# taz.de -- Trendwende in der Agrarfoschung: „Voll gegen die Wand gefahren“ | |
> Eine Neuausrichtung der Agrarforschung wird gefordert. Klimawandel, | |
> Bevölkerungswachstum und Energiewende lassen aber nur wenig Zeit dafür. | |
Bild: Agrarforschung am Bundesforschungsinstitut für Kulturpflanzen in Quedlin… | |
BERLIN taz | Die Weltbevölkerung wächst, aber mit ihr auch die Zweifel, ob | |
Landwirtschaft in Zukunft neun Milliarden Menschen ernähren kann. Hinzu | |
kommen die ökologischen Probleme, die mit der heutigen Form der | |
Intensiv-Landwirtschaft unübersehbar einhergehen. | |
Diese Trends fordern auch die Agrarforschung heraus; die Stimmen nach neuen | |
wissenschaftlichen Ansätzen werden lauter. Anlässlich der „Grünen Woche“ | |
befragte die [1][Wissenschaftspressekonferenz (WPK)] in dieser Woche | |
Experten in Berlin, wie eine „neue Agrarforschung“ in Deutschland aussehen | |
müsste. | |
Für Wilfried Bommert, Agrar-Journalist und Sprecher des [2][Instituts für | |
Welternährung] in Nümbrecht, ist die „High-Input-Landwirtschaft“ – | |
getrieben durch intensiven Einsatz von Kunstdünger, Pflanzenschutzmittel | |
und Erdöl – derzeit dabei, „voll gegen die Wand zu fahren“. | |
Die Fruchtbarkeit der Böden habe sich in den letzten Jahrzehnten um 30 | |
Prozent verringert, der Artenverlust auf den Äckern der Agrarindustrie wird | |
auf 95 Prozent geschätzt, die Grundwasservorräte sind durch Nitratbelastung | |
nur noch zur Hälfte nutzbar. | |
Zudem sind bei zentralen Rohstoffen wie Phosphat und Kali die natürlichen | |
Vorräte in wenigen Jahrzehnten erschöpft. Mit all dem agroindustriellen | |
Aufwand konnte die Produktion von wichtigen Getreidesorten wie Weizen und | |
Reis in den Jahren 2000 bis 2010 nur um ein Prozent gesteigert werden. In | |
gleichem Zeitraum erhöhte sich die Nachfrage durch Bevölkerungswachstum um | |
1,8 Prozent – die Ernährungsschere geht auseinander. „Mit dieser Art von | |
Landwirtschaft lässt sich die Welternährung nicht sichern“, ist Bommert | |
überzeugt. | |
## Weltformel funktioniert nicht | |
„Die Agrarforschung muss sicherlich umdenken“, ist auch die Überzeugung von | |
[3][Ulrich Köpke,] Professor am [4][Institut für Organischen Landbau der | |
Universität Bonn]. Bis vor fünf Jahren, als mit der Finanzkrise auch die | |
Agrarmärkte von den Spekulanten entdeckt wurden, waren landwirtschaftliche | |
Überproduktion in Gestalt von Butterbergen und Milchseen sowie | |
Flächenstilllegungen die Hauptthemen der heimischen Agrarwissenschaftler. | |
International wurde das Modell der industrialisierten Landwirtschaft | |
exportiert. | |
„Aber die Weltformel hat nicht funktioniert“, kann Köpke am Vergleich der | |
ostafrikanischen Länder Ruanda und Uganda belegen. Wichtiger als die | |
eingesetzte Technik sind die örtlichen Bedingungen wie Lage und Klima, um | |
zu guten Erträgen zu kommen. | |
Zentral ist auch die Einbeziehung der örtlichen Bevölkerung und ihres | |
kulturellen Hintergrundes. Vergleichbare Ansätze sollte der ökologische | |
Landbau nach Meinung des Bonner Experten auch in Deutschlands peripheren | |
Regionen wie dem Hunsrück, der Eifel und dem Westerwald verfolgen. | |
## Mehr als 5.000 Wissenschaftler | |
Die deutsche Agrarforschung ist ein Milliardenbetrieb. Derzeit widmen sich | |
nach Angaben von [5][Stefan Lange, Forschungskoordinator am Thünen-Institut | |
in Braunschweig], rund 5.200 Wissenschaftler den Themen Ackerbau, Viehzucht | |
und Ernährung. Zwei Drittel davon arbeiten an deutschen Hochschulen, ein | |
Drittel an außeruniversitären Forschungseinrichtungen. | |
Zu ihnen gehört auch die Ressortforschung wie das Thünen-Institut, das dem | |
Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft untersteht. Da die | |
Agrarforschung in den Hochschulen in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich | |
