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# taz.de -- Zum Integrationskurs verpflichtet: Arbeitsamt spielt Lesepate
> Ein Jobcenter zwingt eine 63-jährige Analphabetin aus der Türkei zu einem
> Integrationskurs. Vollkommen sinnlos, meinen Kritiker.
Bild: Das BAMF finanziert insgesamt 1.200 Unterrichtsstunden. Um wirklich Deuts…
BERLIN taz | Die 63-jährige Cevahir Kalkan bemüht sich, der Lehrerin zu
folgen. Aber die Anstrengung ist ihr anzusehen. Sie ist Analphabetin und
sitzt in Berlin in einem Integrationskurs. Zu dem hat sie das Jobcenter
verdonnert.
„Ich komme eigentlich gerne hierher“, sagt sie. „Aber ich verstehe zu wen…
und vergesse alles wieder, ich werde schnell müde.“ Nach vier Stunden wirkt
die Frau abgeschlafft und möchte nur noch nach Hause.
1991 kam Cevahir Kalkan mit ihrem Mann aus der Türkei nach Österreich. Dort
betrieb sie eine eigene Reinigung. 2006 zog das Paar nach Berlin, zu den
Kindern, die schon länger hier leben. Cevahir Kalkan arbeitete weiter in
Reinigungen, Hotels und Bäckereien, eine schwere, körperlich anstrengende
Arbeit. Ihr Rücken schmerzt, häufig bekommt sie Kopfschmerzen. 2012 wurde
ihr gekündigt, sie meldete sich arbeitslos. Deutsch hat sie in all den
Jahren kaum gelernt.
Das Jobcenter in Kreuzberg verpflichtete sie deshalb zu einem
Integrationskurs. Der wird vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
(BAMF) finanziert und in der Regel von Vereinen organisiert. Seit 2011
können Migranten in Deutschland zu einem solchen Kurs verpflichtet werden –
entweder durch die Ausländerbehörde, wenn diese einen „Integrationsbedarf“
erkennt, oder durch das Jobcenter. Wer sich weigert, dem können die
Zuwendungen um 30 Prozent gekürzt werden. Auch Fehlzeiten werden vom Amt
sanktioniert.
## Lehrerin bezweifelt Nutzen
Kritiker dieser Praxis bezweifeln, dass die Zwangsverpflichtung etwas
bringt. Eine „Zumutung“ nennt die Berliner Grünen-Politikerin Canan Bayram
den Fall Kalkan. Auch deren Familie fragt sich, welchen Sinn diese Maßnahme
haben soll. „Natürlich sollte man, wenn man in ein anderes Land zieht, die
Sprache lernen“, sagt Kalkans Schwiegersohn. „Aber für alte Leute, die nie
eine Schule besucht haben, ist das nicht so einfach.“
Dass Cevahir Kalkan mit ihren 63 Jahren bessere Chancen auf dem
Arbeitsmarkt hätte, wenn sie Deutsch könnte, bezweifelt selbst Kalkans
Lehrerin. „Das Jobcenter schickt solche Leute gerne in Integrationskurse,
weil die vom BAMF finanziert werden“, sagt sie. Zwar schade der soziale
Kontakt mit den anderen Kursteilnehmerinnen nicht, glaubt sie. Aber sie
bezweifelt, ob „es so gut ist, dass das Jobcenter sie zu einem Kurs
verdonnert, wenn das zu viel ist.“
Erst im Juni hat der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg in einem
ähnlichen Fall entschieden, dass die Zwangsverpflichtung einer 62-jährigen
Klägerin nicht zuzumuten sei. Die Frau war von der Ausländerbehörde zu
einem Alphabetisierungskurs verpflichtet worden. Das Gericht indes befand,
dass dies die Lebensführung der Seniorin „unverhältnismäßig einschränke�…
## Canan Bayram rät zur Klage
Kalkans Kinder versuchten, die zuständige Sachbearbeiterin im Berliner
Jobcenter von der Unsinnigkeit des Integrationskurses zu überzeugen –
erfolglos. Die Grüne Bayram, die sich als Anwältin im Arbeitsrecht
auskennt, rät zur Klage: „Ich würde auf das Sozialgericht vertrauen, dass
es in ihrem Sinne entscheidet.“ Davor schreckt Cevahir Kalkan allerdings
zurück. Und hat noch rund 150 „Integrations“-Stunden vor sich. Dann wird
sie insgesamt etwas mehr als ein Jahr in ihrem Alphabetisierungskurs
gesessen haben, jeweils fünf Tage in der Woche, von 9 bis 13 Uhr.
Danach könnte sie, wenn sie das wollte, noch einmal 300 Stunden beantragen.
Das BAMF finanziert insgesamt 1.200 Stunden. Um wirklich Deutsch lesen und
schreiben zu lernen, reicht das nicht aus. „Dafür braucht man mindestens
die doppelte Anzahl an Stunden“, sagt Kalkans Alphabetisierungslehrerin.
Bei der Agentur für Arbeit will man den Fall nicht näher kommentieren.
Statistiken zu den Vermittlungserfolgen, die nach der Verpflichtung zu
Integrationskursen verzeichnet wurden, gibt es dort nicht.
26 Dec 2013
## AUTOREN
Sybille Biermann
## TAGS
Integrationskurs
Berlin
Jobcenter
Große Koalition
EU
Integration
Niedersachsen
Integration
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