# taz.de -- Thomas Medicus' Buch „Heimat“: Geisterbeschwörung in Gunzenhau… | |
> Das erste große Nazi-Pogrom fand 1934 im fränkischen Gunzenhausen statt. | |
> Thomas Medicus' Spurensuche führt in „Heimat“ auch zu J. D. Salinger. | |
Bild: Dunkle Vergangenheit: das mittelfränkische Gunzenhausen. | |
In Stanley Kubricks Film „Shining“ unterhalten sich der Koch Dick Hallorann | |
und der kleine Danny Torrance (beide besitzen die Gabe des zweiten | |
Gesichts) über das Overlook Hotel, in dem die Familie Torrance den Winter | |
zubringen soll. „Is there something bad here?“ fragt der kleine Junge den | |
alten Mann und Hallorann erklärt ihm, dass schlimme Ereignisse, die in der | |
Vergangenheit passiert sind, manchmal Spuren in der Gegenwart hinterlassen, | |
die nur von manchen Menschen wahrgenommen werden. „I think, a lot of things | |
happened here in the Overlook Hotel over the years“, sagt er. „And not all | |
of them was good.“ | |
Die Hobbyforscher, Schriftsteller und Geschichtswerkstätten, die seit den | |
späten siebziger Jahren dem Mantra „Grabe, wo du stehst“ des dänischen | |
Reporters Sven Lindqvist gefolgt sind und in die Geschichte ihrer Heimat | |
eingestiegen sind wie in ein unterirdisches Stollensystem, sind überall in | |
Europa Gespenstern begegnet, die denen des Overlook Hotel nicht nachstehen | |
an grausiger Faszination. Und nirgends sind sie zahlreicher als in | |
Deutschland. | |
Thomas Medicus’ neues Buch „Heimat“ ist eine solche Geisterbeschwörung. | |
Sein Overlook Hotel ist die mittelfränkische Stadt Gunzenhausen. Franken | |
war eine ländliche Hochburg der Nationalsozialisten schon vor 1933 und | |
wurde nach der Machtergreifung von Nürnberg (der späteren „Stadt der | |
Reichsparteitage“) aus durch den Gauleiter Julius Streicher, Herausgeber | |
des antisemitischen Organs Der Stürmer, administriert und terrorisiert. Die | |
Gegend war schon in der Frühzeit der Naziherrschaft durch organisierte | |
Ausbrüche eines noch nicht auf staatlicher Ebene durchorganisierten | |
Judenhasses aufgefallen und in die internationale Presse geraten durch das | |
Pogrom vom 25. März 1934, bei dem mehrere jüdische Bürger ermordet wurden. | |
Von diesem ersten Vorboten dessen, was die Welt von den Nazis zu erwarten | |
haben würde, konnte der spätere nordamerikanische Schriftsteller Jerome D. | |
Salinger, dessen wohlhabende Familie eine Wohnung auf der New Yorker Park | |
Avenue besaß und der zehn Jahre später den amerikanischen Europafeldzug von | |
der Landung in der Normandie über die grausige Schlacht im Hürtgenwald bis | |
zur Befreiung der bayrischen Konzentrationslager mitmachen sollte, 1934 in | |
der New York Times lesen. Thomas Medicus’ Großvater, Arzt in Gunzenhausen, | |
nahm die Obduktion der Opfer vor. Von solchen Verschränkungen und | |
spukhaften historischen Fernwirkungen erzählt „Heimat“. In einem | |
fiktionalen Buch würden sie als unwahrscheinlich weglektoriert. | |
## Eine Kurzgeschichte aus „Gaufurt“ | |
Und doch ist ausgerechnet Salinger nach 1945 tatsächlich als Mitarbeiter | |
des US-amerikanischen Militärgeheimdienstes in der Stadt des ersten | |
nationalsozialistischen Judenpogroms stationiert gewesen und hat die | |
Nazigrößen von Gunzenhausen verhört. In seiner Kurzgeschichte „For Esmé �… | |
with Love and Squalor“ sitzt ein junger GI – wie Salinger leidet er unter | |
jener Nervenzerrüttung, die man damals „battle fatigue“ nannte und die | |
heute „posttraumatisches Stresssymptom“ heißt – er zittert, kotzt, seine | |
Gedanken rasen und er bringt nicht einmal die Energie auf, die Briefe aus | |
der Heimat zu öffnen – in einer beschlagnahmten Wohnung in „Gaufurt“, wie | |
Gunzenhausen in dieser Kurzgeschichte heißt und liest im Vorsatzblatt eines | |
Buchs von Joseph Goebbels aus dem Besitz der „achtundzwanzigjährigen | |
unverheirateten Tochter der Leute, die bis vor wenigen Wochen in diesem | |
Haus hier gewohnt hatten“ und die er selbst verhaftet hat, den Satz „Mein | |
Gott, das Leben ist eine Hölle“. | |
Medicus erzählt die Geschichte und die Familiengeschichten der Stadt, die | |
von 1933 bis 1945 eine Hölle geworden war, aus der intimen Kenntnis dessen, | |
der in den frühen Fünfzigerjahren dort seine Kindheit verbracht hat. | |
Vielleicht haben alle Kinder die Gabe des zweiten Gesichts. Denn sie | |
erspüren historische Atmosphären mit den hochsensiblen Antennen früher | |