abgebaut wurde, beläuft sich ihr Gesamtbudget an Stellen und Projektmitteln | |
auf jetzt rund 600 Millionen Euro im Jahr, während die außeruniversitären | |
Institute über 700 Millionen Euro verfügen können. | |
In der Breite ist zwar eine große Themenvielfalt der Agrarforschung | |
anzutreffen, viele davon aber werden von den Individualinteressen der | |
Wissenschaftler getrieben. Doch was die großen globalen Themen der | |
Welternährung und des Klimaschutzes angeht, räumt Stefan Lange ein, darauf | |
sei die deutsche Agrarforschung „strategisch nicht vorbereitet“. | |
Daher wurde im vorigen Jahr die [6][Deutsche Agrarforschungsallianz (DAFA)] | |
gegründet, die sich neben Nachhaltigkeitsthemen auch stärker um die | |
gesellschaftliche Akzeptanz kümmern will. | |
## Optimierung allein reicht nicht | |
So sei „für die Optimierung der Nutztierhaltung in der Vergangenheit immer | |
Geld“ dagewesen, erläutert der Thünen-Forscher. „Was aber vergessen wurde, | |
war die gesellschaftliche Erwartung zum Thema Massentierhaltung“. | |
Umstritten ist weiterhin, wie die WPK-Anhörung zeigte, die Einschätzung der | |
Bioökonomie. Darunter wird, wie Henk van Liempt, Referatsleiter | |
[7][Bioökonomie im Bundesministerium für Bildung und Forschung] erläuterte, | |
eine Wirtschaftsform verstanden, „die auf natürliche Prozesse zurückgreift | |
und natürliche Ressourcen nutzt“. Dafür gibt die Bundesregierung pro Jahr | |
140 Millionen Euro aus, wovon 30 bis 40 Millionen in landwirtschaftliche | |
und Pflanzenforschung gehen. | |
Weitere Schwerpunkte der Bioökonomie sind Energie und industrielle | |
Rohstoffe. Steffi Ober von der [8][Zivilgesellschaftlichen Plattform | |
ForschungsWende] kritisierte, dass das Bioökonomie-Programm zu sehr auf | |
wirtschaftliche Interessen ausgerichtet sei und forderte den „Einbezug | |
gesellschaftlicher Erwartungen“. Der Ministeriumsvertreter war offen für | |
solche Beteiligungen, wenn sie „in praktikabler Gestalt“ eingebracht | |
würden. Henk van Liempt: „Wir brauchen für die Bioökonomie auch die | |
Gesellschaft“. | |
## Gentech-Versuche in Nordamerika | |
Eine Gruppe hat sich allerdings aus der deutschen Agrarforschung weitgehend | |
verabschiedet: die Spezialisten der Grünen Gentechnik. [9][Professor | |
Hans-Jörg Jacobsen] konzentriert sich in seinem Institut für | |
Pflanzengenetik an der Universität Hannover vor allem auf die Lehre. | |
„Mit meinen Freisetzungsprojekten bin ich 2012 nach Nordamerika gegangen“, | |
berichtet Jacobsen. Themen sind die Trockentoleranz und die Pilzresistenz | |
von Pflanzen. Bei Gentechnik-Kollegen beobachtet er einen Rückzug auf die | |
Grundlagenforschung. Obwohl in Deutschland erfunden, sei die Grüne | |
Gentechnik aufgrund politischer Restriktionen auf dem Abstieg. Jacobsen: | |
„Wir werden dies später teuer zurückkaufen müssen.“ | |
Sollte die niedersächsische Landesregierung ihre in der | |
[10][Koalitionsvereinbarung] verankerte Ablehnung der Grünen Gentechnik | |
auch in eine Gesetzesverordnung gießen, werde es Klagen in Karlsruhe wegen | |
Verstoßes gegen die Forschungsfreiheit geben, so Jascobsen. Die | |
Agrarforschung erobert die Justiz – das womöglich nächste Kapitel. | |
16 Jan 2014 | |
## LINKS | |
[1] http://www.wpk.org/ | |
[2] http://www.institut-fuer-welternaehrung.org/ | |
[3] http://www.landespflege.de/gremium/koepke.html | |
[4] http://www.iol.uni-bonn.de/ | |
[5] http://www.ti.bund.de/de/startseite/ueber-uns/organisation/forschungskoordi… | |
[6] http://www.dafa.de/ | |
[7] http://www.bmbf.de/de/biooekonomie.php | |
[8] http://www.forschungswende.de | |
[9] http://www.genetik.uni-hannover.de/jacobsen.html | |
[10] http://www.spdnds.de/content/362590.php | |
## AUTOREN | |
Manfred Ronzheimer | |
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