| # taz.de -- Wachstumsdebatte vor Umweltgipfel: Wie schnell darf das Rad sich dr… | |
| > Der Ökologe Reinhard Loske will weg vom Wachstumsdogma. Ralf Fücks, | |
| > Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung, ist für grünes Wachstum und | |
| > Bioökonomie. Ein Streitgespräch. | |
| Bild: Es wächst und wächst und wächst. Aber wächst es wirklich? Und wenn ja… | |
| taz: Herr Loske, vor dem Umweltgipfel in Brasilien plädieren Sie für eine | |
| Lebensweise mit möglichst wenig Wirtschaftswachstum. Was bringt Sie zu | |
| dieser Forderung? | |
| Reinhard Loske: Seit langem wissen wir, dass unsere gegenwärtige | |
| Wirtschaftsweise die Natur überfordert. Aber noch immer nimmt die Belastung | |
| des Klimas zu, die Meere werden rücksichtslos ausgebeutet. Dieses System, | |
| dessen Funktionieren von dauerhaftem Wachstum abhängig ist, stößt an seine | |
| Grenzen – unter anderem, weil ökologische Fortschritte durch die Steigerung | |
| der Produktion immer wieder aufgefressen werden. Deshalb plädiere ich für | |
| eine Strategie der ökologischen Modernisierung, die flankiert wird, indem | |
| wir die Wachstumszwänge mindern. | |
| Wo gibt es Menschen, die sich vom Prinzip des ewigen Mehr abwenden? | |
| Loske: Wenn Bürger in den Städten urbane Gemeinschaftsgärten anlegen, wo | |
| sie Obst und Gemüse züchten, anstatt es über tausende Kilometer zu | |
| importieren, überwinden sie die Blickverengung unserer heutigen Ökonomie. | |
| Hunderte Initiativen für „transition towns“ versuchen lokales, | |
| umweltschonendes Wirtschaften. Weitere Stichworte sind: Social Banking, | |
| Bauteile-Börsen, gemeinschaftliche Wohnformen, alternative | |
| Verkehrskonzepte, Energiegenossenschaften, Gemeinwohlökonomie, freie | |
| Software. | |
| Das alles lässt sich mit der Rhetorik des grünen Wachstums gar nicht | |
| erfassen. Meine These ist: Das Konzept des Green New Deal, das zweifellos | |
| viel Richtiges enthält, greift zu kurz. Seine Wortführer unterschätzen die | |
| Potenziale gesellschaftlicher Innovationen, die weit über isolierte | |
| technische Lösungen hinausreichen. | |
| Herr Fücks, Sie sagen, das könnte Deutschland lahm, langweilig und arm | |
| machen. Sinkt unsere Lebensqualität ohne permanente Expansion? | |
| Ralf Fücks: Für Deutschland ist die Wachstumsdebatte eine ziemliche | |
| Scheinveranstaltung. Große Zuwachsraten wie in den Nachkriegsjahrzehnten | |
| wird es angesichts des demografischen Wandels künftig nicht geben. Deshalb | |
| müssen wir uns ernsthaft überlegen, wie das Wirtschafts- und Sozialsystem | |
| wachstumsunabhängiger werden kann. So weit stimmen wir überein. Und auch | |
| ich frage mich, ob wir das Hamsterrad immer schneller drehen müssen. | |
| Was haben Sie dann gegen die Thesen von Reinhard Loske? | |
| Fücks: Wenn wir über „Old Europe“ hinausschauen, scheint mir unser | |
| Antiwachstumsdiskurs eine Form von Weltflucht zu sein. Tatsächlich stehen | |
| wir heute eher am Anfang einer stürmischen Wachstumsperiode. Bis Mitte des | |
| Jahrhunderts wird die Zahl der Erdbewohner noch auf rund 9 Milliarden | |
| Menschen zunehmen. Die erwerbsfähige Weltbevölkerung verdoppelt sich. Die | |
| globale Mittelklasse wächst rasch. Milliarden Menschen wollen komfortable | |
