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# taz.de -- Sachbuch zur Industrialisierung: Im Maschinenraum
> Wer sind die Produzenten? Was machen die Maschinen? Constanze Kurz und
> Frank Rieger liefern das futuristische Manifest des 21. Jahrhunderts.
Bild: Die „gläserne Kuh“ am Melkkarussell
Das Buch können wir als das futuristische Manifest des 21. Jahrhunderts
lesen. Es findet für die Erzählung von der Welt der automatisierten
Produktion eine erstaunlich expressionistische Sprache. Es begibt sich auf
die Gratwanderung zwischen der Dystopie neoabsolutistischer
Machtkonzentration und einer erneuerten Utopie von der freien Assoziation
der Produzenten.
Wer sind die Produzenten? Handelt es sich bei ihnen um die Elite der
Programmierer und Maschinenbauer? Was ist mit denen, deren Arbeitsplätze
durch die neuen Maschinen wegfallen?
Constanze Kurz und Frank Rieger beschreiben in ihrem Buch „Arbeitsfrei“
eine „Entdeckungsreise zu den Maschinen, die uns ersetzen“. Von der
industrialisierten Landwirtschaft erzählen sie, von lückenlos überwachten
Kühen, von gigantischen Mähdreschern, von den Folgekosten eines in die
Ackerfurche geduckten Rehkitzes, das in die Messer gelangt, von den
Fabriken, in denen die Riesenmaschinen konstruiert und optimiert werden.
Sie gehen in die Getreidemühlen, deren fortgeschrittenste Generation bis zu
5.000 Tonnen Getreide an einem Tag verarbeiten, und berichten von
hochauflösenden Kameras, die jedes einzelne Getreidekörnchen prüfen, ob es
ein giftiges Mutterkorn ist. In dem Fall genügt ein kleiner Luftstoß, das
Körnchen auszusondern.
Im Unterschied zur letzten industriellen Revolution der Landwirtschaft
dauert die nächste keine Jahrzehnte, sondern vollzieht sich von Ernte zu
Ernte. Der Bauer und seine hoch spezialisierten Mitarbeiter oder
Subunternehmer verwandeln sich in Überwachungsspezialisten und
Katastrophenhelfer. In der automatisierten Welt sind sie zuständig für den
Ernstfall, wenn etwas schiefgeht, wenn etwas Unvorhergesehenes passiert.
## Die nächste Gesellschaft
Mühelos können wir das Bild der gläsernen Kuh, das lückenlos überwachte
Milchvieh, die Rückverfolgbarkeit jeder Charge auf die Gesellschaft
insgesamt übertragen. Dann kennt man jedes Mikrogramm an Nährstoffen
genauso wie alle Laborwerte der täglichen Ausscheidungen. Wenn die eine
oder andere Charge an Nährstoffen verseucht war, kann das durch sie
verdorbene Fleisch sofort aus dem Verkehr gezogen werden.
Warum sollen solche Maschinenwelten nicht schon bald den Pflegealltag der
alternden und mehr und mehr der Demenz anheimfallenden Gesellschaft prägen
und dazu beitragen, die Pflegekräfte vor allem dazu einzusetzen, woran es
so empfindlich mangelt: für die persönliche Zuwendung?
Dystopisch gewendet: Gleicht der Luftstoß, der das Mutterkorn aus dem Mehl
fegt, nicht dem Abschuss einer Hellfire-Rakete aus einer unbemannten
Drohne? Die Metadaten der Kommunikation ergaben doch den Befund eines
verdächtigen Elements da unten, im Jemen. Du brauchst für die lesenden
Maschinen einen Heuhaufen, um eine Nadel zu finden.
Die Autoren erleben in den gigantischen Mühlen „ein gewisses Gefühl von
Seekrankheit“. Sie beschreiben die Produktionsabläufe einer Großdruckerei
wie eine perfekt inszenierte Choreografie. Kein Wunder, dass sie zu
soziomorphen Begriffen finden, wenn „Systempartner […] Techniksysteme,
Netzwerke und Software zu einem Gesamtsystem verheiraten“.
Das Kapitel über die Automatisierung des Geistes und der Epilog beschreiben
die nächsten Etappen der politischen, gesellschaftlichen und industriellen
Entwicklung. Welche sozialwissenschaftlich noch nicht modellierten
Disparitäten kommen auf uns zu? In welcher Pfadlogik schreitet
Machtkonzentration fort? Welche Folgen hat die ungeheure private
Akkumulation von „fixem Kapital“? Was wir bisher über den Koalitionsvertrag
der nächsten Bundesregierung lesen, deutet darauf hin, dass die
Verhandlungspartner noch in der Logik der alten Gesellschaft planen und auf
die nächste nicht vorbereitet sind.
Verteilungs- und bildungspolitisch sollten sie unbedingt schärfer darüber
nachdenken, welchen Beitrag eine Automatisierungsdividende für die
Gestaltung der nächsten Gesellschaft erbringen könnte. Gewerkschaften
wissen, dass die Automatisierer der nächsten Etappe besonders an einem
flächendeckenden Mindestlohn interessiert ist. Aber auch ihnen kann es
nicht egal sein, wenn die Arbeitskräfte der nächsten Gesellschaft nicht
über eine mathematisch-naturwissenschaftliche Bildung verfügen, die die
Maschinen der nächsten Gesellschaft als Koproduzenten begreift und
entsprechend gestaltet.
21 Dec 2013
## AUTOREN
Hans Hütt
## TAGS
Landwirtschaft
Constanze Kurz
Digitalisierung
Essen
EU
Schlachthof
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