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# taz.de -- Kritik an Bioökonomie-Strategie: Fahrradschläuche aus Löwenzahn
> Die Umstellung auf nachwachsende Rohstoffe kommt nicht gut voran.
> Umweltschützer fordern einen grundlegenden Kurswechsel.
Bild: Zuckerrohrernte in Ägypten: Zucker ist ein wichtiger Rohstoff für die P…
Berlin taz | Seit Jahren verharrt die Bioökonomie in der deutschen
Öffentlichkeit im „Was-es-nicht-alles-gibt-Modus“: Fahrradschläuche aus
Löwenzahn, Pullis aus Milch, Dübel aus Rizinusöl, Zahnpasta mit Bakterien
oder Waschmittel mit Enzymen – alles Produkte auf biologischer Grundlage,
alles Beispiele für die Bioökonomie. Auch auf dem großen „Bioeconomy
Summit“ des Bioökonmierates in Berlin vergangene Woche sind solche Produkte
wieder präsentiert worden.
Die Produktschau klingt interessant, mitunter etwas putzig, keinesfalls
aber nach einem epochalen Wandel. Doch genau den beschreibt der Begriff der
Bioökonomie.
Fassbarer wird er, wenn er nicht über Produkte beschrieben wird, die es
schon gibt, sondern darüber, was es in einer solchen Wirtschaft eben nicht
mehr oder kaum noch geben wird: fossile Rohstoffe – kein Öl, keine Kohle,
kein Erdgas. Dieses „Energiesparbuch“ der Erde wird nicht mehr angetastet,
die Bioökonomie lebt von den laufenden Einnahmen des Planeten, von dem, was
Pflanzen, Tiere, Enzyme, Bakterien hergeben.
Ist die allgemeine Definition noch konsensfähig, gehen die Vorstellungen,
was genau sich hinter dem Konzept Bioökonomie verbirgt, weltweit deutlich
auseinander. Von Biospritstrategien über biotechnologischen
Hightechanwendungen in der Medizin bis zu ganzheitlichen Ansätzen zur
Nutzung nachwachsender Rohstoffe ist alles dabei.
Um einen Überblick darüber zu bekommen, in welche bestehenden, relevanten
Diskurse sich die Community der Bioökonomie einschalten kann – und welche
Schwerpunkte für Forschung und Entwicklung künftig sinnvoll wären, hat der
Bioökonomierat, ein einflussreiches Beratungsgremium der Bundesregierung
aus Wissenschaftlern und Wirtschaftsvertretern, eine Umfrage unter 300
Experten in 49 Ländern durchgeführt. Die Resonanz sei überwältigend
gewesen, die Antworten ausgesprochen spannend, sagt Ulrich Hamm, Leiter des
Fachgebiets Agrar- und Lebensmittelmarketing der Universität Kassel, der
die Studie zusammen mit dem Fraunhofer Institut für System- und
Innovationsforschung aus Karlsruhe durchgeführt hat.
## Künstliche Photosynthese
Aus den Antworten der befragten Wissenschaftler, Unternehmer, Politiker,
Umweltaktivisten und Verbraucherschützer haben sich sieben
Schwerpunktthemen kristallisiert, in denen die Bioökonomie zu
Problemlösungen beitragen könnte, darunter „Biobasierte Städte“, „neue
Ernährungssysteme“, „Bioraffinerien“ oder „Nachhaltige Konsumentenmär…
Einige der Themen, etwa die „Künstliche Photosynthese“, würden von den
Experten zwar als relevant betrachtet, doch würden sie zugleich als
mittelfristig technisch nicht umsetzbar eingeschätzt. Zukunftsmusik, also.
Bei anderen „Flagship-Projects“ wird es konkreter: Auf die Frage, wie zum
Beispiel die weiter wachsenden Megacities lebenswert gemacht oder gehalten
werden können, bietet die Bioökonomie laut der Umfrage schon kurzfristig
Antworten. Etwa könnten mineralische Baustoffe wie Sand oder Zement durch
nachwachsende wie Holz ersetzt werden; Trinkwasser, dass durch
Abwasserkanäle rauscht, könnte schon in der Toilette nach festen und
flüssigen Bestandteilen getrennt und beispielsweise enthaltenes Phosphor
zurückgewonnen werden.