| Wohnungen, Haushaltsgeräte, moderne medizinische Betreuung, Mobiltelefone | |
| und Zugang zum Internet. | |
| Sie haben Lust auf Abwechslung, wollen mobil sein und die Welt bereisen. | |
| Diese Ambitionen werden sie sich von niemandem abhandeln lassen, und sie | |
| haben jedes Recht dazu. Die alles entscheidende Frage ist deshalb nicht, ob | |
| die Weltwirtschaft weiter wächst, sondern wie. Wir sollten deshalb | |
| Vorreiter der grünen Revolution sein. | |
| Mit ihrem Wirtschaftsprogramm wollen die Grünen ein nachhaltiges Wachstum – | |
| mehr Wohlstand bei weniger Verbrauch von Kohle, Öl, Stahl und Natur. Ist | |
| das eine Illusion? | |
| Fücks: Nein, das kann funktionieren. Die Stichworte lauten | |
| Ressourceneffizienz, Kreislaufwirtschaft und erneuerbare Energien. Dänemark | |
| beispielsweise hat seine Wirtschaftsleistung im Vergleich zu 1980 um zwei | |
| Drittel gesteigert, seine klimaschädlichen Kohlendioxid-Emissionen aber um | |
| 21 Prozent reduziert. Ähnliches gilt für die deutsche Chemieindustrie. Was | |
| in Zukunft möglich ist, lässt sich aber nicht aus der Vergangenheit | |
| herleiten. In tausenden Forschungslabors und Ingenieurbüros wird an | |
| Sprunginnovationen gearbeitet, die auf eine radikal andere Produktionsweise | |
| hinauslaufen. | |
| Dahinter steht die Vision einer Bioökonomie, die Sonnenlicht in Energie und | |
| Biomaterie umsetzt, wie das die Natur mit der Fotosynthese tut – vom | |
| Raubbau an der Natur zum Wachsen mit der Natur. Ich plädiere dafür, die | |
| Zukunft nicht als verstellten Raum, sondern als Universum von Möglichkeiten | |
| zu sehen. Mich nervt die ewige Warnung vor dem Machbarkeitswahn. Setzen wir | |
| uns an die Spitze grüner Innovation: Yes, we can! | |
| Loske: Dass es ohne eine gehörige Portion Technikoptimismus gar nicht geht, | |
| ist doch selbstverständlich. Aber viele Fragen, die uns heute bewegen, sind | |
| nicht primär ökonomisch-technologische. Man darf deshalb auch nicht | |
| ausschließlich auf die Karte Technik und grünes Wachstum als Lösungsweg | |
| setzen. | |
| Fücks: Den Schuh ziehe ich mir nicht an. Auch in meinem Modell geht es | |
| nicht ohne soziale Innovationen. So werden wir künftig Mobilität anders | |
| organisieren und weitgehend auf den Besitz privater Autos verzichten. | |
| Natürlich müssen wir uns Gedanken über unseren Lebensstil machen. Nur | |
| glaube ich nicht, dass wir damit die notwendigen ökologischen Entlastungen | |
| erreichen können. Die alten Industrieländer müssen bis Mitte des | |
| Jahrhunderts 90 Prozent weniger Treibhausgase ausstoßen. Wie viel werden | |
| wir durch bloße Selbstmäßigung, durch weniger Autofahren, weniger Konsum | |
| oder kleinere Wohnungen erreichen? Zehn, zwanzig Prozent? | |
| Loske: Den Wachstumsdruck zu reduzieren, ist keine individuelle Strategie, | |
| sondern vornehmlich eine politische. Ich setze darauf, dass die Politik | |
| bekömmliche Rahmenbedingungen schafft, um diese sozialen Innovationen | |
| voranzubringen. Dann wäre ihr ökologisches Minderungspotenzial ähnlich groß | |
| wie das der technologischen Variante. Hinzu kommt: An den Erfolgsaussichten | |
| der großtechnischen Lösung kann man starke Zweifel hegen. Für die absolute | |
