicht mehr die Stechuhr und das Rattern der
Maschinen wie in „Moderne Zeiten“, sondern das Gefiepe unserer Gadgets.
Durch die Dominanz der Inhaltsmakler gegenüber den Inhaltsanbietern
verschiebt sich auch die Rolle derjenigen, die geistige Arbeit verrichten.
Aus Künstlern und Intellektuellen – Schöpfern und Handwerkern – werden
Content-Produzenten, die das Informationsfeuer des Internets mit immer
neuem Brennstoff heizen.
Dan Fletcher, ein Journalist des Time-Magazine, nannte die Firma Demand
Media nach einem Selbstversuch als Autor die „größte, schrecklichste
Content-Maschine des Webs“. Das Geschäftsmodell: Die Firma wertet
Suchanfragen automatisch aus und stellt so fest, zu welchen Themen sich
gewinnbringend Werbung schalten lässt. Die Autoren bekommen Stichwortlisten
als Vorgaben. Die Bezahlung ist dabei so gering, dass keine Zeit bleibt, um
einen Artikel mit Mehrwert für die Leser zu recherchieren und zu schreiben.
Ein gewinnbringendes Geschäftsmodell. Unternehmen, die mit ihrer
ursprünglichen Geschäftsidee gescheitert sind, satteln gerne darauf um.
Yahoo zum Beispiel.
Geistige Erzeugnisse waren bis jetzt maßgefertigt. Darum war geistige
Arbeit auch ein Traum derer, die sich selbst verwirklichen wollten. Kreativ
nannte man das dann. Der Traum davon, etwas zu gestalten. Einer Tätigkeit
nachzugehen, die nur dank dem eigenen Wissen und der eigenen Persönlichkeit
ausgeübt werden kann. Kriterien, die sich nicht maschinell messen lassen
und die daher bei Massenproduktion an Bedeutung verlieren.
Die digitalen Arbeiter wollen jetzt wieder etwas mit ihren Händen machen.
Sie wollen eine Kneipe eröffnen oder Mützen häkeln. Oder sie suchen ihr
Glück im Landleben, so wie Chaplin am Ende von „Moderne Zeiten“.
Massenproduktion schärft auch den Blick für die Dinge, die sich eben nicht
maschinell reproduzieren lassen.
5 Jan 2014
## AUTOREN
Andreas Kiener
## TAGS
Digitalisierung
Kreativität
Internet
Roman
Videokunst
Schwerpunkt Meta
Edward Snowden
Landwirtschaft
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Streaming
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