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# taz.de -- Enkel eines Auschwitz-Kommandanten: Die Last des Namens
> Rainer Höß hatte lange den Wunsch, ein anderer zu sein. Weil sein
> Großvater der Kommandant des KZ Auschwitz war. Es ist schwierig, dem zu
> entkommen.
Bild: Eingang zum Konzentrationslager Auschwitz.
Ein Mann sitzt am Schreibtisch, er sieht sich Fotos an,
Schwarz-Weiß-Aufnahmen, Familienbilder, die meisten zeigen seinen
Großvater. Der Mann am Schreibtisch redet mit eindringlicher Stimme: Wie
kaum jemand sonst kenne er den Wunsch zu vergessen; es habe Zeiten gegeben,
da wollte er seine Vergangenheit leugnen. So tun, als sei er jemand
anderes.
Der Mann am Schreibtisch ist Hauptdarsteller in einem Film, mit dem die
Jugend der schwedischen Sozialdemokraten für die Europa-Wahl 2014 wirbt. Er
warnt vor dem wachsenden Erfolg rechtsextremer Parteien überall in Europa.
„Wenn wir vergessen, wird sich Geschichte wiederholen“, sagt er. „Never
Forget. To Vote.“ heißt die Botschaft des Films, der seit ein paar Tagen in
schwedischen Kinos läuft, im Fernsehen und auf YouTube. Der Hauptdarsteller
heißt Rainer Höß. Er ist der Enkel des Lagerkommandanten von Auschwitz,
Rudolf Höß.
Vor ein paar Wochen hatte Rainer Höß einen Anruf aus Schweden bekommen. Er
saß in seiner Dachgeschosswohnung in einem Dorf nahe Stuttgart. Ob er nach
Stockholm kommen könne, für Filmaufnahmen. Er müsse nur durch die Stadt
laufen und reden. Über sich, seine Familie und den Großvater. Höß musste
nicht überredet werden: „Es ist ja zu meinem Beruf geworden, mich mit
meinem Erbe zu beschäftigen“, sagt er.
Rainer Höß, 1965 geboren, ist kein Zeitzeuge des Holocausts. Genaugenommen
ist er der Zeuge von gar nichts. Denn was in Auschwitz unter dem Kommando
seines Großvaters geschah, war nie ein Thema in seiner Familie. Wer den
Großvater noch erlebt hatte, hielt das Bild von einem, wie der Enkel sagt,
„anständigen Kommandanten und tapferen Soldaten“ hoch. Über den Massenmord
schwiegen sie. Der Vater schwieg, die Großmutter schwieg, nur der nette
„Opa Leo“ sprach viel mit ihm, aber das machte es nicht besser.
## Liebenswerter Opa
Dieser Leo war nicht der richtige Opa von Rainer Höß, er wurde nur so
genannt. Leo Heger, ein liebenswerter Mensch wohl, aber ein Nazi bis ins
Grab. Zu Lebzeiten war er der getreue Fahrer von Rudolf Höß in Auschwitz.
Er nahm den Jungen oft mit auf die Schwäbische Alb, streifte mit ihm durch
die Wälder und zitierte dann gern die Artamanen – „Gläubig dienen wir der
Erde und dem großen Stirb und Werde“ –, jene „Blut-und-Boden“-Bewegung…
der sich Rudolf Höß und Heinrich Himmler, der spätere Chef der SS,
kennengelernt hatten. Für Rainer war Opa Leo „der Einzige, der mit mir
meine Probleme beredete, mir ein Gefühl von Geborgenheit vermittelte“. Er
nannte Rainer „Prinz“, denn er sei der Enkel des „Königs von Auschwitz�…
Als er merkt, dass das Bild von seinem Großvater nicht stimmt, ist Rainer
Höß ein junger Erwachsener. Er fragt nach, leiht sich Bücher aus, stößt in
der eigenen Familie auf eine Mauer. Er beginnt, ein Puzzle
zusammenzusetzen. Eins, das noch lange nicht fertig ist. Das Puzzle zeigt
das Leben seines Großvaters, die Teile dafür muss er suchen.
Er versteht nach und nach, warum sein Vater ihn so verprügelte, als er – da
war er noch keine zehn – zum Familienfest eines jüdischen Schulfreundes
wollte. „Judenpack!“, schrie sein Vater, außer sich vor Wut. Und er ekelt
sich heute vor einem Trachtenjanker, den er als Kind getragen hat. „Ganz
weich und flauschig war der“, grau, mit fünf Metallknöpfen. Sein Vater trug
ihn schon. Er stammte aus dem Warenlager „Kanada“, dem Verwertungslager für
Kleidung, Schmuck und anderen Habseligkeiten der Ermordeten von Auschwitz.
„Ich habe ihn gerne angehabt, kleiner Depp, der ich war. In meinem
ahnungslosen Stolz trug ich die Jacke eines jüdischen Jungen, der unter der
Oberaufsicht meines Großvaters in der Gaskammer elend verreckt war.“ Das
„Anforderungsprotokoll“ mit der Unterschrift seiner Großmutter lagert heute
im Holocaust Museum in Washington.