| Entkopplung von Wirtschaftswachstum und schädlichen Umweltauswirkungen – | |
| zunehmende Produktion bei sinkenden CO2-Emissionen – gibt es bislang nur | |
| wenige Beispiele. | |
| Global steigt der Ausstoß von Klimagasen immer noch an – um 40 Prozent seit | |
| 1990. Und was würden die Sprunginnovationen bedeuten, die sich Ralf Fücks | |
| vorstellt? Würden wir das komplette fossile Energiesystem durch Wind-, | |
| Solar-, Wasserkraft und Biomasse ersetzen, hätten wir eine neue, | |
| gigantische Inanspruchnahme von Naturflächen. Ohne Sparen geht es deshalb | |
| nicht. Wer einseitig auf Technik setzt, ignoriert die unliebsamen | |
| gesellschaftlichen Begleiterscheinungen. | |
| Fücks: Wir müssen nicht jede Freifläche mit Solaranlagen und Windrädern | |
| zupflastern. Auf nur drei Prozent der Fläche der Sahara könnte man mittels | |
| solarthermischer Kraftwerke plus Windkraft den kompletten heutigen | |
| Strombedarf der Erde decken. Das ist nur ein Beispiel von vielen. | |
| Herr Loske, das bedeutet, dass die Entkopplung von Wachstum und | |
| Umweltzerstörung realistisch ist. Bricht damit Ihre Argumentation und | |
| Begründung für die Notwendigkeit von Wachstumsreduzierung zusammen? | |
| Loske: Keineswegs. Wenn wir nicht nur den heutigen globalen | |
| Elektrizitätsbedarf, sondern auch den künftigen, höheren aus regenerativen | |
| Quellen befriedigen wollen, bekommen wir ein Mengenproblem. Man will doch | |
| keine Landschaft, die nur dem Zweck der Energieerzeugung und | |
| Ressourcengewinnung dient. Es gibt Werte und Gesichtspunkte wie | |
| Landschaftsästhetik, Heimat, kulturelle Räume, die die Menschen | |
| verteidigen. Man muss höllisch aufpassen, dass nicht noch der letzte Winkel | |
| seelenlos und brutal ausgenutzt wird. | |
| Diese Argumentation von Ralf Fücks klingt doch realistisch. Selbst wenn wir | |
| annähmen, dass die weltweite Energieproduktion 20 Prozent der Wüstenflächen | |
| beanspruchte. | |
| Loske: Wer so etwas propagiert, versteht die Logik der erneuerbaren | |
| Energien nicht. Die Leute wollen ihren Strom auch dezentral herstellen. | |
| Energiewende und Demokratisierung gehen Hand in Hand. Großprojekte wie | |
| Desertec berücksichtigen diesen Partizipationswillen moderner Bürger nicht | |
| ausreichend. Den kann man nicht ausblenden, ohne Schiffbruch zu erleiden. | |
| Fücks: Zentrale und dezentrale Stromproduktion lassen sich gut kombinieren. | |
| Dafür brauchen wir neue intelligente Stromnetze. Die entscheidende Frage | |
| ist, wie der Energiehunger einer wachsenden Weltbevölkerung befriedigt | |
| wird, ohne immer neue Kohlekraftwerke zu bauen. Schaffen wir es innerhalb | |
| eines geschichtlich sehr kurzen Zeitraums, nachhaltige Lösungen zu finden? | |
| Das ist ein Wettlauf mit der Zeit. | |
| Meine These: Wir haben das Potenzial für eine Welt mit 9 Milliarden | |
| Menschen, die nicht durch Ressourcenkriege und ökologische Katastrophen | |
| gekennzeichnet ist. Wie sagte Ernst Bloch? Die bisherige Industrie steht in | |
| der Natur wie eine Armee in Feindesland. Worum es jetzt geht, ist der | |
| Übergang zur „Allianztechnik“, zur Koevolution mit der Natur. | |
| 20 Jun 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Hannes Koch | |
