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# taz.de -- Ab Januar 2014 volle EU-Freizügigkeit: Von wegen Armutsmigration
> Wirtschaftsexperten begrüßen neue Zuwanderung aus Rumänen und Bulgarien.
> Politiker und Roma-Vertreter warnen vor Panikmache.
Bild: Tatkraft willkommen: Polnischer Bauarbeiter auf einer Baustelle in Hessen.
BERLIN taz | Zum Jahreswechsel erhalten Rumänen und Bulgaren endlich die
volle Freizügigkeit. Dann dürfen auch sie, wie alle anderen EU-Bürger auch,
in anderen Ländern der europäischen Union leben und arbeiten. Sie benötigen
dann keine Arbeitserlaubnis mehr, um nach Deutschland zu kommen und auf dem
hiesigen Arbeitsmarkt Fuß zu fassen.
Kritiker wie der ehemalige Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) haben
in diesem Zusammenhang immer wieder vor den Folgen einer möglichen
Armutszuwanderung gewarnt, die sie vor allem durch den verstärkten Zuzug
von Roma aus Südosteuropa befürchten.
Auf die Vorteile der europäischen Freizügigkeit verweist hingegen der der
Wirtschaftswissenschaftler Klaus F. Zimmermann. Sie sei eine "gute Chance"
für den deutschen Arbeitsmarkt, denn die große Mehrheit der Zuwanderer aus
Bulgarien und Rumänien bestünde aus Fachkräften wie Ärzten, Pflegern oder
Ingenieuren, die in Deutschland vielerorts händeringend gesucht würden.
So heißt es in einer Analyse seines Forschungsinstituts zur Zukunft der
Arbeit (IZA/Bonn), die Zimmermann am letzten Freitag des Jahres 2013
vorstellte. „Von einer massenhaften Zuwanderung aus Armut in die deutschen
Sozialsysteme kann hier jedenfalls nicht die Rede sein, dies ist eine
unverantwortliche Stimmungsmache“, unterstrich der ehemalige Präsident des
Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin seine
Botschaft.
Experten wie Zimmermann rechnen damit, dass ab 2014 bis zu 200 000
Neuzuwanderer aus Rumänien und Bulgarien nach Deutschland kommen könnten.
Insgesamt seien schon jetzt knapp 170 000 Menschen aus Rumänien und
Bulgarien in Deutschland beschäftigt, allein im vergangenen Jahr sollen
mehr als 70 000 aus beiden Ländern nach Deutschland eingewandert sein. Und:
die große Mehrheit, mehr als 70 Prozent, zahlten regelmäßig in die
Sozialversicherungen ein, so Zimmermann.
## Durchwegs positive Prognosen
Seine Zahlen decken sich mit den Erkenntnissen anderer Migrationsforscher:
So hat der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und
Migration (SVR) schon Mitte 2013 ein Jahresgutachten vorgelegt, indem er
die europäische Freizügigkeit als „Erfolgsmodell“ bezeichnete. Von einer
Einwanderung in die Sozialsysteme könne keine Rede sein: das Ausmaß des
Sozialhilfebezugs von EU-Staatsangehörigen in Deutschland werde in der
öffentlichen Diskussion regelmäßig weit überschätzt, so die Forscher.
Auch eine Studie der Europäischen Kommission, die im Oktober 2013
veröffentlicht wurde, konnte keine überdurchschnittliche Belastung der
Sozialkassen durch Einwanderer aus anderen EU-Staaten nachweisen. Und das
Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Berlin legte im
August 2013 einen Kurzbericht vor, in dem es zeigte, wie sehr Deutschland
bereits von seinen Zuwanderern aus Rumänien und Bulgarien profitiert habe -
durch deren Beiträge in die Rentenkasse, aber auch, weil diese den
Fachkräftenmangel linderten.
Rumänien und Bulgarien sind bereits zum Januar 2007 der EU beigetreten.
Wegen der schlechten Wirtschaftslage in beiden Ländern wurde der Beitritt
jedoch mit starken Auflagen verbunden. Deutschland und andere Staaten
beschränkten den Zugang zu ihrem Arbeitsmarkt für sieben Jahre beschränkt,
um eine mögliche Niedriglohn-Konkurrenz aus diesen Ländern zu vermeiden.
Diese Frist läuft jetzt aus. Als Saisonarbeiter, Selbstständige, Studenten,
Auszubildende oder Touristen konnten Rumänen und Bulgaren schon jetzt nach
Deutschland kommen. Nun fallen die letzten Einschränkungen.
Deutschland sollte sich dennoch besser auf die neuen Zuwanderer einstellen,
fordert nicht nur Klaus Zimmermann: durch Sprachkurse und Integrations- und
Qualifizierungsprogramme, um die Neuankömmlinge gezielt in jenen Städten zu
fördern, auf die sie sich erfahrungsgemäß konzentrieren dürften. Zugleich
könne ein befürchteter „Sozialtourismus“ durch klare Regeln verhindert
werden.
Die Gesetze, die Sozialhilfemissbrauch verhindern sollen, seien zum Teil zu
vage. Bürger aus anderen EU-Staaten haben nur in Ausnahmefällen einen
Anspruch auf Grundsicherung nach Hartz IV, sie müssen vorher in Deutschland
erwerbstätig gewesen sein. Deutsche Gerichte haben dazu aber bisher
unterschiedliche Urteile gefällt, eine Entscheidung höchster Instanzen wie
des Bundessozialgerichts oder des Europäischen Gerichtshofs steht noch aus.
## Die Sorgen der Kommunen
Auch die Kommunen fordern mehr Unterstützung, um sich auf die volle
Arbeitnehmerfreizügigkeit einzustellen. Probleme mit einer möglichen
Armutszuwanderung dürften nicht allein den Kommunen überlassen werden,
kritisierte Gerd Landsberg, der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte-
und Gemeindebundes, am Freitag in einem Radiointerview: Bund, Länder und
auch die Europäische Union müssten sich stärker an Lösungen und möglichen
Kosten beteiligen. Gerade die Integration von Roma aus Rumänien und
Bulgarien verlange nach neuen Konzepten: „Die sind sehr misstrauisch
gegenüber dem Staat und haben eben wahnsinnig schlechte Erfahrungen auch
gemacht“, so Landsberg.
Der stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Hubertus Heil und die
Bundesvorsitzende der Grünen, Simone Peters, warnten allerdings vor
Alarmismus. Heil sagte im Deutschlandfunk, Union und SPD hätten im
Koalitionsvertrag vereinbart, die betroffenen Städte zu unterstützen.
Wichtig sei ihm, dass „diese Form von Armutszuwanderung nicht zur
Lohndrückerei in Deutschland führt“.
Der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, Romani Rose,
warnte im Radiosender SWR 2 davor, alle Roma aus Südosteuropa pauschal als
Armutszuwanderer abzustempeln. Es würden „Horrorvisionen gezeichnet, die
nichts mit der Realität zu tun haben“, kritisierte er. Wichtig sei es, dem
wachsendem Rassismus gegen Sinti und Roma in vielen Ländern Europas
entschieden entgegen zu treten
28 Dec 2013
## AUTOREN
Daniel Bax
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EU
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