# taz.de -- Erinnerung an jüdische Familie: Feuerwehr frei! | |
> Im münsterländischen Borghorst soll die Villa einer jüdischen Familie | |
> abgerissen werden. Den Platz bräuchte die Feuerwehr. Eine Initiative | |
> sieht das anders. | |
Bild: Die Villa der jüdischen Familie Heimann. | |
BORGHORST taz | Die Postkarte, mit der Albert Heimann der münsterländischen | |
Gemeinde Borghorst die Räumung seiner Villa meldete, liegt im Stadtarchiv | |
in Steinfurt, zu dem Borghorst heute als Ortsteil gehört. Sein Haus sei | |
„soweit geräumt und kann am Samstag übernommen werden“, schrieb der früh… | |
Kaufmann am 25. April 1939 an das Bürgermeisteramt. | |
Zwei Jahre danach deportierten die Nazis ihn und seine Frau ins | |
„Reichsjudenghetto“ nach Riga. Albert Heimann wurde im November 1943 in | |
Auschwitz ermordet, Frieda Heimann im Juli 1944. Ihr ehemaliges Haus steht | |
heute leer. In die hohen Fenster haben Mitglieder der örtlichen Initiative | |
Stolpersteine Bilder der Familie gehängt. | |
Wenn nicht noch ein Wunder geschieht, wird das ehemalige Zuhause der | |
jüdischen Familie Heimann demnächst verschwinden. An diesem Mittwoch will | |
der Bauausschuss der Stadt Steinfurt endgültig den Abriss des baufälligen | |
Gebäudes beschließen. Die freiwillige Feuerwehr braucht ein neues Domizil. | |
Vor dem Haus steht Josef Bergmann. Als am 9. November 1938 die Nazis kamen, | |
war er sechs Jahre alt. Von der Straße aus beobachtete er, wie die | |
SA-Männer in der Heimann-Villa wüteten. „Die haben die komplette | |
Inneneinrichtung zerstört“, berichtet er. Selbst Gläser mit eingemachten | |
Lebensmitteln hätten sie aus dem Fenster geworfen. Als sie fertig waren, | |
war die 1889 errichtete Gründerzeitvilla kaum mehr bewohnbar. Im Dezember | |
1938 mussten die Heimanns ihr Haus für einen Spottpreis verkaufen. Das Haus | |
habe „durch die Novemberaktion besonders arg gelitten“, konstatierte ein | |
Gutachter zum Vorteil für die Gemeinde Borghorst. | |
Nach dem Krieg dient die Villa zunächst als Ausgabestelle für | |
Lebensmittelbezugsscheine, dann wird sie von dem gegenüberliegenden | |
Textilunternehmen Wattendorff genutzt. Später bringt die Firma hier ihre | |
„Gastarbeiter“ unter. Die letzten Bewohner sind eine portugiesische und | |
eine türkische Familie. Im Jahr 1988 geht Wattendorff in Konkurs. Das Haus | |
kommt wieder zur Stadt und wird dem Verfall überlassen. | |
## Stolpersteine im Gehweg | |
Anfang 2005 entsteht die Initiative Stolpersteine, benannt nach dem | |
Erinnerungsprojekt des Kölner Künstlers Gunter Demnig. Josef Bergmann ist | |
von Beginn an dabei. Der pensionierte Lehrer und seine MitstreiterInnen | |
erreichen 2006, dass auf dem Bürgersteig vor der Heimann-Villa sechs | |
Stolpersteine verlegt werden: für die ermordeten Albert und Frieda Heimann | |
sowie für ihre vier Kinder Wilhelm, Ottilie, Antonia und Elsbeth, denen | |
zwischen 1936 und 1939 die Flucht nach Großbritannien, Südafrika und in die | |
USA gelang, wo ihre Nachkommen heute noch leben. | |
Zu den etwa 20 Mitgliedern der Stolpersteininitiative gehört der | |
Goldschmiedemeister Werner Bölter. Er ist für die Kette zuständig, die der | |
jeweils amtierende Schützenkönig umgehängt bekommt. Für bisherige | |
Schützenkönige hängt an der Kette eine Plakette. „Mir fiel auf, dass die | |
Plakette für das Jahr 1921 fehlte“, berichtet er. Bölter begann zu | |
recherchieren. Das Ergebnis: Der fehlende Schützenkönig war Albert Heimann. | |
Der Goldschmied fertigte für das Jahr 1921 eine neue Plakette an der | |
Schützenkönigkette an. „Es ist nicht einfach eine Kopie“, sagt er. „Man | |
soll sehen, dass jemand die Plakette entfernt hatte.“ | |
Nicht allen in dem unweit der holländischen Grenze gelegenen | |
19.000-Einwohner-Ort Borghorst ist die Erinnerung an die Heimanns recht. | |
Wenige hundert Meter von ihrer einstigen Wohnstätte entfernt ist der | |
Bahnhof, von dem aus das Ehepaar 1941 deportiert wurde. Eine Gedenktafel | |
mit Bildern von Albert und Frieda Heimann erinnert seit 2008 an die | |
Deportationszüge. Schon dreimal wurde die Tafel ausgetauscht, immer wieder | |
wird sie geschändet. Seit Januar entstellt ein eingebranntes Hakenkreuz | |
Albert Heimanns Stirn. | |