Das Programm „Nachhaltige Marine Produktion“ beinhaltet etwa Algenzuchten,
aus denen Chemikalien und Lebensmittel gewonnen werden können – und die
gleichzeitig als Küstenschutz dienen. Die sieben Projekte will der
Bioökonomierat in die Debatte über die nächsten Forschungs- und
Förderschwerpunkte einbringen, die ansteht. Denn die „Bioökonomiestrategie
2030“, auf deren Grundlage die Bundesregierung Fördermittel in Höhe von 2,4
Milliarden Euro verteilt hat, läuft Ende nächsten Jahres aus.
## Neue Strategie
Aller Voraussicht nach wird 2017 die nächste Bundesregierung gewählt, die
über die neue Strategie entscheidet – und davon überzeugt werden muss, dass
die „Bioökonomie“ auch weiterhin solch großzügige Zuwendung verdient. Da
passt es gut, dass sich die Community anbietet, Lösungen für die großen
Ressourcen- und Nachhaltigkeitsprobleme anzubieten. Doch gerade Umwelt- und
Entwicklungsorganisationen stehen dem Konzept ausgesprochen kritisch
gegenüber.
Nach dem Bioökonomiekongress in Berlin forderte ein europäisches Bündnis
von kleinbäuerlichen Bewegungen und Nichtregierungsorganisationen aus dem
Bereich Entwicklung, Umwelt und Menschenrechte einen „grundlegenden
Kurswechsel der offiziellen Bioökonomie-Strategien, die von der EU und
einigen ihrer Mitgliedsländer vorangetrieben werden“, heißt es in einer
Pressemitteilung.
Die in Berlin präsentierten Strategien böten die „falschen Lösungen“ für
die globale Klima-, Energie- und Ernährungskrise“, und würden, ganz im
Gegenteil, die Ressourcen- und Umweltkonflikte im globalen Süden eher
verschärfen. Schon einmal, in den 2000ern, hätten Politik und Industrie
Agrartreibstoffe vorangetrieben, kritisiert Roman Herre von der
Entwicklungshilfeorganisation FIAN Deutschland, „der erwartete große Nutzen
für die Umwelt blieb jedoch aus und versprochene wirtschaftlichen Chancen
für Kleinbauern und -bäuerinnen entwickelten sich zu einem Desaster namens
globaler Landraub“.
## Zivilgesellschaft beteiligen
Diese Kritik sei doch längst „ein alter Hut“, sagt Ratsmitglied Ulrich Hamm
dazu. Längst setze man nicht mehr nur ausschließlich auf Hightech, sondern
denke einen nachhaltigen Konsum immer mit, nicht umsonst sei ein
Flagship-Project auch die Entwicklung eines anderen, bewussteren
Konsumverhaltens. „Die Bioökonomie kann nicht bedeuten, dass Produktion und
Konsum so weiterlaufen wie in der heutigen, fossilen Zeit“, so Hamm, „nur
auf einer anderen Rohstoffgrundlage“. Nicht nur das hätten die Experten
erkannt, sondern auch, dass eine Öffnung zur Zivilgesellschaft nötig sei.
„Wir haben zahlreiche Diskussionsrunden und Workshops mit NGOs aus dem
Umwelt-, Verbraucher- und Entwicklungsbereich durchgeführt“, sagt der
Agrarwissenschaftler, der vor allem in Sachen Biolandbau forscht.
Stimmt zwar, sagt Steffi Ober von der Zivilgesellschaftlichen Plattform
Forschungswende, die sich für eine transdisziplinäre, der Nachhaltigkeit
verpflichteten und zivilgesellschaftlich eingebundenen Forschung einsetzt.
Allerdings sei der Rat selbst noch immer nicht vielfältig genug besetzt,
das zuständige Wissenschaftsministerium habe schließlich nur Vertreter aus
Wissenschaft und Wirtschaft berufen.
Allerdings: Nicht nur die Forschungspolitik hat einen blinden Fleck in
Richtung Zivilgesellschaft, auch diese selbst sei bei dem Thema nicht
engagiert genug, sagt Ober. „Die Resonanz auf das Thema ist gering, und der
niedrige Ölpreis gibt ihm nicht gerade Schwung.“ Solange billiges Öl
sprudelt, bleibt es wohl in der öffentlichen Wahrnehmung erst mal bei
lustigen Berichten über Fahrradschläuche aus Löwenzahn und Dübeln aus
Disteln.
4 Dec 2015
## AUTOREN
Heike Holdinghausen
## TAGS
Milch
Nachwachsende Rohstoffe
Milchsäure
Löwenzahn
Nachhaltigkeit
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Ölpreis
Landwirtschaft
Schwerpunkt Gentechnik
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