| Hannes Koch | |
| ## TAGS | |
| Leopoldina | |
| Unternehmen | |
| Milch | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Künstliche Photosynthese: Heiliger Gral der Energietechnik | |
| Forscher setzen auf die künstliche Photosynthese. Die | |
| Wissenschaftsakademien fordern den Bau von industriellen Testanlagen. | |
| Unternehmen und soziale Bewegungen: Als Firma die Welt verbessern | |
| Wenn sich Unternehmen zusammenschließen, muss nicht immer ein neoliberaler | |
| Klub herauskommen. Es kann auch eine soziale Bewegung sein. | |
| Kritik an Bioökonomie-Strategie: Fahrradschläuche aus Löwenzahn | |
| Die Umstellung auf nachwachsende Rohstoffe kommt nicht gut voran. | |
| Umweltschützer fordern einen grundlegenden Kurswechsel. | |
| Krumme Geschäfte mit Windparks: Schöne Rechnung, keine Ausschüttung | |
| Anleger haben den Chef eines Windparks erfolgreich weggeklagt. Er soll sich | |
| selbst zu hohe Honorare genehmigt haben. Der Kopf des Branchenverbands | |
| bleibt er dennoch. | |
| Kosten der Energiewende: Ramsauer gegen Wale | |
| Bundesverkehrsminister Ramsauer will abgeschwächte Umweltauflagen für die | |
| Energiewende. Naturschützer und Umweltbundesamt widersprechen. | |
| UN-Nachhaltigkeitsgipfel Rio+20: Rio, das war's | |
| Das Treffen Rio+20 über Umwelt und Entwicklung endet im Vagen. Kann man aus | |
| dem Scheitern dennoch einen Gewinn ziehen? Die Erdrettung beginnt künftig | |
| regionaler. | |
| Forschung zu Nachhaltigkeit: Notwendige Neuorientierung | |
| In Deutschland formiert sich eine Wissenschaftler-Allianz für mehr | |
| Nachhaltigkeit und Transformation. Experten für Umwelt und Naturschutz | |
| werden rarer. | |
| Frust bei den Ökoaktivisten: Heiße Luft gegen den Klimawandel | |
| Basisgruppen schimpfen über die Konfliktvertagung in Rio: Die Erklärung sei | |
| viel zu sehr an Wirtschaftsinteressen ausgerichtet. Inselstaaten fürchten | |
| den Untergang. | |
| Rio+20-Gipfel: Der Beschluss, nichts zu beschließen | |
| Die Rio+20-Abschlusserklärung des Weltumweltgipfels nennt kaum Ziele. | |
| Umweltorganisationen kritisieren: Schlimmer hätte es nicht kommen können. | |
| Kommentar Rio+20: Gipfel der Ernüchterung | |
| Die Megatreffen konnten die Wachstumsgläubigkeit nicht unterlaufen. | |
| Immerhin machen sie sichtbar, dass keine Nation auf einem guten Weg ist . | |
| Völkergipfel in Rio: Beifall und Buhrufe | |
| Auf der Rio+20-Gegenveranstaltung, dem Völkergipfel, gilt Green Economy | |
| mehr als Trauma denn als Traum. Ein Befürworter stellt sich der Diskussion. | |
| Brasilien vor Gipfel Rio+20: Proteste gegen Mega-Staudamm | |
| Während der „Völkergipfel“ in Rio mit Schaufeln und Hacken Aufmerksamkeit | |
| sucht, arbeiten Diplomaten an einem Kompromissvorschlag für die Konferenz. | |
| Aus Le Monde diplomatique: Öko-Poker um Ecuador | |
| Auf dem Gipfel Rio+20 werden reiche Länder versuchen, eine „grüne Ökonomie… | |
| durchzusetzen. Anlass, um an einen guten Vorschlag aus Ecuador zu erinnern. | |
| UN-Umweltchef Steiner über Rio+20: Schluss mit den Benzin-Subventionen | |
| UN-Umweltchef Steiner erklärt, wie er mit „grüner Wirtschaft“ in Rio den | |
| Globus retten will. Und er spricht über Risiken für die Natur und | |
| selbstkritische Deutsche. |