## Feuerwehrhaus statt Villa | |
Die Villa Heimann sei „mehr als ein Haus aus Stein“, sagt Josef Bergmann. | |
Aber für eine Gedenkstätte hat die Stadt Steinfurt kein Geld. Stattdessen | |
soll auf dem Areal für 4,7 Millionen Euro das neue Feuerwehrgerätehaus | |
entstehen. Die Stolpersteininitiative möchte [1][wenigstens die Frontseite | |
der Villa als Mahnmal erhalten.] Ein Architekturbüro hat errechnet, dass | |
die Einbeziehung der historischen Fassade in den Neubau rund 100.000 Euro | |
mehr kosten würde. Mittels Spenden und Bürgschaften will die Initiative | |
dafür aufkommen. | |
Für Stolpersteinaktivist Daniel Bracht wäre das die Ideallösung: Die | |
Integration der Villenfassade in das Feuerwehrhaus könnte ein Zeichen sein, | |
dass sich auch die Feuerwehr ihrer historischen Verantwortung stellt. Denn | |
in der Pogromnacht 1938 brannte auch in Borghorst die Synagoge. „Die | |
Feuerwehr hat damals nicht gelöscht“, sagt Bracht. | |
Im zuständigen Bauausschuss ist man sich uneinig: Die CDU und die Freien | |
Wähler sind für den vollständigen Abriss, die Grünen und die SPD für den | |
Vorschlag der Initiative. Die FDP ist gespalten. Es hängt von den Stimmen | |
der Grünen-Abspaltung Grün-Alternative Liste (GAL) ab. Die GAL macht im Mai | |
2013 den Vorschlag, nur eine kleine Ecke der Außenfassade stehen zu lassen | |
und außerdem eine Steele zum Gedenken zu errichten. Dem stimmen CDU und | |
Freie Wähler „aus Mehrheitsgründen“ zu, wie es CDU-Ratsherr Hans-Günther | |
Hahn formuliert. Was eine knappe Mehrheit von zehn zu neun Stimmen im | |
Ausschuss bringt. | |
Für diese für sie völlig unbefriedigende Lösung hatte die Initiative | |
Stolpersteine nicht das Geld gesammelt. Ein anderer Finanzierungsvorschlag | |
fällt der GAL nicht ein. Mit der Konsequenz, dass sie ihren vermeintlichen | |
Kompromiss auf der Bauausschusssitzung im Februar für gescheitert erklärt. | |
Daraufhin beantragt die CDU umgehend den Totalabriss. Die GAL stimmt zu. | |
„Die freiwillige Feuerwehr wartet schon knapp zwei Jahre auf den Neubau“, | |
sagt GAL-Vorsitzende Eva Jürriens. „Man darf die Jungs und Frauen nicht | |
verprellen.“ | |
## Jüdische Gemeinde hofft auf ein Umdenken | |
Allerdings ist der Beschluss aufgrund eines Formfehlers ungültig. Deswegen | |
muss an diesem Mittwoch neu abgestimmt werden. Die Jüdische Gemeinde | |
Münster, zu deren Bezirk Steinfurt-Borghorst gehört, hofft auf ein Umdenken | |
in letzter Sekunde. „Bedenken Sie es, sehr geehrter Herr Bürgermeister, ob | |
Sie, der Rat und die Fraktionen des Stadtparlamentes es verantworten | |
wollen, ’grünes Licht‘ für die endgültige Beseitigung jüdischer Spuren | |
Ihrer Stadt erteilen zu wollen“, appelliert der geschäftsführende | |
Gemeindevorsitzende Sharon Fehr in einem Brief an den Steinfurter | |
Bürgermeister Andreas Hoge. | |
Auch die Nachkommen der Familie Heimann haben sich an den Christdemokraten | |
gewandt. Der Abriss wäre ein Bruch des Versprechens, „dass alle | |
Anstrengungen unternommen würden, das Haus oder wenigstens die Außenmauern | |
zu erhalten“, schrieben neun Enkel und Urenkel. | |
„An dieses Versprechen kann sich hier niemand erinnern“, sagt Bürgermeister | |
Hoge. „Ich hätte mir gewünscht, dass diejenigen, die mir jetzt schreiben, | |
sich an der Finanzierung beteiligt hätten, um die Fassade zu erhalten“, | |
sagt er. „So sehr ich mir eine andere Lösung gewünscht hätte, jetzt ist es | |
zu spät.“ Das neue Feuerwehrgebäude sei inzwischen „durchgeplant“. | |
Irgendeine Form des Gedenkens werde es schon geben, verspricht er. „Über | |
eine Gedenktafel lässt sich reden, aber keine teure“, sagt der CDU-Stadtrat | |
Hans-Günther Hahn. | |
Josef Bergmann ist seit 60 Jahren in der CDU. Mehr als 30 Jahre saß der | |
81-Jährige für die Christdemokraten im Rat. Er war Vorsitzender jenes | |
Bauausschusses, der jetzt für den Abriss der Villa verantwortlich sein | |
wird. Die Haltung seiner heute aktiven Parteifreunde kann er nicht | |
verstehen. „Es liegt nicht am Geld“, sagt er frustriert. Bergmann will nun | |
aus der CDU austreten. | |
2 Apr 2014 | |
## LINKS | |
[1] http://www.openpetition.de/petition/online/rettet-die-villa-heimann | |
## AUTOREN | |
Pascal Beucker | |
Anja Krüger | |
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