## Kein Enthüllungsbuch, keine Abrechnung
Höß erzählt davon in einem Buch, das vor Kurzem erschien: „Das Erbe des
Kommandanten“. Ein kleiner Verlag in München hat es herausgebracht, es hat
keine großen Wellen geschlagen. Kein Enthüllungsbuch, keine gnadenlose
Abrechnung wie die von Niklas Frank, Sohn von Hans Frank, dem
Generalgouverneur, der seinen mörderischen Vater ein zweites Mal
hinrichtete. Eher ein melancholisch-trotziges Buch, erzählt von einem, der
auf keiner Universität jemals lernte, mit akademischer Distanz zu
formulieren. Höß ist gelernter Koch und Konditor. Eineinhalb Jahre haben
die früheren Stern-Reporter Petra Schnitt und Jörn Voss mit Rainer Höß an
dieser Geschichte einer schrecklichen Familie gearbeitet.
Höß ist jetzt 48 Jahre alt und lebt in einem kleinen Dorf am Rande des
Schwarzwalds. Seine Wohnung ist akkurat aufgeräumt, Bilder der Kinder an
der Wand, Zierrat auf den Regalen. Den Kletterturm für die beiden Katzen
hat er selbst gebastelt.
Vor vier Jahren hat er eine große Dummheit begangen. Er fragte beim
Freundeskreis der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem, ob man
die in seinem Besitz befindlichen Erbstücke seines Großvaters kaufen wolle.
„Ein saublöder Fehler“, sagt er heute. Ein Sturm der Entrüstung entlud si…
über ihm. Ein Nachfahre des Massenmörders, der Geld aus dessen Erbe
schlagen will. „Ich kann mich dafür nur entschuldigen und habe das auch
immer wieder getan“, sagt er. Alle Überbleibsel – Fotos, Briefe, mit
SS-Runen verzierte Geschenke – übergab er inzwischen dem Institut für
Zeitgeschichte in München.
Seinen Vater hat Rainer Höß seit 20 Jahren nicht mehr gesehen. Irgendwo in
Norddeutschland lebe der, sei Zeuge Jehovas geworden. Zu seiner Mutter hat
er dagegen heute ein gutes Verhältnis, jeden Donnerstag fährt er zu ihr ins
Altersheim im Nachbardorf und kocht für sie und die anderen Bewohner. Als
Irene Höß den jüngsten Sohn des Auschwitz-Kommandanten 1956 heiratete,
schwieg Hans-Jürgen Höß über die Vergangenheit seiner Familie. Seine Frau
erfuhr drei Jahre später aus einem Spiegel-Artikel, dass ihr Schwiegervater
einer der schlimmsten Naziverbrecher war.
Kürzlich kochte Höß Kässpätzle im Heim, „das mögen die doch so“. Nach…
Essen bleibt er dann oft noch, und an manchen dieser Abende gelingt es ihm,
die 80- und 90-Jährigen zum Reden zu bringen. Dann sitzen Sohn und Mutter
mit dem furchtbaren Namen zwischen Menschen aus der Gegend, bei denen
plötzlich, 70 Jahre nach Kriegsende, alles wieder lebendig wird. Einmal
erzählte eine Frau, ihre Schwester habe sich in einen polnischen
Zwangsarbeiter verliebt, wurde schwanger und zur Strafe nach Dachau ins KZ
gesperrt. Dort starb sie, der Pole wurde in einem Wäldchen aufgehängt,
nicht weit vom Altersheim entfernt.
## Keine geübte Rolle
Demnächst wird Rainer Höß nach Auschwitz fahren, zweimal war er schon dort.
Eine Überlebende des Holocaust, die in den USA lebt, möchte sich mit ihm
treffen. Er hofft, dass er von ihr noch weitere Details hört, die ihm
fehlen in seinem Puzzle.
Sein erster Auschwitz-Besuch 2009 war ein Fiasko. Der israelische
Journalist Eldad Beck hatte ihn begleitet und jede seiner Äußerungen
registriert. Längst weiß Rainer Höß, dass er niemals „wow!“ hätte sagen
dürfen, als er den Garten der Kommandantenvilla sah, der direkt ans
Stammlager grenzte, dass er nicht hätte Kaugummi kauen sollen. Für die
Rolle als Enkel eines Massenmörders hatte er nie geübt und tappte hilflos
durch die Welt seines Großvaters. „Ich kann Gefühle nicht so gut
ausdrücken“, schreibt er in seinem Buch.
Er entkommt seinem Namen nicht und will es auch nicht. „Ich möchte selbst
verantwortlich sein für mein Leben.“ Er will reden, will erklären, dass
zwischen ihm und seinem Großvater 65 Jahre Altersunterschied liegen und
eine ganze Welt. Er nimmt fast jede Einladung an, vor Schülern zu sprechen.
Er freut sich, dass er das Gesicht einer Werbung gegen rechte Parteien ist.
Aber er weiß, dass alles, was er sagt, auch anders klingen kann – weil er
diesen Nachnamen trägt.
Mitte der achtziger Jahre stand der Neonazi Michael Kühnen vor seiner Tür.
„Ich freue mich, den Enkel des Kommandanten von Auschwitz kennenzulernen“,
begrüßte der ihn – mit schlaffem Händedruck. Jahre später lud ihn ein
Anwalt aus Zürich in seine Villa und empfing ihn in SA-Uniform.
Vor einigen Jahren traf Rainer Höß in Krakau den ehemaligen Frisör seines
Großvaters, einen alten Juden. Der ließ ihn einige Schritte gehen und
sagte: „Genau wie dein Großvater.“ Höß fragt sich bis heute: „Was von …
steckt in mir?“
18 May 2014
## AUTOREN
Philipp Mausshardt
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