Weltanpassung. Wie Danny Torrance in Kubricks Film das Overlook Hotel schon | |
durchschaut hat, bevor er auch nur einen Fuß in dessen elegantes Atrium im | |
Prairie-Style gesetzt hat (und dennoch nichts ändern kann an den | |
entsetzlichen Wendungen, die sein Leben hier nehmen wird), scheint auch der | |
kleine Thomas Medicus immer schon gewusst zu haben, dass in Gunzenhausen, | |
der idyllischen Nachkriegsstadt, etwas sehr Fundamentales nicht gestimmt | |
hat. | |
Er schließt es aus bestimmten vermiedenen oder abgebrochenen Bemerkungen | |
und Erzählungen der Erwachsenen, er sieht es bestimmten leeren | |
Denkmalssockeln an, er nimmt es auf aus bestimmten Stimmungen und leeren | |
Sommernachmittagen, die über den Kastanien, den alten Häusern, dem | |
Kopfsteinpflaster, den mittelalterlichen Türmen, den Hinterhöfen und Gärten | |
der mittelalterlichen Stadt lasten. Und auf alten Fotografien scheint der | |
Erwachsene das Unheil im Nachhinein ganz deutlich sehen zu können. „So und | |
nicht anders, denke ich immer, wenn ich die Aufnahme betrachte, muss es | |
damals vor unserer Haustür ausgesehen haben, vielleicht auch schon, bevor | |
ich geboren wurde. Die Ansicht besitzt eine seltsame Atmosphäre, | |
anheimelnd, aber auch erfüllt von einer furchtbaren Leere. Kein Mensch ist | |
zu sehen, nicht einmal eine Katze, die träumend über die Kreuzung | |
schleicht, kein Hund, der in der Morgensonne kauert, kein Auto, kein | |
Fuhrwerk, nichts. Als ob etwas geschehe oder bereits geschehen sei, das | |
keines Bildes wert oder schlicht nicht abzubilden ist.“ | |
Man kennt solche fotografierten Atmosphären aus den eigenen Familienalben. | |
J. D. Salinger aber, der in seiner Gunzenhausener Zeit eine der schönen | |
jungen Deutschen geheiratet hatte, die beschädigt waren von den Lügen und | |
Entbehrungen der zurückliegenden, pathologisch männlichen Kriegs- und | |
Vorkriegszeit, und die sich nach der Eleganz des Westens sehnten, ging mit | |
ihr aus der deutschen Provinz zurück nach New York und wurde zum | |
berühmtesten Schriftsteller seiner Zeit. | |
## Wunschziel New York | |
In seinen zugleich urbanen und metaphysischen Short Stories und Romanen, | |
einer Art christian-gentleman-Literatur der fünfziger Jahre (die zum großen | |
Teil von Heinrich Böll und seiner Frau ins Deutsche übersetzt worden war) | |
ging meiner Generation ein erster Begriff existentiell ernstzunehmender | |
Literatur auf, zusammen mit dem sozusagen wilden Wunsch, eines Tages in der | |
großen Stadt zu leben, möglichst gleich auch in New York. Weit weg | |
jedenfalls von diesen kopfsteingepflasterten deutschen Straßen, in denen | |
der Sommer, die Leere, das Familienschweigen und eine ungreifbare | |
historische Belastung brüteten. | |
Und doch gehört es zu den zahlreichen Verdiensten dieses Buchs, die | |
Provinz, aus der Thomas Medicus’ Generation mit allen Willenskräften fort | |
strebte, nicht als den ewigen Hort des bösen oder dummen Deutschlands zu | |
dämonisieren, ein Denkfehler, der zu den eisernen Beständen des | |
Politkitschs gehört. | |
Gunzenhausen, das stellt der an die Metropole verlorene Sohn der Stadt bei | |
seinen Recherchebesuchen geradezu verblüfft fest, hat sich seiner | |
Vergangenheit mit Schulprojekten und Geschichtswerkstätten, mit Kunst im | |
öffentlichen Raum, Vortragsprogrammen, öffentlichen Diskussionen gestellt | |
und die Menschen, die heute dort jung sind, sind so cool und wissen so gut | |
Bescheid über die Welt und ihre Geschichte wie die jungen Berliner. | |
„Fünfundzwanzig Jahre nach der Wende erschien der Gegensatz von Provinz und | |
Großstadt, von zivilisiertem Westen und verspäteter Nation überholt, wenn | |
es ihn denn je so scharf wie behauptet gegeben hatte. | |
Blickte ich mich in der sogenannten Metropolregion Nürnberg um, gab es | |
keinen Grund daran zu zweifeln, dass die Provinz, in diesem Fall die | |
süddeutsche, ihren zivilisatorischen Beitrag geleistet hatte. Sogar | |
Mittelfranken und das ewig braune G. hatten ihre Lektionen gelernt.“ Die | |
historische Gespenstergeschichte, die Thomas Medicus in „Heimat“ erzählt, | |
hat einen verspäteten, aber endgültigen Ausgang aus dem Unglück gefunden. | |
Sie trägt ihren historisch vorbelasteten Titel mit Selbstbewusstsein und | |
beinahe so etwas wie Gelassenheit. | |
22 Apr 2014 | |
## AUTOREN | |
Stephan Wackwitz | |
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